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Überprüfung der Hypothesen

Soziale Positionierung und politische Kommunikation am Beispiel der öffentlichen Debatte über Abtreibung

3. Empirische Analyse

3.2 Überprüfung der Hypothesen

Das Verständnis von öffentlicher Meinung im Regierungssystem

Die empirische Überprüfung der im Abschnitt 2.4 aufgeführten Hypothesen erfolgt in der dort vorgenommenen Reihenfolge. Es wird deshalb mit dem Verständnis von öffentlicher Meinung im Regierungssystem begonnen. Die in Tabelle 1 dargestellten empirischen Ergeb­

nisse beziehen sich au f die Hypothesen 1 und 2. Die Prozentuierungsbasis aller in Tabelle 1 unterschiedenen Kategorien, d. h. der kursiv markierten Oberkategorien und der jeweils drei

Unterkategorien bei Bürgermeinungen und Medienmeinungen, sind die 38 Befragten. Um auch komplexere Verständnisweisen öffentlicher Meinung erfassen zu können, werden Mehr­

fachnennungen einzelner Befragter zugelassen.

Tabelle 1: Das Verständnis von öffentlicher Meinung im Regierungssystem In Prozent* (Befragte)

Bürgermeinungen 76 (29)

darunter:

- allgemeine Bezugnahme auf die Meinungen der Bürger 40 (15)

- Mehrheitsmeinung unter den Bürgern 37 (14)

- Meinung der Meinungsführer unter den Bürgern 8 (3)

Medienmeinungen 76 (29)

darunter:

- allgemeine Bezugnahme auf die Meinung der Medien 68 (26)

- Mehrheitsmeinung der Medien 8 (3)

- Meinungen der journalistischen Elite 5 (2)

Ergebnis von Diskussionen in der Öffentlichkeit 13 (5)

Diffuses Phänomen 3 (1)

Anderes Verständnis 3 (1)

* Die Prozentuäerungsbasis sind alle Befragten (N = 38). Mehrfachnennungen sind sowohl auf der Ebene der Oberkategorien (kursiv markiert) als auch auf der Ebene der Unterkategorien möglich.

In Hypothese 1 werden drei Sachverhalte postuliert: 1. Das Regierungssystem versteht un­

ter öffentlicher Meinung die aggregierten Meinungen der Bürger und die in den Massenmedi­

en kommunizierten Meinungen; 2. die aggregierten Bürgermeinungen haben eine relative Priorität vor den massenmedial kommunizierten Meinungen; 3. andere Verständnisweisen öffentlicher Meinung als die beiden genannten spielen im Regierungssystem keine Rolle.

Der erste Bestandteil von Hypothese 1 wird durch die Daten eindeutig bestätigt. 76 Prozent (n = 29) der 38 Befragten verstehen unter öffentlicher Meinung Bürgermeinungen; der gleiche Prozentsatz ergibt sich für Medienmeinungen. Negativ ausgedrückt, haben also nur neun Be­

fragte - und das sind 24 Prozent - nicht explizit Bürgermeinungen oder Medienmeinungen angegeben. Das bedeutet nicht notwendigerweise, daß sie dieses Verständnis auch nicht ha­

ben. Wie Tabelle 3 im nachfolgenden Abschnitt zeigt, geben 100 Prozent der Befragten an, daß sie die öffentliche Meinung durch Beobachtung der Massenmedien ermitteln, und 97 Pro­

zent tun dies durch demoskopische Erhebungen. Das macht in beiden Fällen aber nur dann Sinn, wenn man ein entsprechendes Verständnis von öffentlicher Meinung hat. Aus den em­

pirischen Ergebnissen ziehen wir also die Schlußfolgerung, daß praktisch alle Akteure unter öffentlicher Meinung sowohl Bürgermeinungen als auch Medienmeinungen verstehen.

Der zweite Teil von Hypothese 1 scheint durch die Daten hingegen nicht bestätigt zu wer­

den, da die Prozentsätze bei Bürgermeinungen und Medienmeinungen identisch sind. Eine relative Priorität der Bürgermeinungen läßt sich demzufolge also nicht ausmachen. Allerdings gab es in dem offen geführten Interview auch keinen Anlaß für die Befragten, sich dazu zu äußern. Wenn davon ausgegangen werden kann, daß die Befragten unter öffentlicher Meinung sowohl Bürger- als auch Medienmeinungen verstehen, dann hätte eine relative Priorität zu­

gunsten einer von beiden nur durch eine direkte Nachfrage ermittelt werden können. Dieser Bestandteil der Hypothese konnte also weder bestätigt noch widerlegt werden, sondern war mit den verfügbaren Daten schlicht nicht testbar.

