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Protest - öffentliche Meinung - Politik F-

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F-

Veröffentlichungsreihe der Abteilung Ö ffentlichkeit un d soziale Bewegungen des Forschungsschwerpunktes Sozialer Wandel, Institutionen und Vermittlungsprozesse des

Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung

FS III 96-102

Protest - öffentliche Meinung - Politik

Friedhelm Neidhardt (Hg.)

Berlin, September 1996 Vorab-Kopie

Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung gGmbH (WZB) Reichpietschufer 50, D-10785 Berlin,

Telefon: (030) 25 49 1-0

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Vorwort 1 Friedhelm Neidhardt

Massenproteste und politische Entscheidungen in der Bundesrepublik 5 Dieter Rucht

Asyl: Die Karriere eines politischen Konflikts 33

Ruud Koopmans

Öffentliche Diskussion und politische Entscheidung.

Der deutsche Abtreibungskonflikt 1970 - 1994 59

Friedhelm Neidhardt

Soziale Positionierung und politische Kommunikation

am Beispiel der öffentlichen Debatte über Abtreibung 89 Jürgen Gerhards

Die Beobachtung der öffentlichen Meinung durch das Regierungssystem Dieter Fuchs und Barbara Pfetsch

111

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V o r w o r t

Das Forschungsprogramm der seit 1989 arbeitenden Abteilung ist mit den Gegenstandsbe­

reichen „Öffentlichkeit und soziale Bewegungen“ auf komplexe Vermittlungsprozesse mo­

derner Demokratien bezogen. Mit der Erzeugung „öffentlicher Meinungen“ und „sozialer Proteste“ beeinflussen massenmedial gesteuerte Öffentlichkeiten und soziale Bewegungen an den Peripherien des politischen Systems und im Vorfeld seiner zentralen Institutionen die konfliktreichen Prozesse, mit denen bestimmte Probleme als „soziale Probleme“ definiert und politisiert werden. Das Programm der Abteilung besteht darin, die Bedingungen, Strukturen und Abläufe dieses politischen „Agenda-Building“ zu erforschen und die Gesetzmäßigkeiten zu bestimmen, unter denen zu bestimmten „Issues“ und in Richtung bestimmter Problemlö­

sungen politischer Entscheidungsdruck „von unten“ entsteht und im politischen System verar­

beitet wird. Der Erforschung dieses Zusammenhangs dienen Projekte, die in Mehrebenenan­

sätzen Prozeß- und Akteursverflechtungen und deren Effekte auf „Problemkarrieren“ untersu­

chen, deren institutionelle Bedingungen durch internationale Vergleiche bestimmbar machen und durch Längsschnitterhebungen imstande sind, gezielt nach Entwicklungsverläufen und - bedingungen zu fragen.

Die folgende Sammlung von Artikeln, die in dem von Wolfgang van den Daele und Fried­

helm Neidhardt herausgegebenen WZB-Jahrbuch 1996 unter dem Titel „Kommunikation und Entscheidung“ veröffentlicht werden, informiert über methodische Ansätze und theoretische Fragestellungen der Abteilungsforschung. In allen vier Projekten, auf die sich die Beiträge beziehen, ist die Feldarbeit weitgehend abgeschlossen; m it den Auswertungen des außeror­

dentlich komplexen Materials wurde begonnen. Die ersten Analysen, die nachfolgend vorge­

legt werden, geben einen Einblick in den Beitrag, den die Abteilungsarbeit in mehreren For­

schungsfeldern liefern kann und wird.

(1) Das Projekt „Dokumentation und Analyse von Protestereignissen in der Bundesrepu­

blik“ (PRODAT), aus dem Dieter Rucht Daten über Massenproteste vorstellt, beruht auf einer Inhaltsanalyse von Pressenachrichten über Protestereignisse im Zeitraum von 1950 bis 1993.

Für etwa 9.000 Protestereignisse liegen Informationen über Akteure, Protestthemen, Prozeß­

merkmale, Zeiten und Orte vor. Erkennbar wird, daß Protestaktivitäten in der Bundesrepublik insgesamt zugenommen haben und daß dabei auch Zahl und Anteil gewaltförmiger Proteste (überwiegend sehr kleiner Gruppen) gestiegen sind.

Proteste sind dramatisierte Signale dafür, daß Bürger bestimmte Probleme, die sie als gra­

vierend einschätzen, im politischen System nicht angemessen beachtet und bearbeitet finden.

Mit ihnen wird versucht, die politische Agenda zu beeinflussen. Ob und unter welchen Bedin­

gungen dies gelingt, ist eine empirische Frage, die weiterer Analysen bedarf. Aber schon die Befunde, die Dieter Rucht für den Fall von Massenprotesten präsentiert, weisen darauf hin,

(4)

daß Proteste nur ein Element in einem komplexen Bedingungsfeld politischer Entscheidungs­

prozesse darstellen und je nach wechselnden Konstellationen mehr oder weniger - und dabei durchaus mit der Möglichkeit konterproduktiver „back-lash“-Effekte - wirksam werden. Wel­

che Faktoren dabei eine Rolle spielen, wird in zwei weiteren Abteilungsprojekten genauer un­

tersucht.

(2) Aus dem Projekt „Rechtsextremismus und ausländerfeindliche Gewalt im Kontext der Einwanderungspolitik in Deutschland 1990 - 1994“ stellt Ruud Koopmans Daten über Kon­

fliktverläufe zum Problem der Asylbewerber vor. Mit einem komplexen Erhebungsansatz können die Interdependenzen zwischen verschiedenen Ebenen von Ereignissen, Kommunika­

tionen und Entscheidungen belegt werden. Steigende Asylbewerberzahlen dienten politi­

schen Instanzen und Parteien als Anlaß zu einer öffentlichen Debatte über Grundgesetzände­

rungen, in der sich die entscheidenden Akteure über längere Zeit politisch blockierten. Erst die zunehmende Gewalttätigkeit gegen Asylbewerber erzeugte einen hinreichenden Parteien­

konsens zugunsten restriktiverer Grundgesetzbestimmungen, in deren Folge dann sowohl die Asylbewerberzahlen als auch die rechtsextremen Gewalttätigkeiten zurückgingen. In einem wahlstrategisch überformten „Asylantenkonflikt“, in dem die Betroffenen selber keine Stim­

me besaßen, verstopfte Agitation die politischen Entscheidungsgänge bis zu einem Punkt, an dem die Gewalt die Rolle von Argumenten übernahm - am Ende auf Kosten der Opfer.

(3) Stellt der Asylbewerberkonflikt den Fall einer Problemkarriere dar, in der die Grenzen zivilisierter Auseinandersetzungen mit massiver Militanz weit überschritten wurde, so belegen Friedhelm Neidhardt und Jürgen Gerhards in ihren beiden Beiträgen am Beispiel der deut­

schen Abtreibungskontroverse Interaktionseffekte, die Vermittlungen zwischen den Konflikt­

parteien möglich machten. Diszipliniert durch Urteile des Bundesverfassungsge-richts, gelang es den politischen Parteien in einem hochmoralisierten Wertekonflikt, Kompromißentschei­

dungen im Parlament zu entwickeln, die zwar keine allseitige Zustimmung, wohl aber breite Akzeptanz fanden. Entscheidend dafür war neben allem sonstigen, daß die öffentliche Debatte - anders als im Vergleichsfall der USA - eine Entfundamentalisierung und Zivilisierung des Konflikts beförderte, was den politischen Parteien gleichermaßen aufgab wie ermöglichte, über die üblichen Lagerbildungen hinaus „intermediär“ zu wirken.

(4) Daß und in welcher Weise die politische Entscheidungsträger in Demokratien sich ihrer Möglichkeiten und Restriktionen durch laufende Beobachtung der öffentlichen M einungsbil­

dung vergewissern, zeigen Dieter Fuchs und Barbara Pfetsch mit den Daten einer deutschen Teilstudie des Projekts „Regierungskommunikation“ am Beispiel ausdifferenzierter Presseäm­

ter und Öffentlichkeitsabteilungen im Regierungsapparat und in den Parlamentsfraktionen.

Aufgrund der Befragung von 38 Spitzenfiguren politischer „Öffentlichkeitsarbeit“ beschrei­

ben sie die Professionalisierung der Aufmerksamkeit des „Regierungssystems“ in Richtung auf Entwicklungen der „öffentlichen Meinung“, die gleichermaßen durch Demoskopie, also

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durch Meinungsumfragen, wie durch ständige Analysen der Mediennachrichten und -kom­

mentare erfaßt wird.

A uf diese Weise schließt sich der Kreislauf gesellschaftlicher Kommunikations- und politi­

scher Entscheidungsprozesse mit einer variablen Interferenz von „bottom-up“- und „top- down“-Impulsen. Es bleibt die Aufgabe der Abteilung, durch die Bestimmung der Strukturen und Selektivitäten dieses intermediären Kreislaufs die Bedingungen seines demokratischen Potentials und der integrativen Mechanismen zu erforschen, die zwischen „oben“ und „unten“

vermitteln.

Dabei wird auch weiterhin mit einem Projektdesign gearbeitet, das internationale Verglei­

che und im Hinblick darauf internationale Projektkooperationen einschließt, um die Bedeu­

tung institutioneller Faktoren politischer Vermittlungsprozesse prägnant fassen zu können.

