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Der Begriff der öffentlichen Meinung

Soziale Positionierung und politische Kommunikation am Beispiel der öffentlichen Debatte über Abtreibung

3. Bilanz der Ergebnisse und die Formulierung einer alternativen Erklärung

2.1 Der Begriff der öffentlichen Meinung

In den liberalen Demokratien der modernen Gesellschaften konkretisiert sich das Prinzip der Volkssouveränität auf einer formalen Ebene in der Besetzung der Entscheidungspositio­

nen durch das Wählervotum in kompetitiven Wahlen und auf einer inhaltlichen Ebene in der Responsivität der selektierten Entscheidungsträger gegenüber der öffentlichen Meinung. Be­

züglich dieses Stellenwertes der öffentlichen Meinung in den demokratischen Prozessen be­

steht eine weitgehende Übereinstimmung. Um so erstaunlicher ist deshalb die Unklarheit dar­

über, was öffentliche Meinung denn eigentlich sei. So beginnen fast alle Analysen, die mit diesem Begriff arbeiten, mit der Feststellung, daß es sich um einen vieldeutigen, schillernden oder sogar mysteriösen Terminus handle. Sie machen in der Regel dann einen Vorschlag, was ihrem Verständnis nach öffentliche Meinung denn wirklich sei, fügen damit aber der Vieldeu­

tigkeit häufig nur eine weitere Komponente hinzu. Es muß demnach ein anderer Weg gefun­

den werden, um aus diesem Dilemma herauszukommen. Bevor wir darauf eingehen, ist es notwendig, das Dilemma selbst, d. h. die Vieldeutigkeit des Begriffs der öffentlichen M ei­

nung, zu skizzieren. Dabei soll nicht noch einmal die Geschichte des Begriffes ausgebreitet, sondern lediglich versucht werden, die unterschiedlichen Bedeutungen etwas zu systematisie­

ren, die sich in der aktuellen Begriffsverwendung auffinden lassen.

Wir beginnen mit einer Exploration des semantischen Feldes des Begriffs und knüpfen da­

bei an seine beiden Bestandteile an. Eine Meinung setzt einen Gegenstand voraus, über den man sich eine Meinung bildet. Im Kontext des politischen Systems sind die wichtigsten Ge­

genstände politische Themen und politische Akteure. Eine Meinung zu Themen und Akteuren kann auf zwei ganz unterschiedliche Weisen geäußert werden. Erstens durch eine allgemeine Bewertung im Sinne von gut/schlecht, richtig/falsch, stark/ schwach etc. Zweitens durch eine inhaltliche Präferenz, die mit einem Thema oder mit programmatischen Positionen der Akteu­

re verbunden ist. Eine solche inhaltliche Präferenz kann dann ihrerseits wieder im erwähnten Sinne bewertet werden und erfährt auf diese Weise eine Art Gewichtung oder bekommt eine Intensität. Diese beiden Bedeutungen von Meinung im Sinne einer allgemeinen Bewertung eines Objektes oder einer Präferenz für eine von mehreren konkurrierenden Alternativen sind die naheliegenden, und dementsprechend wird der Begriff in der Regel auch verwendet. Im

Rahmen der Massenkommunikationsforschung hat sich eine dritte Bedeutung herausgebildet, die sich vor allem auf das Thema und weniger auf die Meinung dazu bezieht. Es kann als ei­

nes der gesicherten Ergebnisse der Massenkommunikationsforschung gelten, daß die in den Massenmedien diskutierten Themen einen mehr oder weniger großen Effekt auf die Themen haben, die die Bürger auch tatsächlich diskutieren (Rogers/Dearing 1988). Die Agenda- Setting-Funktion der Massenmedien ist für die Meinungsbildung insofern relevant, als von der Themensetzung prägende Wirkungen auf die Einstellungen der Bürger zu politischen Themen und politischen Akteuren ausgehen (Iyengar/Kinder 1987).