Die folgenden Beiträge bringen internationale Vergleiche noch nicht in die Analyse ein. Das wird in nachfolgenden Publikationen geschehen. Alle Projekte, über die berichtet wird, sind international vergleichend angelegt sind. In die Projekte „PRODAT“, „Öffentliche Mei­

nungsbildung im Abtreibungsstreit“ und „Regierungskommunikation“ sind nicht nur Deutschland, sondern systematisch vergleichbar auch die USA einbezogen; in das Projekt

„Rechtsextreme und ausländerfeindliche Gewalt im Kontext der Einwanderungspolitik“

Großbritannien. Für das Jahr 1997 erwarten wir, daß uns auch die ausländischen Daten zur Verfügung stehen.

Friedhelm Neidhardt - September 1996 -

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Dieter Rucht

"Auf nach Bonn!" Diesem von den deutschen Gewerkschaften ausgegebenen Motto folgten am 17. Juni 1996 rund 350.000 Menschen, um gegen die von der Bundesregierung geplanten Sparmaßnahmen im Arbeits- und Sozialbereich zu demonstrieren. Nach Angaben von Journa­

listen handelte es sich um "die größte Gewerkschaftsdemonstration seit 1945"1 oder gar um die "größte Protestaktion in der Geschichte der Bundesrepublik". Während die Initiatoren den Protest als Beginn eines heißen Sommers interpretierten, zeigten sich Vertreter der Regierung unbeeindruckt: "Wir werden dem Druck der Straße nicht nachgeben." "Das interessiert mich nicht, wieviel Leute demonstrieren" (Wolfgang Schäuble). "Demonstranten schaffen keine Arbeitsplätze." "Bedenkenträger und Berufsnörgler habe ich genug gehört" (Helmut Kohl).

Ähnlich hatten Regierungsmitglieder auf die großen Friedensdemonstrationen in der ersten Hälfte der achtziger Jahre reagiert. Sind also selbst große Demonstrationen nichts weiter als

ß

Schall und Rauch angesichts der "Arroganz der Macht"?

Wohl kaum. Zum einen ist an die Wirkung der Massendemonstrationen zu erinnern, die im Herbst 1989 in der DDR stattfanden. Zum anderen spricht gegen diese Annahme, daß sich unter den Hunderttausenden, die am 8. November 1992 an einer Berliner Demonstration ge­

gen Ausländerfeindlichkeit teilnahmen, auch "die Mächtigen" befanden, darunter der Bundes­

kanzler und der Bundespräsident sowie führende Repräsentanten der Oppositionsparteien, der Kirchen .und Gewerkschaften.4 In einer Erklärung im Vorfeld dieser Demonstration hatten Vertreter der Bayerischen Staatsregierung geringschätzig von einer "Schaufensterveranstal­

tung" gesprochen. Am 23. November 1995 waren es jedoch der Bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber und fast die gesamte CSU-Führungsriege einschließlich Theo Waigel, die sich an die Spitze einer Demonstration von über 25.000 Menschen in München stellten, um ihren Unwillen gegen das "Kruzifix-Urteil" des Bundesverfassungsgerichts kundzutun?

Was läßt sich aus diesen wenigen Schlaglichtern schließen? Zum ersten folgen nicht alle Proteste der schlichten Polarität von Regierten versus Regierenden. Unter bestimmten Um­

ständen erscheint es selbst Regierenden opportun, sich in den Straßenprotest einzureihen. Zum zweiten ließe ein Blick auf die logistischen Voraussetzungen solcher Massenproteste erken­

nen, daß es sich nicht um spontane Aktionen unorganisierter "Massen" handelt. Proteste die­

ser Größenordnung bedürfen einer aufwendigen Vorbereitung, die im Regelfall nur durch Großorganisationen oder Zusammenschlüsse protesterfahrener Gruppen zu leisten ist. Ver­

senden von Aufrufen, Bestellung von Sonderzügen, Auswahl der Redner, Aufbau der Tribüne und Anordnung der Lautsprecher wollen im voraus bedacht sein. So gesehen sind Massen allenfalls "Kulisse", nicht aber "Träger" von Protesten. Zum dritten lehrt die Tatsache immer erneut stattfindender Massenproteste, daß diese den Protestträgern als ein nützliches und wir­

kungsvolles Mittel der Politik gelten. Nichts spricht dafür, daß solche Proteste durch andere

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Ausdrucksformen des Widerspruchs allmählich ersetzt würden.6 "Mit Protestbewegungen mobilisieren sich bestimmte Publikumssegmente, die sich öffentlich nicht hinreichend vertre­

ten fühlen ... Protestdemonstrationen erscheinen insofern als ein funktionales Äquivalent für die Pressekonferenzen jener Akteure, die sich im Kommunikationssystem Öffentlichkeit schon etabliert haben" (Neidhardt 1994, S. 32).

Die anhaltende Attraktivität des Massenprotests ergibt sich aus der Verbindung zweier Momente. Das eine ist die bloße Form der massenhaften Zusammenkunft. Kollektive Identität wird sinnlich erfahrbar. Mit Ausnahme einiger Formen, z. B. Unterschriftensammlungen, sind Massenproteste physisch verkörperte - und nicht nur rhetorisch beschworene - Gemeinschaft.

Das im Protest eingelöste und gleichzeitig auf die Zukunft gemünzte Versprechen lautet: Wir stehen zusammen, und wir tun es mit mehr als bloßen Worten. Das andere Moment ist der Inhalt des Protests: Wir alle stehen für oder gegen etwas Bestimmtes. Geschlossenheit und Entschlossenheit vieler ist die Botschaft des Massenprotests, in dem Anziehungskraft und Drohgebärde miteinander verschmelzen und dabei eine prekäre Balance zwischen "appeal and threat" (Turner 1969, S. 820) eingehen. Selbst wenn der Massenprotest beim Gegner nichts zu erreichen vermag, so erfüllt er doch eine Funktion für Protestierende und Publikum, nämlich Masse sichtbar zu machen. So gesehen ist Massenprotest zumindest ein Mittel symbolischer Politik. Symbolische Politik ist jedoch zugleich eine mögliche Quelle von Macht. Das ergibt sich aus den Eigenheiten moderner Demokratien. Ihre Besonderheit besteht darin, daß proze- dural erzeugte und institutionell abgestützte Macht, die im politischen Entscheidungssystem konzentriert ist, nicht unabhängig von der Macht von Meinungen und speziell den Meinungen der Massen ausgeübt werden kann.

Um die Einflußnahme der Bürgerschaft auf Prozesse und konkrete Entscheidungen des politischen Systems zu sichern, ist in westlichen Demokratien eine Vielzahl von Kanälen und Prozeduren vorgesehen. Zentral ist hierbei die politische Wahl. Durch sie selektiert und dele­

giert der demokratische Souverän eine bestimmte politische Führungsgruppe. Diese fällt in­

nerhalb einer feststehenden Periode Entscheidungen, die von der Wählerschaft nicht im vor­

aus oder allenfalls nur ungefähr kalkulierbar sind. Somit ist die Wahl nicht nur ein Instrument der Einflußnahme durch Wähler, sondern zugleich ein Mechanismus, mit dem politische Re­

präsentanten die Wähler auf Distanz halten können.

Gerade weil die politische Wahl inhaltlich weitgehend unbestimmt ist und nur sehr einge­

schränkt ein prospektives Votum über anstehende Sachfragen bilden kann, somit gleichsam einen Blankoscheck für künftige Entscheidungen der Gewählten darstellt (Offe 1980, S. 31 f.), und weil zudem das Aufkommen mancher Entscheidungsmaterien und Entschei­

dungsalternativen gar nicht vorherzusehen ist, ist die Bürgerschaft berechtigt und ihr politisch aktiver Teil darum bemüht, den laufenden Entscheidungsbetrieb zu beeinflussen. Das Hand­

lungsspektrum reicht von formalisierten Verfahren der Partizipation bis hin zum

"unkonventionellen" Protest. Umgekehrt ist politischen Entscheidungsträgern daran gelegen, Stimmungen zu erkunden, mögliche Widerstände zu antizipieren und im Vorfeld von Ent­

scheidungen öffentliche Meinung und Einstellungen der Bevölkerung zu beeinflussen. Dies

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deshalb, weil (a) Entscheidungen schwerlich gegen den starken Widerstand organisations- und konfliktfähiger Gruppen durchgesetzt werden können und (b) politische Führungsgruppen Anerkennung suchen und nicht zuletzt die Chancen ihrer Wiederwahl sichern wollen.

Dank dieser Mechanismen wechselseitiger Einflußnahme und Rückkoppelung verlaufen viele politische Entscheidungsprozesse weitgehend geräuschlos (von Beyme 1994) oder wer­

den lediglich von einem Konzert von Stimmen begleitet, das in seiner Lautstärke und Zu­

sammensetzung bereits im voraus kalkulierbar ist. Bei dieser "Routinepolitik überwiegt die Bestimmung der Agenda durch Parteien und Interessengruppen" (ebenda, S. 334). Zuweilen wird jedoch dieses Muster durchbrochen. Unerwartet avancieren politische Entscheidungen zu hochgradig kontroversen und mobilisierenden Konfliktgegenständen, welche die Bürgerschaft in Gestalt von Protestgruppen und -bewegungen auf die Barrikaden bringen.

Barrikadenkämpfe im Sinne einer direkten und gewaltsamen Konfrontation zwischen Bür­

gerschaft und Inhabern der Staatsgewalt sind In den heutigen westlichen Demokratien eine absolute Ausnahmeerscheinung. Es überwiegen stärker domestizierte Formen des kollektiven Protests, um die politische Agenda zu beeinflussen, um auf Entscheidungen im Vorfeld ein­

zuwirken, sie rückgängig zu machen oder ihre Durchsetzung zu verhindern. Zuweilen sind es nur symbolische Gesten des Widerspruchs, namentlich die Demonstration7; zuweilen werden die institutionell vorgesehenen Kanäle politischer Einflußnahme - etwa Einsprüche im Rah­

men von Genehmigungsverfahren - extensiv genutzt; zuweilen sind es "direkte Aktionen" in Gestalt selbstdisziplinierten zivilen Ungehorsams oder manifester Gewalt. Im Kern handelt es sich bei diesen Formen der Einflußnahme um die Ausübung "kommunikativer Macht ... im Modus der Belagerung", mit der auf die Prämissen der Entscheidungsprozesse "ohne Erobe­

rungsabsicht" eingewirkt werden soll (Habermas 1989, S. 475).

Wie in vergleichbaren Ländern ist auch die Geschichte der Bundesrepublik von einer Viel­

zahl und Vielfalt von Protesten (Rucht 1989) markiert, mit denen Aufmerksamkeit erregt und politische Entscheidungsträger unter Druck gesetzt werden sollen. In diesen Fällen w ird eine anstehende bzw. bereits getroffene Entscheidung formell zuständiger Organe als derart ein­

schneidend und in ihren möglichen Konsequenzen als bedrohlich bzw. unannehmbar empfun­

den, daß Gruppen der Bevölkerung Einspruch erheben. Aus ihrer Sicht handelt es sich um Entscheidungen, die nicht kommentar- und widerstandslos den gewählten politischen Reprä­

sentanten überlassen bleiben dürfen. Mitunter spitzen sich die Auseinandersetzungen zu: De­

batten verdichten sich zu Konflikten, und aus manchen Konflikten werden "hot issues", die Massen von Bürgern mobilisieren und dann als "key events" (vgl. dazu Brosius/Eps 1995;

Kepplinger/Habermeier 1995) die gesteigerte Aufmerksamkeit der Massenmedien finden.

Bundespolitisch bedeutsame Konfliktgegenstände dieser Art waren z. B, die Wiederbewaff­

nung der Bundesrepublik; die Bestrebungen, die Bundeswehr mit Atomwaffen auszustatten;

die Notstandsgesetze; die Regelung der Abtreibung; der NATO-Doppelbeschluß; die Volks­

zählung; die Asylgesetzgebung sowie die eingangs erwähnten Kürzungen sozialer Leistungen.

Aber auch au f regionaler oder lokaler Ebene können politische Entscheidungen massiven und

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massenhaften Widerstand hervorrufen, wie es z. B. die Konflikte um technisch-industrielle Großprojekte lehren (Linse et al. 1988).

Unser in der Regel aus der Zeitungslektüre stammendes Wissen um solche Konflikte liefert lediglich Assoziationen, bruchstückhaftes Anschauungsmaterial. Aber auch die Sozialwissen­

schaften haben sich solchen Konflikten bislang kaum oder allenfalls in einzelnen Fallstudien zugewandt (Halloran/Elliott/Murdock 1970; Schulz 1968; Burstein 1979; Burstein/Freuden­

berg 1978). Schlichte deskriptive Fragen zur Struktur von Massenprotesten und erst recht Kausalfragen zum Zusammenhang von Massenprotesten und politischen Entscheidungen sind damit unbeantwortet: Welchen Anteil haben Massenproteste am gesamten Protestgeschehen?

Weisen sie, abgesehen von ihrem bloßen Umfang, besondere Merkmale etwa hinsichtlich der Themen, Formen und Träger auf? Welche Faktoren machen bestimmte politische Entschei­

dungen zu "hot issue"-Entscheidungen? Gibt es einen erkennbaren direkten oder indirekten Einfluß des Protests auf den Ausgang der Entscheidungen? Wie wirken sich einmal getroffene Entscheidungen - seien sie positiv, negativ oder ambivalent im Sinne der Protestierenden - auf den weiteren Verlauf von Mobilisierungen aus?

Dieser Beitrag greift einige dieser Fragen auf, wird jedoch auf Kausalfragen keine schlüs­

sigen Antworten bieten, sondern nur eine explorative Funktion erfüllen können. Im ersten Teil werden Überlegungen und Hypothesen zum Zusammenhang von Massenprotesten und politi­

schen Entscheidungen vorgestellt. Nach knappen Hinweisen auf die hier verwendete Daten­

basis im zweiten Teil wird in einem dritten Schritt die Struktur von Großprotesten in der Bun­

desrepublik im Aggregat, teilweise auch im Zeitverlauf, betrachtet und der Gesamtheit der Proteste gegenübergestellt. Der vierte Teil widmet sich jener Teilmenge von Großprotesten, die als Massenproteste etikettiert werden. Hier stehen wiederum jene Proteste im Mittelpunkt, die proaktiv oder reaktiv auf politische Entscheidungen bezogen sind. Abschließend werden einige allgemeine Überlegungen zum Stellenwert von Massenprotesten präsentiert.

1. Überlegungen und Hypothesen zu Massenprotesten und politischen Entscheidungen

Begriffe wie Großprotest oder - noch deutlicher - Massenprotest wecken die Assoziation einer vielköpfigen Menschenmenge, die beispielsweise zu einer Demonstration an einem Ort zusammenkommt oder auf andere Weise, etwa in Form einer umfangreichen Unterschriften­

sammlung, politisch intervenieren will. Massenproteste können aber auch aus einer Vielzahl kleiner Proteste bestehen, die - mehr oder weniger koordiniert - mit gleicher Zielsetzung bzw.

aus gleichem Anlaß an vielen Orten stattfinden. Massenproteste manifestieren sich also nicht notwendigerweise in herausragenden Einzelprotesten. Im weiteren wird diese zweite und wohl eher seltene Möglichkeit vernachlässigt und ausschließlich auf Proteste ab einer bestimmten Größenordnung Bezug genommen. Hierbei werden der Eindeutigkeit halber zwei gängige Begriffe operational definiert. Als Großproteste gelten solche, die mehr als 10.000 Teilnehmer

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mobilisieren. Eine Teilmenge von Großprotesten sind Massenproteste, definiert als Proteste mit mehr als 100.000 Teilnehmern.

Innerhalb der Gesamtheit aller tatsächlich stattfindenden Proteste spielen Groß- bzw. Mas­

senproteste aus mehreren Gründen eine besondere Rolle. Dies ergibt sich erstens daraus, daß diese Proteste nicht alltäglich sind und schon aufgrund ihrer schieren Größe aus der Menge aller Proteste für Organisatoren und Protestteilnehmer, aber auch für Passanten und Ord­

nungskräfte herausragen. Zweitens erregen Großproteste in besonderer Weise die Aufmerk­

samkeit der Massenmedien. Forschungen von McCarthy/McPhail/Smith (1996) zu Protesten in Washington, D. C. haben gezeigt, daß mit steigenden Teilnehmerzahlen auch die Chance zunimmt, daß Proteste in Massenmedien (Femsehnachrichten und Tageszeitungen) Erwäh­

nung finden.8 Der Vergleich von Polizeidaten und Medienberichten zu Protesten lehrt, daß die große Fülle von Klein- und Kleinstprotesten von den untersuchten Medien9 ignoriert wird, während ab einer bestimmten Größenordnung praktisch alle Proteste die Aufmerksamkeit dieser Medien auf sich ziehen.10 Drittens ist anzunehmen, daß - ceteris paribus - mit der Grö­

ße des Protests auch eine gesteigerte Medienaufmerksamkeit einhergeht, die sich in Aufma­

chung, Plazierung und Länge der Berichte niederschlägt. Dies hat Folgen für die Wahrneh­

mung des Publikums. Forschungen zur Medienrezeption weisen darauf hin, daß die Aufmerk­

samkeit des Publikums weitgehend den Mustern der Medienaufmerksamkeit folgt. Auch wenn vorerst unklar ist, ob die für Medien geltenden Nachrichtenwerte in gleicher Weise für das Publikum wirksam sind, so zeigt sich doch, daß die Aufmerksamkeit des Publikums überwiegend durch den medienbestimmten Präsentationswert von Informationen gesteuert wird (Eilders 1996). Auch für Berichte über Proteste ist davon auszugehen, daß solche, die durch journalistische Mittel in besonderer Weise hervorgehoben sind, bevorzugt vom Publi­

kum wahrgenommen und vermutlich auch am ehesten in dessen Gedächtnis haften werden.

Viertens kann unterstellt werden, daß politische Entscheidungsträger als aufmerksame Rezi­

pienten der Massenmedien nicht nur Großproteste eher als Kleinproteste registrieren, sondern Großproteste auch bei ihrer Meinungsbildung und Entscheidungsfindung eher in Rechnung stellen.