Etwas komplexer stellt sich das semantische Feld des Bestandteils öffentlich im Begriff der öffentlichen Meinung dar. Eine sinnvolle Annäherung kann über die Heranziehung des Ge­

genbegriffs "privat" erfolgen (Luhmann 1970; Peters 1994). Mit der binären Unterscheidung öffentlich/privat ist die Vorstellung eines Heraustretens aus dem privaten Raum und eines Hineintretens in einen öffentlichen Raum verbunden, wenn von öffentlicher Meinung die Re­

de ist. Was aber sind der private und der öffentliche Raum? Hinsichtlich des privaten Raums lassen sich zwei Varianten unterscheiden. Zum einen kann privat als das begriffen werden, was lediglich im Bewußtsein eines Individuums vorkommt und nicht in Kommunikationen zwischen Individuen überführt wird (Luhmann 1984, S. 142 f., 239 f.); der private Raum ist in diesem Sinne der Raum des eigenen Bewußtseins. Zum anderen kann privat als das begriffen werden, was. in der primären Lebenswelt der eigenen Familie (und eventuell auch der Freun­

de) verbleibt; dementsprechend stellt diese primäre Lebenswelt den privaten Raum dar. Aus diesen Bestimmungen des Privaten ergibt sich die Definition des Öffentlichen: Eine Mei­

nungsäußerung ist dann öffentlich, wenn sie vor anderen, d. h. vor einem Publikum, erfolgt.

Ausgehend von der engeren Fassung des Privaten, zählt zu diesem Publikum jeder andere;

ausgehend von der weiteren Fassung, gehören zu dem Publikum lediglich unvertraute oder unbekannte andere. Vor allem bei letzterer Definition stellt sich die Frage, wo die Orte des Öffentlichen sind, die den Raum der Kommunikation in der Wirklichkeit erst bilden. Neid­

hardt (1994, S. 7) bezeichnet diese Orte mit der Metapher des Forums, wonach Sprecher in einer Arena etwas vor einem Publikum in einer dazugehörigen Galerie äußern. Diese Meta­

pher ist aber noch keine Beschreibung realer Orte, sondern lediglich eine Heuristik, diese auf­

zufinden. Solche realen Orte können Plätze, Hallen oder auch Straßen sein, die eher "kleine Öffentlichkeiten" konstituieren, oder aber die Massenmedien, bei denen dann von "großen Öffentlichkeiten" gesprochen werden kann (Gerhards 1993, S. 33 f.; Neidhardt 1994, S. 10).

Diese Differenz von kleinen und großen Öffentlichkeiten wird zwar an der Größe des Raumes festgemacht, sie steht aber in einer eindeutigen Beziehung zu der Menge von Perso­

nen, vor denen und zwischen denen Kommunikation in diesem Raum stattfinden kann. Damit ist neben der Distinktion von öffentlich/privat eine zweite Bedeutungsdimension des Öffentli­

chen im Begriff der öffentlichen Meinung angesprochen: die Größe des Publikums, das sich in dem jeweiligen öffentlichen Raum zusammenfindet und sich eine Meinung zu einem The­

ma oder einem Akteur bildet. Ab welcher Größenordnung sind in einem öffentlichen Raum geäußerte Meinungen aber eine öffentliche Meinung: wenn alle - oder zumindest fast alle - sie

teilen? Wenn eine Mehrheit sie teilt? Oder ist jede öffentlich kommunizierte Meinung eine öffentliche Meinung, die dann immer nur in einer Pluralität auftritt? Da es an dieser Stelle lediglich um die Deskription der Vieldeutigkeit öffentlicher Meinung geht, muß diese Frage hier nicht entschieden werden.

Während sich die beiden bisher erläuterten Bedeutungsdimensionen von öffentlicher Mei­

nung auf die quantitativen Aspekte der Größe des öffentlichen Raums, in dem Meinungen kommuniziert werden,' und der Menge von Personen, die diese Meinungen teilen, beziehen, verweist eine dritte auf die Qualität der öffentlichen Meinung. Wenn also einmal von der Fra­

ge abgesehen wird, wie viele Bürger eine Meinung teilen müssen, damit diese als öffentliche Meinung gelten kann, und in welchem öffentlichen Raum die Meinungsbildung stattfindet, rückt diese qualitative Bedeutung die Art und Weise des Zustandekommens von öffentlicher Meinung in den Blickpunkt. Nicht alle öffentlich geäußerten Meinungen können aus dieser normativen Perspektive als öffentliche Meinung bestimmt werden, sondern nur diejenigen, die das Ergebnis öffentlicher Diskurse sind (Habermas 1962). Erst eine diskursiv zustande ge­

kommene öffentliche Meinung kann im Unterschied zu einer zufällig bestehenden Meinungs­

konstellation als eine legitime öffentliche Meinung der Bürger zu einer öffentlichen Angele­

genheit begriffen werden.