Ganz allgemein gilt, daß Proteste - im Unterschied zu individuellen Einstellungen, wie sie von der Meinungsforschung erfaßt werden - eine manifeste Handlungsbereitschaft eines poli­

tisch wachen und aktiven Segments der Bevölkerung anzeigen. Diesem Segment kommt bei der Bildung und Präsentation öffentlicher Meinungen, und damit möglicherweise auch im laufenden Entscheidungsprozeß, eine im Verhältnis zur "schweigenden Mehrheit" überpro­

portionale Bedeutung zu. Speziell Großproteste, zumal wenn sie sich explizit an politische Entscheidungsträger richten, sind somit ernst zu nehmende Signale für politische Eliten, daß Unmut und Kritik über randständige Zirkel hinausgewachsen sind. Selbst wenn sich mit Großprotesten lediglich eine Bevölkerungsminderheit artikuliert, so handelt es sich doch um möglicherweise sehr organisations- und konfliktfähige Gruppen, deren Mißachtung durch die etablierte Politik den Protestierenden weiteren Zulauf aus der Masse bislang passiver Sympa­

thisanten zu verschaffen droht. Wir können somit annehmen, daß Großproteste, die sich direkt

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auf anstehende oder getroffene Entscheidungen beziehen, gerade von den in der Sache unmit­

telbar befaßten Entscheidungsträgern aufmerksam beobachtet werden, auch wenn ihre Bedeu­

tung, wie das einleitende Beispiel zeigt, aus taktischen Gründen heruntergespielt werden soll­

te.

Unter welchen Bedingungen Großproteste zustande kommen und tatsächlich eine relevante Einflußgröße im politischen Entscheidungs- bzw. Implementationsprozeß darstellen, ist frei­

lich bislang theoretisch nicht geklärt, geschweige denn systematisch empirisch untersucht worden. Wir können lediglich auf Basis von wenigen Literaturhinweisen und aufgrund eines allgemeineren Vorwissens einige Hypothesen formulieren, die sich anhand des vorliegenden Datenmaterials zumindest ansatzweise und partiell beantworten lassen.

1. Generell kann angenommen werden, daß Großproteste in erster Linie stattfmden, um ein bislang vernachlässigtes Thema auf die politische Agenda zu setzen oder um eine unmittelbar anstehende Entscheidung proaktiv zu beeinflussen. Da soziale Bewegungen am häufigsten als Träger von Protesten auftreten und eine hohe Thematisierungskapazität, aber nur ein geringes Durchsetzungsvermögen aufweisen (Raschke 1985, S. 386), dürften Großproteste in Reaktion auf eine bereits getroffene politische Entscheidung seltener Vorkommen. In dieser Situation sind die politischen Erfolgsaussichten und somit auch die Chancen geringer, große Men­

schenmengen zu mobilisieren.

2. Vieles spricht dafür, daß die Wahrscheinlichkeit des Zustandekommens von Großprote­

sten unter anderem von der Art der Entscheidungsmaterien abhängt. Entsprechend den Argu­

menten von Theoretikern rationaler Wahl (z. B. Olson 1965) ist generell davon auszugehen, daß Großproteste aufgrund der "free rider"-Problematik unwahrscheinlich sind, da mit stei­

gender erwartbarer Größe des Protests auch der kalkulierte Nutzen der individuellen Beteili­

gung sinkt (kritisch dazu z. B. Oliver 1984). Sofern jedoch Großproteste überhaupt zustande kommen, wäre dies nach den Theorien rationaler Wahl am ehesten dann der Fall, wenn mate­

rielle bzw. existentielle Lebensbedingungen auf dem Spiel stehen. Zusätzlich ist zu vermuten, daß auch grundsätzliche politische Richtungs- und Rahmenfestlegungen, die eine Fülle weite­

rer Einzelentscheidungen präformieren, eher mobilisierungskräftig wirken.11 Relativ unwahr­

scheinlich sind dagegen Großproteste, in denen sich Menschen in advokatorischer Absicht zum Fürsprecher anderer Gruppen machen, die ihre Interessen nicht oder nur schwer vertreten können.

3. Unter dem Blickwinkel rationaler Wahl ist es auch wahrscheinlich, daß anstehende Ent­

scheidungen, die nicht oder zumindest nur schwer reversibel sind, eher Großproteste auf sich ziehen als Entscheidungen, die im Prinzip jederzeit wieder abgeändert oder rückgängig ge­

macht werden können. Irreversible Entscheidungen, die definitive Festlegungen für die eigene Zukunft oder sogar für die nachfolgender Generationen bedeuten, erhöhen den Druck, sich zu Wort zu melden, sofern die Entscheidung als problematisch wahrgenommen wird und/oder sich in besonderer Weise dazu eignet, moralische Empörung kundzutun.

4. Neben der Sachstruktur der Entscheidung haben die jeweiligen sozialen und politischen Randbedingungen einen erheblichen, wenngleich nicht exklusiven Einfluß darauf, ob und in

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welchen Dimensionen und Formen Großproteste zustande kommen. Hier bieten neuere Kon­

zepte zur politischen Gelegenheitsstruktur bzw. gesellschaftlichen Kontextstruktur einige An­

haltspunkte (Tarrow 1994; Rucht 1994; McAdam/McCarthy/Zald 1996). Zwar zielen diese Konzepte zumeist auf das Aggregat von Protestmobilisierung als einer abhängigen Variable, doch dürften die in diesem Zusammenhang genannten mobilisierungsfördernden Bedingungen auch und gerade für die Klasse von Großprotesten gelten. Demnach ist anzunehmen, daß auf politische Entscheidungen bezogene Großproteste eher dann Vorkommen, wenn (a) die politi­

schen Bntscheidungseliten in der Sache gespalten sind und damit die Chance besteht, einfluß­

reiche Bündnispartner zu gewinnen, sowie (b), über die genuinen Protestgruppen hinausge­

hend, sich breitere Allianzmöglichkeiten mit gesellschaftlichen Gruppen, etwa etablierten Verbänden, Kirchen und Parteien, eröffnen.

5. Die Frage, unter welchen Bedingungen Großproteste mehr oder weniger chancenreich sind, um politische Entscheidungen im Sinne der Protestierenden zu beeinflussen, ist aufgrund der Vielzahl ins Spiel kommender Variablen und zusätzlicher Meßprobleme nur äußerst schwer zu beantworten. Empirisch feststellbar ist allerdings, ob letztlich - und gleich aus wel­

chen Gründen - die Forderungen der Protestierenden ganz, teilweise oder nicht erfüllt wurden.

In diesem Sinn ist beispielsweise die Aussage möglich, daß das Anliegen der Vertriebenen- verbände, die ehemaligen deutschen Ostgebiete wieder territorial einzugliedem, völlig ge­

scheitert ist, während andererseits alle auf die Aufhebung der deutschen Teilung zielenden Proteste letztlich ihr Ziel erreicht haben. Ebenso kann festgestellt werden, daß Protesten gegen die bundesdeutschen Atomenergieprogramme erhebliche Teilerfolge beschieden waren. Da sich die Mehrzahl der Großproteste gegen etablierte Verhältnisse und zumeist machtgestützte Interessen richtet, sind generell mehr Mißerfolge als Erfolge zu erwarten. Jedoch ist eine Zielerreichung dann wahrscheinlicher, wenn die Entscheidungseliten in der Sachfrage gespal­

ten sind.

Vor der Untersuchung dieser Hypothesen anhand konkreter Massenproteste erscheint es zunächst angebracht, die zugrundeliegende Datenbasis kurz zu beschreiben sowie die Struktur von Groß- und Massenprotesten mit der der Gesamtheit aller Proteste zu vergleichen.

2. Die Datenbasis

Die Grundlage der weiteren Untersuchung bildet eine umfangreiche Dokumentation zu Protestereignissen in der Bundesrepublik, die im Rahmen des sogenannten Prodat-Projekts12 am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) erstellt wurde. Die Datenbank umfaßt derzeit 8.919 Protestereignisse13 für den Zeitraum von 1950 bis 1992 auf dem Terri­

torium der Bundesrepublik und - seit 1.1.1989 - auf dem der (ehemaligen) D D R.14 Genutzt wird hierbei in erster Linie der auf einem elektronischen Speicher verfügbare Datensatz. Nach einem Stichprobenverfahren15 wurden auf Basis eines standardisierten inhaltsanalytischen Instruments Informationen aus Berichten zu Protestereignissen aus den üllgemeinsn Teilen zweier bundesdeutscher Tageszeitungen erhoben (Frankfurter Rundschau und Süddeutsche

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Zeitung). Diese Informationen erlauben einen Strukturvergleich zwischen Groß- und M assen­

protesten einerseits und der Gesamtheit aller erhobenen Proteste andererseits. Dabei ist zu beachten, daß die Zahl der erhobenen Protestereignisse nur eine Teilmenge aller in diesen Medien berichteten Proteste und erst recht aller tatsächlich stattgefundenen Proteste dar­

stellt.16

Ein spezieller Bezug zu politischen Entscheidungen war in der Standardcodierung nicht vorgesehen. Für die Zwecke dieses Beitrags wurde eine gezielte Nachcodierung von entschei­

dungsbezogenen Informationen nur für die Teilmenge der Massenproteste vorgenommen.17 In Ergänzung zu den überwiegend quantitativen Daten wird fallweise auch auf die zugrundelie­

genden Zeitungsberichte zurückgegriffen. Die entsprechenden Ergebnisse werden in Teil 4 vorgestellt.

3. - Das Profil von Groß- und Massenprotesten in der Bundesrepublik

3.1 Die Struktur von Groß- und Massenprotesten im Aggregat

Mobilisierungsumfang-. Tabelle 1 zeigt die Verteilung der Proteste nach Größenklassen.

Hierbei erfolgt zusätzlich eine Aufschlüsselung für Proteste, die an Wochenenden und Werk­

tagen stattfanden. Dieser Aspekt ist wegen vorerst noch uneinheitlicher Stichproben (vgl.

Fußnote 15) bei der Erfassung von Protestereignissen bedeutsam, sofern Zeitreihen betrachtet werden.

Tabelle 1: Proteste nach Größenklassen: Werktag- und Wochenendproteste, 1950-1992 (Prozentwerte)

Teilnehmer Wochenende Werktag Gesamt

absolut % absolut % absolut %

< 11 196 5,8 159 10,7 355 7,3

11 - 100 580 17,2 433 29,3 1.013 20,9

101 - 1.000 1.113 33,1 440 29,7 1.553 32,1

1.001 - 10.000 1.049 31,2 286 19,3 1.335 27,6

10.001 - 100.000 364 10,8 136 9,2 500 10,3

> 100.000 63 1,9 26 1,8 89 1,8

Summe 3.365 100 1.763 100 4.845 100

Fehlende Werte 2.311 40,7 1.480 54,4 4.074 45,7

Für die Gesamtheit aller Proteste zeigt sich, daß die mittleren Größenklassen am stärksten besetzt sind. In der Kategorie von 10.001 bis 100.000 Teilnehmern sind 500 Proteste (10,3 Prozent), in der Kategorie mit mehr als 100.000 Teilnehmern 89 Proteste (1,8 Prozent) vertre-

(14)

ten. Eine Aufschlüsselung nach Wochenend- und Werktagen ist deswegen von Interesse, weil man annehmen könnte, daß Großpröteste ganz überwiegend an Wochenenden stattfinden.

Dies deshalb, weil die Organisatoren, etwa im Falle bundesweiter Protestdemonstrationen, lange Reisewege in Rechnung zu stellen haben. Der Vergleich zwischen Wochenend- und Werktagprotesten für die beiden letzten Größenkategorien zeigt jedoch nur Sehr geringe Un­

terschiede (10,8 versus 9,2 Prozent und 1,9 versus 1,8 Prozent). Mit Ausnahme von Zeitrei­

henbetrachtungen wird deshalb im weiteren die vorläufig noch unvollständige Stichprobe un­

geachtet des Ereignistages zugrunde gelegt,

Die Verteilung der Größenklassen von Protesten gibt noch keine Auskunft darüber, wie viele Personen tatsächlich in Großprotesten mobilisiert wurden. In dieser Hinsicht zeigt sich ein enormes Übergewicht von Großprotesten (Tabelle 2). Obgleich ihr Anteil an der Zahl aller Proteste mit 12,1 Prozent bescheiden ist, repräsentieren Großproteste 88,2 Prozent aller Pro­

testteilnehmer. Die Betrachtung der Großproteste ist somit entsprechend der Zahl der Beteilig­

ten im wesentlichen eine Betrachtung der Gesamtmobilisierung. Diese beläuft sich auf Basis der beschriebenen Suchstrategie und der unvollständigen Stichprobe auf knapp 50 Millionen Protestteilnehmer.18 Selbst die Untergruppe der Proteste m it mehr als 100.000 Teilnehmern, die lediglich 1,8 Prozent aller Proteste ausmacht, stellt mit 56,6 Prozent mehr als die Hälfte aller Protestteilnehmer

Tabelle 2; Teilnehmer an Großprotesten und allen Protesten (in Tausend) Massenproteste

> 100.000 Teilnehmer

Großproteste*

> 10.000 Teilnehmer

Alle Proteste

Absolut 28.181 43.952 49.812

Anteil 56,6 % 88,2 % 100%

N 89 589 4.845

* Diese Kategorie endet nicht, wie es Tabelle 1 nahelegen könnte, bei 100.000 Teilnehmern, sondern ist nach oben hin offen. Sie schließt demnach Massenproteste ein.

Obgleich also Großproteste nach ihrem Mobilisierungsumfang nahezu mit der Gesamt­

mobilisierung identisch sind, ist doch anzunehmen, daß sie sich nach Themenfeldern, Akti­

onsformen und Objekten der Kritik wesentlich von der Gesamtheit aller Proteste unterschei­

den. So ist etwa zu vermuten, daß voraussetzungsvolle "high risk"-Aktionen eher eine Sache kleiner, hoch motivierter Gruppen sind, während sich für Unterschriftensammlungen oder Kundgebungen durchaus eine große Zahl von Menschen gewinnen läßt. Im folgenden wird dem speziellen Profil von Großprotesten nachgegangen.

Protestthemen: Die Fülle konkreter Protestthemen und Anliegen wurde in neun großen Themenfeldern zusammengefaßt (Tabelle 3). Im Vergleich zur Gesamtheit aller Proteste zei­

gen sich einige markante Abweichungen für die Großproteste und speziell für die Untergruppe

(15)

der Massenproteste. Großproteste beziehen sich überproportional auf die Bereiche Arbeit (Abweichung +3,6 Prozent) und Frieden (+2,8 Prozent), dagegen unterproportional auf die Bereiche Staatsorgane (-2,7 Prozent) und vor allem ideologische Streitfragen (-5,7 Prozent).

Speziell für die Untergruppe der Massenproteste ist die Überrepräsentanz besonders markant in den Themenfeldern benachteiligte Gruppen19 (+11,4 Prozent) und Bürgerrechte (+7,9 Pro­

zent). Zeigte sich eine Überrepräsentation der Großproteste im Bereich Arbeit, so gilt das Ge­

genteil für die darin enthaltene Untergruppe der Massenproteste (-7,7 Prozent). Umgekehrt verhält es sich bei Umweltprotesten; hier sind Großprojekte leicht überproportional vertreten, während die Massenproteste unterrepräsentiert sind. Ideologische Grundsatzfragen bilden nur selten einen Anlaß für Großproteste. Offensichtlich bedarf es konkreter Auslöser bzw. thema­

tischer Brennpunkte für Massenmobilisierungen. Im Gesamtbild bestätigt sich, daß Großpro­

teste eine andere thematische Gewichtung als die Gesamtheit aller Proteste aufweisen. Das unterschiedliche Gewicht einzelner Protestthemen tritt bei der Unterkategorie der Massenpro­

teste am stärksten hervor.

Tabelle 3; Themenfelder von Großprotesten und allen Protesten (Prozentwerte)

Massenproteste

>100.000

Großproteste

>10.000

Alle Proteste

Frieden 20,0 17,2 14,4

Staatsorgane 5,9 12,0 14,7

Wohnen/Stadt 4,7 1,6 J,3

Bildung/Soziales 5,9 6,4 4,9

Umwelt 7,1 12,3 11,3

Bürgerrechte 25,8 17,5 18,1

Benachteiligte Gruppen 21,2 11,6 9,8

Arbeit 8,2 19,5 15,9

Ideologischer Streit 1,2 1,9 7,6

Summe 100 100 100

N 85 576 8.842

Protestformen: Die Verteilung der Großproteste nach relativ breit gefaßten Aktionstypen ist in Tabelle 4 wiedergegeben.20 Demnach konzentrieren sich Großproteste im wesentlichen auf einen einzigen Aktionstypus, die Kategorie demonstrativer Aktionen (85,9 Prozent), wel­

che bei allen Protesten weit schwächer vertreten sind (53,1 Prozent).21 Es folgt mit großem Abstand der Typus appellativer Aktionen (11,2 Prozent), der bei der Gesamtheit aller Proteste und deutlicher noch bei den Massenprotesten stärker repräsentiert ist. Konfrontative und ge­

waltförmige Aktionen haben bei Großprotesten nur einen Anteil von zusammen 2,2 Prozent;

im Vergleich dazu beträgt ihr Anteil an allen Protesten mehr als das Zehnfache (24,2 Prozent).

Massenproteste setzen sich zu drei Vierteln aus demonstrativen und zu einem Viertel aus ap­

(16)

pellativen Protesten zusammen; konfrontative und gewaltförmige Proteste fehlen hier völlig.

Wir können somit festhalten, daß gemäßigte Aktionstypen, also gemeinhin als "friedlich" be­

zeichnete Aktionen, das Gesamtbild der Großproteste prägen. Die Untergruppe der Massen­

proteste besteht sogar ausschließlich aus gemäßigten Aktionstypen.