Diese drei Bedeutungsdimensionen öffentlicher Meinung mit ihren jeweils unterschiedli­3 chen Bedeutungsausprägungen können in vielfältiger Weise kombiniert werden. In der wis­

senschaftlichen Diskussion haben sich aber drei dominante Varianten herausgebildet, die je ­ weils unterschiedliche Bedeutungsaspekte betonen. Als erste - und im anglo-amerikanischen Sprachraum vorherrschende - Variante ist das Verständnis von öffentlicher Meinung als Ag­

gregation von Individualmeinungen zu nennen, d. h. eine statistisch ermittelbare Verteilung der Einstellungen von Bürgern zu einem bestimmten Objekt (Themen, Akteure). Dieses Ver­

ständnis wird in der Definition von Fünfter (1995, S. 1027) sehr deutlich:

"[Public opinion are] the political values, attitudes, or opinions of the general public of a country or other political unit, usually understood to include voting patterns or other political behavior ... In the light of the central importance o f ’the people' in democracy, the ... public opinion and its influence on political decisions must be considered in evaluating the extent of democracy in any political sy­

stem."

Diese Definition von öffentlicher Meinung bezieht sich - unter Verweis auf das Prinzip der Volkssouveränität - lediglich auf die Gesamtheit der Bürger einer gegebenen Demokratie.

Dabei interessiert zunächst einmal nicht, ob die Meinung der jeweils einzelnen Bürger zu ir­

gendeinem Zeitpunkt in einem öffentlichen Raum kommuniziert wurde, d. h. über das Be­

wußtsein der Bürger hinausgegangen ist, sondern nur, welche Meinungen die Mitglieder der politischen Gemeinschaft zu einem gegebenen Zeitpunkt haben. Die vom unmittelbaren Wortsinn her naheliegende Distinktion von öffentlich/privat spielt bei diesem Begriff keine Rolle. Dieses Verständnis öffentlicher Meinung ist in den US-amerikanischen Sozialwissen­

schaften offenbar so dominant, daß es häufig nicht mehr eigens expliziert wird, sondern die

Ausgangsprämisse für weitere Analysen bildet (Converse 1987; Jacobs/Shapiro 1994; Steiner 1994; Zaller 1994).

Von dieser Variante öffentlicher Meinung grenzt sich das Verständnis von Gerhards (1993, S. 25) und Neidhardt (1994, S. 26) ab, die postulieren, daß die aggregierten Individualmei­

nungen gerade nicht öffentliche Meinung seien. Beide Autoren können sich dabei auf theore­

tische Überlegungen von Luhmann (1990, S. 172) stützen, der das Bewußtsein von Individuen scharf absetzt von einer Kommunikation zwischen Individuen und öffentliche Meinung nur auf letzteres bezieht. Für Gerhards und Neidhardt ist der primäre Referenzpunkt in dem kom­

plexen semantischen Feld des Begriffs also die Distinktion von öffentlich/privat. Öffentliche Meinung ist bei ihnen damit auf Themen und Meinungen zu Themen beschränkt, die in einem öffentlichen Raum kommuniziert werden. Hinsichtlich des öffentlichen Raums, in dem kom­

muniziert wird, schlagen sie eine differenzierte Konstellation von Orten vor (Gerhards/Neidhardt 1990, S. 19 ff), fokussieren ihre Analysen aber letztlich doch weitge­

hend auf massenmedial vermittelte Kommunikationen. Beide Autoren begründen die Rele­

vanz der Analyse öffentlicher Meinung zunächst mit der Bedeutung, die sie im demokrati­

schen Prozeß hat und dabei vor allem in dem Einfluß auf das Handeln der politischen Akteure im Entscheidungssystem. In Anlehnung an Noelle-Neumann (1979) nehmen sie bei ihrer weiteren Begründung des Stellenwertes öffentlicher Meinung dann eine folgenreiche Zuspit­

zung vor. Danach ist ein Einfluß der öffentlich kommunizierten Meinungen auf das Entschei­

dungssystem nur dann wahrscheinlich, wenn sich diese zu einer relativ einheitlichen öffentli­

chen Meinung verdichten (Gerhards 1993, S. 11, 24 f.) oder aber zu einer Konsonanz der ver­