Tabelle 4: Aktionstypen von Großprotesten und allen Protesten (Prozentwerte) Massenproteste

>100.000

Großproteste

>10.000

Alle Proteste

Appellativ 25,0 11,2 19,5

Prozedural 0,0 0,7 3,2

Demonstrativ 75,0 85,9 53.1

Konfrontativ 0,0 2,0 13,9

Leichte Gewalt 0,0 0,2 3,8

Schwere Gewalt 0,0 0,0 6,5

Summe 100 100 100

N 88 587 8.748

Protestträger: Hinsichtlich der organisatorischen Trägerschaft von Protesten können drei Hauptgruppen unterschieden werden: (1) Initiativen und lose Netzwerke, (2) Verbände und Kirchen sowie (3) Parteien. Der aus Tabelle 5 ersichtliche Befund, daß bei Großprotesten die kumulierten Anteile der positiven Angaben für alle drei Trägertypen (133,1 Prozent) höher liegen als bei der Gesamtheit aller Proteste (114,2 Prozent), ist unter anderem Ausdruck einer umfangreicheren und vollständigeren Berichterstattung bei Großprotesten. Finden wir in die­

sem Fall relativ häufig Angaben zu den organisatorischen Trägern des Protests, so gilt dies nicht in gleichem Umfang für die Vielzahl kleinerer Proteste. Aussagekräftiger ist somit der Vergleich der relativen Anteile einzelner Träger für die drei Protestkategorien (vgl. die Spal­

ten "Antworten"). Erwartungsgemäß nimmt mit steigender Teilnehmerzahl des Protests der Anteil informeller Organisationen als Träger von Protesten ab. Im Vergleich zu allen Prote­

sten sind Initiativen/Netzwerke an Großprotesten und vor allem an Massenprotesten in gerin­

gerem Maße beteiligt. Ein Grund dafür mag darin liegen, daß initiativförmige Gruppen gerin­

gere Organisationskapazitäten aufweisen und teilweise außerstande sind, Großproteste durch­

zuführen. Ein weiterer Grund könnte darin bestehen, daß Großorganisationen auch eher zu den bereits beschriebenen moderaten Protestformen tendieren, die ganz überwiegend das Bild der Großproteste bestimmen. Dagegen neigen initiativförmige Gruppen eher zu dezentralen und häufig auch riskanteren Protestformen, für die sieh keine Massen gewinnen lassen. Auf der Linie dieser Überlegungen liegt auch der Befund, daß Parteien als Träger von Massenpro­

testen mit einem Anteil von 30,1 Prozent weitaus stärker in Erscheinung treten als bei allen Protesten (Anteil: 14jt Prozent). Insgesamt zeigt sich jedoch für alle drei Kategorien von Protesten eine starke Dominanz von Verbänden»

(17)

Tabelle 5: Organisatorische Träger von Großprotesten und allen Protesten (Prozentwerte)

Massenproteste

> 100.000 Teilnehmer

Großproteste

> 10.000 Teilnehmer

Alle Proteste

Antw. Fälle Antw. Fälle Antw. Fälle

Initiativen/

Netzwerke 23,2 31,5 27,7 36,9 29,1 33,2

Verbände 54,5 74,0 52,4 69,7 56,0 64,0

Parteien 22,3 30,1 19,9 26,5 14,9 17,0

Summe % 100 135,6 100 133,1 100 114,2

Summe

Antworten 99 559 5.104

* Beispiel für die Lesart der ersten Zeile: ln 23,2 Prozent aller Antworten innerhalb der Kategorie der Mas­

senproteste wurden Initiativen/Netzwerke als Träger genannt. Die Spalte "Fälle" enthält die kumulierten Pro­

zentsätze, die aufgrund von Mehrfachnennungen von Trägertypen 100 Prozent übersteigen.

Tabelle 5 gibt keine Auskunft darüber, wie viele Organisationen jeweils als Träger von Protesten auftreten. Bezogen auf die Gesamtheit aller Proteste waren dies durchschnittlich 4,2 Organisationen pro Protest. Für die Kategorie der Großproteste beträgt der entsprechende Mittelwert 18,2; für die Untergruppe der Massenproteste liegt er bei der erstaunlichen Zahl von 52,8 Organisationen. Dieser Wert ergibt sich vor allem aufgrund einiger weniger Ereig­

nisse, an denen sich bis zu 2.200 Organisationen beteiligten.

Protestobjekte: Bevorzugtes Objekt von Großprotesten sind staatliche Institutionen und Repräsentanten, deren Anteil mit 84,1 Prozent weit über dem entsprechenden Anteil bei allen Protesten (66,4 Prozent) liegt.22 Stark unterrepräsentiert sind dagegen Wirtschaftsverbände und Firmen, die an allen Protesten mit 13,7 Prozent, an Großprotesten mit 9,3 Prozent und an Massenprotesten lediglich mit 1,4 Prozent als Adressat von Protesten auftauchen. Privatper­

sonen, Objekt von 5,3 Prozent der Gesamtheit aller Proteste, bilden in nur 0,4 Prozent der Großproteste und in keinem einzigen Fall von Massenprotesten ein Protestobjekt. Bedenken wir zudem, daß das Gros aller Protestteilnehmer in Massenprotesten mobilisiert wird, so tritt die dominante Rolle von staatlichen Institutionen und Repräsentanten als Objekten von Pro­

test noch deutlicher hervor.

3.2 Großproteste im Zeitverlauf

Zeitreihendaten sollen nachfolgend nur für den Mobilisierungsumfang (Zahl von Protesten und Protestteilnehmern) präsentiert werden. Für die Wochenendproteste, für die eine durchge­

hende Zeitreihe von 1950 bis 1992 vorliegt, stellt Abbildung 1 die jährliche Zahl aller Proteste und zusätzlich der Großproteste in einer Verlaufskurve dar. Unabhängig von einzelnen Kur­

venausschlägen läßt sich für die Gesamtheit aller Wochenendproteste ein allmählicher An­

(18)

stieg konstatieren. Hinsichtlich der Großproteste ist rein optisch kein auffälliger Befund er­

kennbar. Ihre durchschnittliche Zahl scheint lediglich ab 1980 erkennbar höher zu liegen als in vorangegangenen Perioden.

Abbildung 1: Protesthäufigkeit, 1950-1992

Eine nähere Betrachtung der einzelnen Jahreswerte, die der Abbildung 1 zugrunde liegen, offenbart jedoch markante Schwankungen mit einer Spannbreite von einem (im Jahr 1958) und 26 Großprotesten (1982). Hohe Werte werden zudem in den Jahren 1981 (25 Großprote­

ste), 1989 (23), 1985 (22) sowie 1955 und 1992 (je 21) erreicht.

Eine Übersicht über die groben Entwicklungstrends von Großprotesten liefert eine Berech­

nung ihrer durchschnittlichen jährlichen Häufigkeit pro Dekade, wobei für die neunziger Jahre hervorzuheben ist, daß lediglich drei Jahre (1990-1992) in diese Rechnung eingingen. Für die fünfziger Jahre ergeben sich 9,4, die sechziger Jahre 4,6, die siebziger Jahre 7,0, die achtziger Jahre 16,8 und die frühen neunziger Jahre 16,3 Großproteste im Jahresdurchschnitt. Der ent­

sprechende Anteil der Großproteste an allen Protesten lag in den fünfziger Jahren mit 15,0 Prozent außergewöhnlich hoch und bewegte sich in der gesamten Folgezeit bei rund einem Drittel dieses Wertes.23

Die Entwicklung der Teilnehmerzahlen an allen Protesten und Großprotesten, die an Wo­

chenenden stattfanden, ist in Abbildung 2 dargestellt. Bemerkenswert ist zum ersten der ex­

trem unstetige Kurvenverlauf, der auch nicht annähernd dem der Zahl der Protestereignisse folgt (Abbildung 1). In beiden Kurven schlagen einige herausragende Massenproteste zu Bu­

che (siehe Teil 4). Dagegen stellen die späten sechziger Jahre, die gemeinhin als Hochphase des außerparlamentarischen Protests erinnert werden, einen ausgesprochenen Tiefpunkt der Mobilisierung dar. Zum zweiten bestätigt sich der bereits im Aggregat festgestellte Befund, daß die Gesamtmobilisierung im wesentlichen von der Mobilisierung in Großprotesten be­

stimmt ist. Die Differenzen beider Kurven sind noch am ehesten in Phasen relativ niedriger Mobilisierung erkennbar, und auch dies nur ab den späten sechziger Jahren.24 Dies dürfte auf Verschiebungen der dominanten Themen und Träger des Protests zurückzuführen sein. Wäh­

rend die Mobilisierungskraft der Gewerkschaften und vor allem der Vertriebenenverbände

(19)

zurückgeht, gewinnen ab den späten sechziger Jahren die im Durchschnitt kleineren Proteste der Studentenbewegung und der nachfolgenden neuen sozialen Bewegungen ein stärkeres Gewicht (siehe auch unten).

Abbildung 2: Protestteilnehmer, 1950-1992

Analog zur zeitlichen Verteilung der Protestereignisse wurden auch Protestteilnehmer nach drei Protestkategorien und fünf Kalenderperioden aufgeschlüsselt, wobei wiederum aus Grün­

den der Vergleichbarkeit durchschnittliche Jahreswerte pro Periode ausgewiesen sind (Tabelle 6). Es bestätigt sich der bereits zuvor gewonnene Eindruck, daß insbesondere die Mobilisie­

rung in den fünfziger Jahren fast ganz, nämlich zu 93,7 Prozent, durch Großproteste erfolgte.

In den siebziger Jahren dagegen war der Anteil der in Großprotesten mobilisierten Teilnehmer am kleinsten. Besonders gering war in diesem Jahrzehnt die Beteiligung der in Massenprote­

sten mobilisierten Teilnehmer. Lag deren Anteil in allen übrigen Perioden bei über 50 Pro­

zent, so betrug er in den siebziger Jahren nur 14,6 Prozent. In diesem Jahrzehnt, das ohnehin die insgesamt schwächste Mobilisierung im gesamten Betrachtungszeitraum aufwies, ging demnach die Mobilisierung überwiegend auf kleinere Proteste zurück.

(20)

Tabelle 6: Jährliche Teilnehmerzahlen* pro Periode (in Tausend)

1950-1959 1960-1969 1970-1979 1980-1989 1990-1992

Massenproteste 465,6 298,9 46,1 950,4 652,1

N = 62 (60,6 %) (61,4% ) (14,6 %) (58,8 %) (51,4% )

Großproteste 720,5 433,8 232,9 1.411,6 1.007,5

N = 427 (93,7 %) (89,2 %) (74,2 %) (87,4 %) (79,5 %)

Alle Proteste 768,7 486,5 313,9 1.615,3 1.267,8

N = 3.365 (100 %) (100 %) (100% ) (100% ) (100 %)

* Nur Wochenendproteste. Die Werte in Klammern repräsentieren die Anteile der mobilisierten Protest­

teilnehmer auf Basis des jeweiligen Jahrzehnts für die drei Protestkategorien.

Wir können somit festhalten, daß Großproteste nach ihrer Zahl und Mobilisierungsleistung in den fünfziger Jahren ein besonders hohes Gewicht hatten, während für die siebziger Jahre das Gegenteil zutrifft. Im gesamten Betrachtungszeitraum von 1950 bis 1992 ist somit kein durchgehender Trend zugunsten oder zu Lasten des Anteils von Groß- und Massenprotesten erkennbar. Während eine Studie zu Protesten in Washington von 1961 bis 1983 einen Trend zu immer größeren Protesten feststellt und diesen mit der wachsenden Stabilisierung und Pro- fessionalisierung der organisatorischen Träger in Verbindung bringt (Everett 1992), ist kein analoges Muster für die Bundesrepublik erkennbar.

4. Massenproteste und politische Entscheidungen

In diesem Abschnitt sollen die Massenproteste im Zeitraum von 1950 bis 1992 genauer betrachtet und hinsichtlich ihres Bezugs auf politische Entscheidungen diskutiert werden. Die konkreten Entstehungsbedingungen und politischen W irkungen von Massenprotesten bleiben jedoch ausgeklammert.

1. Von den 89 Massenprotesten entfallen 81 auf die alte Bundesrepublik bzw. die alten Bundesländer und acht auf die DDR bzw. die neuen Bundesländer. Eine sinnvolle Aussage über die zeitliche Verteilung der Massenproteste ist nur für die Wochenendproteste möglich (N - 62), da für die Werktagproteste, wie schon betont, noch keine durchgehende Erhebung (Werktage jeder vierten Woche) vorliegt. Demnach Verteilen sich die Massenproteste an Wo­

chenenden wie folgt: 1950-1959: 21; 1960-1969: 11; 1970-1979: 3; 1980-1989: 17; 1990­

1992: 10.

Über die Hälfte, nämlich 49 der 89 Massenproteste, entfallen aufdie Kategorie bis 200.000 Teilnehmer, weitere 30 Proteste auf die Gruppe von 200.001 bis 500.000 Teilnehmern und zehn Proteste auf die letztgenannte Kategorie (davon drei mit über einer Million Teilneh­

mern). Die mit Abstand größte Beteiligung erlangte eine Unterschriftensammlung ("Krefelder Appell") der Friedensbewegung in den frühen achtziger Jahren mit 4,7 Millionen Unterzeich­

(21)

nern. Es folgen zwei weitere Unterschriftenaktionen (für einen demokratisch verfaßten Bund deutscher Länder [1992] und für eine Schulreform in Nordrhein-Westfalen [1992]). Die größte Einzeldemonstration mit einer knappen Million Teilnehmern fand am 4. November 1989 in Ost-Berlin statt; sie richtete sich gegen den Führungsanspruch der SED und zielte auf die Erlangung/Ausweitung von Bürgerrechten in der DDR. Bemerkenswert ist auch die Größe der 1. Mai-Kundgebungen bis in die frühen sechziger Jahre. Hierbei wurden allein in W est­

Berlin mit 750.000 Teilnehmern (1960) bzw. 660.000 (1953) Teilnehmern Größenordnungen erreicht, die ein Vielfaches der größten Einzelkundgebungen darstellen, die zu gleichem An­

laß in den nachfolgenden Perioden stattfanden. Diese Zahlen machen auch deutlich, daß die eingangs erwähnten Superlative, die die Berichterstattung über die jüngste Demonstration gegen die Bonner Sparvorhaben prägten ("größte Gewerkschaftsdemonstration seit 1945",

"größte Protestaktion in der Geschichte der Bundesrepublik"), nicht angemessen sind.

Was die ideologische Ausrichtung von Protestgruppen bzw. Protestanliegen angeht, so zeigt sich ein deutliches Übergewicht von 47 linksorientierten Protesten. Ilmen stehen 23 rechte Proteste und acht ideologisch heterogene bzw. nicht auf der Links-Rechts-Achse be­

stimmbare Proteste gegenüber (z. B. Forderungen der Kriegsheimkehrer). Berücksichtigt man jedoch, daß 22 von den 23 rechten Massenprotesten auf das Konto von Vertriebenenverbän- den gehen, kann jenseits dieser Besonderheit nicht von einer relevanten rechten M assenmobi­

lisierung in der Bundesrepublik die Rede sein.

Aus den oben genannten Beispielen wird bereits im Ansatz die Heterogenität der themati­

schen Schwerpunkte deutlich. Zum Teil spiegeln sich darin Konfliktstoffe, die auch die par­

lamentarische Auseinandersetzung seit Bestehen der Bundesrepublik geprägt haben.

Zur Illustration werden nachfolgend für einige der 89 Massenproteste der Beginn des Pro­

testereignisses, der zusätzlich zu allen speziellen Informationen von den Codierern notierte

"Kurztitel" sowie - in Klammern - die Teilnehmerzahl aufgelistet:

27.7.1950: Einstündiger Warnstreik in Köln gegen die Preispolitik der Bundesregierung (180.000)

13.5.1951: Kundgebung für Rückkehr in die ehemals deutschen Gebiete jenseits von Oder und Neiße sowie für gerechten Lastenausgleich von Mitgliedern der pommerschen Lands­

mannschaft und Polen-Deutscher in Hannover (107.000)

15.1.1955: Resolution der DGB-Landeskonferenz gegen Wiederaufrüstung der Bundesrepu­

blik, gegen Ratifizierung der Pariser Verträge, für Ausschöpfung friedlicher Verhandlungs­

möglichkeiten zwischen Ost und West in München und Beschluß eines Volksbegehrens (900.000)

18.6.1955: Internationales Kriegsheimkehrer-Treffen in Hannover für angemessene materielle und soziale Versorgung der Kriegsopfer (125.000)

2.10.1966: Volksbegehren zur Einführung der Briefwahl in Hessen für die Kommunal- und Landtagswahlen durch CDU und FDP (187.000)

16.3.1979: Bittschrift von Tierversuchsgegnern an das Bundesfamilienministerium in Bonn und Autokorso gegen Versuche am lebenden Tier und gegen Chemiegesetzentwurf (160.000)

(22)

3.5.1981: Unterschriftensammlung fur die Einleitung eines Volksbegehrens gegen den Bau der Startbahn West des Frankfurter Flughafens (220.765)

14.11.1981 D em onstration in Wiesbaden gegen den Bau der Startbahn West des Frankfurter Flughafens (105.000)

13.12.1985: Sammlung und Übergabe von Klageanträgen gegen das Förderstufenabschlußge­

setz durch die "Bürgeraktion Freie Schulwahl" in Wiesbaden (180.000)

15.5.1989: Petition "Remscheider Mahnung" der Friedensinitiative Remscheid an den Bun­

destag gegen Tiefflüge (165.000)

6.11.1989: Demonstrationszug und Kundgebung von Bürgern in Dresden für demokratische Reformen, freie Wahlen, Reisefreiheit und Rücktritt der DDR-Regierung (231.500)

14.11.1992: Sternmarsch mit Kundgebung in Bonn für den Erhalt der Asylgesetzgebung so­

wie gegen Fremdenfeindlichkeit und Rechtsradikalismus (165.000).