öffentlichten Meinung (Neidhardt 1994, S. 26) führen. Diese systematische Unterscheidung zwischen den vielfältigen veröffentlichten Meinungen zu einem Thema und einer einheitli­

chen öffentlichen Meinung dazu ist einerseits sinnvoll; andererseits aber stellen beide Autoren fest, daß es nur in seltenen Fällen zu einer solchen Verdichtung oder Konsonanz kommt. Dies wirft dann das Folgeproblem auf, daß öffentliche Meinung eben auch nur in seltenen Fällen eine Rolle im demokratischen Prozeß spielen kann, und das wiederum entspricht offenkundig nicht der politischen Wirklichkeit.

Eine dritte Variante des Verständnisses von öffentlicher Meinung in der wissenschaftlichen Diskussion stellt die Qualität der öffentlichen Meinung in den Vordergrund. Es ist ein norma­

tiver Begriff der öffentlichen Meinung, der in der Demokratietheorie eine lange Tradition hat und in jüngster Zeit von Habermas (1992) in einen umfassenden demokratietheoretischen Kontext eingearbeitet wurde. Peters (1994) hat diese Perspektive in einer etwas engeren Blickrichtung, die au f den Begriff selbst fokussiert ist, noch einmal aufgegriffen. Öffentliche Meinung ist diesem normativen Begriff zufolge eine "anspruchsvolle" öffentliche Meinung, die aus öffentlichen Diskursen hervorgeht und deshalb Vernünftigkeit und Legitimität bean­

spruchen kann (Peters 1994, S. 47). Da unsere Analyse vor allem in deskriptiver Absicht er­

folgt, kann dieser Begriff der öffentlichen Meinung in unserem Kontext etwas zurücktreten.

Wir kommen au f ihn aber bei der empirischen Darstellung des Verständnisses öffentlicher Meinung im Regierungssystem sowie in den Schlußfolgerungen noch einmal zurück.

Als wichtigstes Ergebnis der Exploration des semantischen Begriffsfeldes von öffentlicher Meinung und der Darstellung der dominanten Verständnisvarianten der öffentlichen Meinung in der wissenschaftlichen Diskussion ist die Vielzahl von Sachverhalten bzw. von Bezeichne­

tem hervorzuheben, die in unterschiedlichen Bündelungen mit der identischen Bezeichnung (öffentliche Meinung) versehen werden. Um aus diesem Vieldeutigkeitsdilemma herauszu­

kommen, gibt es mindestens drei Strategien:

1. Man schafft für unterschiedliche Sachverhalte unterschiedliche Begriffe und konstru­

iert auf diese Weise größere Eindeutigkeiten zwischen Bezeichnetem und Bezeichnung.

2. Man reklamiert nur einen der vielfältigen Sachverhalte als die angemessene Zuord­

nung zu der Bezeichnung und nimmt das als die "eigentliche" öffentliche Meinung an.

3. Man geht davon aus, daß es faktisch mehrere Sachverhalte gibt, die mit dem Begriff verbunden werden, und gibt dann genau an, für welchen Sachverhalt aus welchem Grunde man die Bezeichnung öffentliche Meinung wählt.

Die ersten beiden Strategien scheinen uns wenig aussichtsreich zu sein. Der Begriff der öf- . 4 .

fentlichen Meinung ist ein historisch gewachsener Terminus. Dies macht einerseits seine Bedeutungskomplexität aus, erschwert andererseits aber auch eine Begrenzung dieser Mehr­

deutigkeit, weil sie sowohl in der alltäglichen als auch in der wissenschaftlichen Kommuni­

kation viel zu eingespielt ist. Die Lösung des Begriffsproblems kann unseres Erachtens nur in der dritten Alternative liegen, d. h. in der Explikation des eigenen Analysekontextes, in dem öffentliche Meinung eine Rolle spielt, und in der Erläuterung des Verständnisses von öffentli­

cher Meinung für diesen Kontext. Dies wird im folgenden durch die Diskussion der spezifi­

schen Rationalität des Regierungssystems und seiner von dorther gesteuerten Kommunikation mit der Umwelt versucht.