Im Zeitverlauf ergeben sich markante Verschiebungen der thematischen Schwerpunkte. In den fünfziger und frühen sechziger Jahren dominieren Proteste, die sich an Folgen und Lasten des Krieges und an politischen Grundsatzentscheidungen entzünden (Vertriebene, Kriegsop­

fer, Kriegsheimkehrer, deutsche Teilung, Wiederbewaffnung). Die Studentenbewegung und Neue Linke sind beim derzeitigen Stand der Codierung (es fehlen die Werktagproteste jeder vierten Woche von 1961-1978) mit keinem einzigen Massenprotest vertreten. Ab den späten siebziger Jahren schieben sich die Themen der neuen sozialen Bewegungen und insbesondere der Friedensbewegung in den Vordergrund. 1989/90 überwiegen die Massenproteste im Zei­

chen der "Wende" in der DDR. Die acht Massenproteste in der zweiten Jahreshälfte 1992 richten sich ausschließlich gegen Rechtsradikalismus und Ausländerfeindlichkeit. Dagegen mobilisierten alle rechtsradikalen Proteste der Jahre 1990 bis 1992 zusammengenommen nur wenige zehntausend Teilnehmer, wie an anderer Stelle vorgelegte Analysen zeigen (Koopmans/Rucht 1996; Rucht 1996). Proteste, die eine Verbesserung der Situation von Ar­

beitnehmern zum Inhalt haben, streuen relativ gleichmäßig, wenngleich dünn über den gesam­

ten Betrachtungszeitraum. Markante und hart umkämpfte Entscheidungen wie die Einführung der Notstandsgesetze oder die Reform des Abtreibungsrechts spiegeln sich nicht in den bis­

lang registrierten Massenprotesten.

Bei der Betrachtung der organisatorischen Träger von Massenprotesten überrascht der Be­

fund, daß die Vertriebenenverbände mit 22 Protesten am stärksten vertreten sind. Es folgen die Gewerkschaften (17), (informelle) Bürgergruppen (16), Friedensgruppen/-verbände (11), breite Bündnisse diverser Gruppen (9), Kriegsopfer- und Heimkehrerverbände (6), Umwelt- schutzverbände/-gruppen (3) und sonstige Verbände (3). Kirchen und konservative Parteien sind m it je einem Massenprotest vertreten.

2. Mit Blick auf den Entscheidungsbezug von Massenprotesten wurde unter anderem eine Kategorisierung danach vorgenommen, ob die Proteste eine anstehende bzw. angekündigte politische Entscheidung beeinflussen wollen, ob sie auf eine bereits getroffene Entscheidung reagieren oder keinen direkten Entscheidungsbezug aufweisen, jedoch ein Thema oder Anlie­

(23)

gen zunächst auf die politische Agenda bringen und vielleicht auf diesem Wege erst entschei­

dungsrelevant machen wollen.25

In der eingangs formulierten ersten Hypothese wird unterstellt, daß Großproteste vor allem stattfinden, um ein bislang vernachlässigtes Thema auf die politische Agenda zu setzen oder eine unmittelbar anstehende Entscheidung proaktiv zu beeinflussen. Eine agendabildende Absicht von Massenprotesten liegt in mehr als zwei Dritteln der Massenproteste vor (60 von 89 Fällen). Allerdings wird der zweite Teil der Hypothese nicht bestätigt. Von den 29 M as­

senprotesten, für die ein direkter Entscheidungsbezug festzustellen war, wurden weitaus mehr, nämlich 21, in Reaktion auf politische Entscheidungen durchgeführt26, anstatt diese im Vor­

feld zu beeinflussen (8 Fälle). Entscheidungsbezogene Massenproteste erweisen sich somit eher als nachträgliche Korrekturversuche und gelten den Beteiligten offenbar nicht als aus­

sichtslos. Allerdings ist nicht auszuschließen, daß diesen Massenprotesten, die in Reaktion auf politische Entscheidungen stattfmden, eine vielleicht sogar große Zahl kleinerer Protestaktio­

nen im Vorfeld der Entscheidung vorausgegangen ist. Gerade die im Entscheidungsergebnis sichtbar gewordene Erfolglosigkeit kleiner Aktionen könnte zu um so größeren Mobilisie­

rungsanstrengungen geführt haben.

In der zweiten Hypothese wurde angenommen, daß Massenproteste am ehesten dann zu­

stande kommen, wenn grundlegende materielle bzw. existentielle Lebensbedingungen auf dem Spiel stehen oder es um grundsätzliche politische Richtungs- und Rahmenfestlegungen geht. Dagegen wurden kaum Massenproteste erwartet, in denen sich Menschen zum Anwalt anderer machen. Um diese Hypothese zu prüfen, wurde zusätzlich zu den in Tabelle 3 aus­

gewiesenen Themenfeldern eine formale Kategorisierung der Art des Anliegens von Massen­

protesten vorgenommen. Wie Tabelle 7 zeigt, wird die Hypothese tendenziell bestätigt. Es dominieren Fragen der politischen und territorialen Ordnung mit einem Anteil von zusammen rund zwei Dritteln. Das hohe Gewicht von territorialen Fragen ist ein spezifisch deutsches Phänomen, das mit der deutsch-deutschen Vereinigung seine Bedeutung verloren haben dürf­

te. Advokatorische Proteste sind mit immerhin 13,5 Prozent vertreten und übertreffen damit bei weitem die Massenproteste gegen Infrastrukturprojekte und zur Erhaltung der natürlichen Umwelt. Im Gesamtbild zeigt sich, daß Massenproteste nicht überwiegend dann stattfinden, wenn es um individuelle Güter bzw. selektive Anreize geht. Dies steht im Widerspruch zu den eingangs erwähnten Annahmen zur Logik kollektiven Handelns. Damit schwer vereinbar ist auch - jenseits des jeweiligen Anliegens - die Tatsache, daß Massenproteste überhaupt in grö­

ßerer Zahl zustande kommen. Ganz offensichtlich werden in vielen Fällen die Kosten-Nutzen­

Kalküle, die Theorien rationalen Handelns unterstellen, von anderen und stärkeren Motiven bzw. Anreizen überlagert. Anstatt auf die Teilnahme an einem ohnehin stattfindenden Groß­

protest zu verzichten und die Rolle des "free rider" einzunehmen, scheint für viele Individuen gerade die Erwartung eines Groß- oder gar Massenprotests ein starkes Beteiligungsmotiv dar­

zustellen - sei es, weil gerade in diesen Protesten besonders "triftige" oder "betroffen machen­

de" Themen zur Geltung kommen; sei es, weil im sozialen Umfeld ein höherer Erwartungs­

druck besteht, oder sei es, weil der Massenprotest einen besonderen Erlebniswert verspricht.

(24)

Die Tatsache, daß politische Entscheidungen von grundsätzlicher politischer Bedeutung zumeist auf höheren politischen Ebenen fallen, manifestiert sich in der Verteilung der 29 ent­

scheidungsbezogenen Massenproteste. Zehn von ihnen betreffen Kompetenzen des Bundes und weitere zehn internationale Angelegenheiten (zum Teil wiederum unter Einschluß des Bundes). Acht Massenproteste berühren landespolitische Entscheidungen (einschließlich Stadtstaaten) und nur ein Protest betrifft ein lokales Problem.27

Tabelle 7: Art des Anliegens von Massenprotesten Absolut Prozent

Politische Ordnung 31 34,8

Territoriale Ordnung 29 32,6

Ökonomische Verteilung 12 13,5

Anwalt für andere 12 13,5

Infrastruktur/Lebensqualität 5 5,6

Gesamt 89 100,0

Unterscheidet man - überwiegend quer zu den in Tabelle 7 ausgewiesenen Kategorien - nach dem sicherlich nicht immer trennscharfen Kriterium des erhofften Individual- und/oder Kollektivnutzens, so zeigt sich ein deutliches Übergewicht von Protestanliegen, in denen bei­

de Nutzarten untrennbar miteinander verbunden sind (50 von 89 Fällen). Typisch dafür sind etwa Forderungen der Vertriebenen nach Rückkehr in ihre Heimat, bei denen es meist nicht nur um immaterielle Werte, sondern auch um die Wiedergewinnung verlorener dinglicher Güter geht. Das Übergewicht von Massenprotesten, in denen sich individuelle und kollektive Nutzenerwartungen verbinden, erscheint auch theoretisch plausibel. So bestehen einerseits selektive Anreize zum Protest und insofern die Wahrscheinlichkeit hoher Beteiligung; ande­

rerseits erscheint der Protest zugunsten von Kollektivgütern als besonders legitim, was eben­

falls seine Attraktivität erhöhen dürfte.

Die dritte Hypothese besagte, daß irreversible Entscheidungen eher Massenproteste auf sich ziehen als reversible Entscheidungen. Da die Verteilung von diesen Entscheidungstypen für alle Proteste unbekannt ist, kann die Hypothese nicht in striktem Sinne überprüft werden.

Generell ist anzunehmen, daß es nur bei einem extrem kleinen Teil der Entscheidungen, die überhaupt Proteste (gleich welcher Größenordnung) auf sich ziehen, um irreversible Entschei­

dungen geht. Von den 29 Massenprotesten, die direkt auf Entscheidungen abzielen, sind sechs Entscheidungen nicht oder nur äußerst schwer reversibel. Vermutlich ist dieser Anteil in Re­

lation zum entsprechenden Anteil aller Proteste überproportional hoch. Sollte dies zutreffen, kann die in Frage stehende Hypothese eher als bestätigt denn als widerlegt gelten.

Mit der vierten Hypothese wurde angenommen, daß Massenproteste dann bevorzugt zu­

stande kommen, wenn (a) bei getroffenen oder anstehenden Entscheidungen Meinungsver­

schiedenheiten zwischen etablierten Entscheidungsträgem in Parlament und/oder Regierung

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