Der dritte Bestandteil von Hypothese 1 ist eine negative Behauptung: Das Regierungssy­

stem versteht unter öffentlicher Meinung nichts anderes als Bürgermeinungen und Medien­

meinungen. Bei der Vercodung wurde versucht, jedes artikulierte Verständnis von öffentlicher Meinung zu erfassen. Wie die Ergebnisse in Tabelle 1 zeigen, ist in der Restkategorie "ande­

res Verständnis" nur ein Befragter enthalten, und als "diffuses Phänomen" wird öffentliche Meinung ebenfalls nur von einem Befragten begriffen. Demgegenüber bezeichnen fünf Be­

fragte öffentliche Meinung als ein "Ergebnis von Diskussionen in der Öffentlichkeit". Dieses dem diskursiven Begriff öffentlicher Meinung relativ nahekommendste Verständnis wird also von mehreren Befragten geäußert. Wenn man den entsprechenden Prozentsatz (13 Prozent!

aber mit dem für Bürger- und Medienmeinungen vergleicht, fällt er kaum ins Gewicht, zumal alle fünf Befragten unter öffentlicher Meinung auch Bürger- bzw. Medienmeinungen verste­

hen.

Hypothese 2 bezieht sich auf die Frage, wie die Meinungen bei den Bürgern und bei den massenmedialen Akteuren verteilt sein müssen, damit eine öffentliche Meinung vorliegt. Im Unterschied zu einer verbreiteten Vorstellung wird in der Hypothese behauptet, daß das Re­

gierungssystem infolge seiner spezifischen Handlungsrationalität unter öffentlicher Meinung nicht nur eine Meinungskonsonanz oder einen Meinungskonsens versteht, sondern jede Mei­

nungsverteilung zu einem politischen Thema oder einem politischen Akteur. Wie aus Tabelle 1 ersichtlich wird, verstehen 37 Prozent der Befragten unter öffentlicher Meinung eine Mehr­

heitsmeinung der Bürger und 8 Prozent eine Mehrheitsmeinung in den Medien, aber von Kon­

sens hat nur ein einziger Befragter gesprochen. Man könnte argumentieren, daß zwischen Mehrheit und Konsens nur ein gradueller Unterschied besteht und demgemäß zumindest die 37 Prozent, die sich auf eine Mehrheitsmeinung unter den Bürgern beziehen, gegen Hypothe­

se 2 sprechen. Zum einen bedeutet dieser Prozentsatz aber, daß es sich immer noch um eine Minderheit der Befragten handelt; zum anderen scheint uns zwischen einer Mehrheit und ei­

nem Konsens bzw. einem Beinahe-Konsens ein qualitativer Sprung zu liegen. Eine Gleichver­

teilung von Meinungen ist dagegen nur ein Ausnahmefall. Praktisch gibt es immer eine mehr oder weniger ausgeprägte Mehrheit, und das ist für das Regierungssystem in jedem Falle ein informativer Bezugspunkt, unabhängig davon, wie groß diese Mehrheit im einzelnen sein mag.

Die empirischen Ergebnisse zeigen, daß das Regierungssystem unter öffentlicher Meinung nicht eine Konsonanz bzw. einen Konsens der Meinungen versteht. Sie zeigen aber auch, daß öffentliche Meinung nicht auf das bezogen wird, was in öffentlichen Veranstaltungen oder in Protestaktionen der Bürger artikuliert wird. Kein einziger der Befragten hat ein derartiges Verständnis von öffentlicher Meinung geäußert. Bei der Frage der Ermittlung der öffentlichen Meinung spielen öffentliche Veranstaltungen demgegenüber jedoch eine gewisse Rolle (vgl.

nachfolgenden Abschnitt).

Es konnte gezeigt werden, daß in den Vorstellungsbildern der Akteure des Regierungssy­

stems öffentliche Meinungen als Bürgermeinungen und Medienmeinungen begriffen werden.

Beide Verständniskategorien stehen in diesen Vorstellungsbildern aber nicht unverbunden nebeneinander, sondern sind durch eine Beeinflussungsrelation miteinander verbunden. Ent­

sprechend Hypothese 3 geht dieser Einfluß vor allem von den Medienmeinungen auf die Bür­

germeinungen, während das Umgekehrte nicht in gleichem Maße zutrifft. Diese Hypothese wird durch die Daten in Tabelle 2 recht deutlich bestätigt. Immerhin sehen 89 Prozent der Befragten einen Einfluß der Medien auf die Bürger, und nur 29 Prozent gehen von einem ge­

genläufigen Effekt aus. Somit gibt es in den Vorstellungsbildern der Akteure eine Beeinflus­

sungsrelation zwischen beiden Kategorien öffentlicher Meinung, und diese ist im erwarteten Sinne extrem asymmetrisch.

Tabelle 2: Das Verhältnis von Bürgermeinungen und Medienmeinungen aus der Sicht des Regierungssystems

In Prozent* (Befragte) Medienmeinungen beeinflussen Bürgenneinungen 89 (34) Bürgermeinungen beeinflussen Medienmeinungen 29 (11)

* Die Prozentuierungsbasis sind alle Befragten (n = 38). Mehrfachnennungen sind möglich.

Insgesamt entspricht das empirisch ermittelte Verständnis von öffentlicher Meinung im Regierungssystem den theoretischen Erwartungen, die sich auf Annahmen über die spezifi­

sche Rationalität des Regierungssystems im allgemeinen und der im Regierungssystem aus­

differenzierten Öffentlichkeitsabteilungen im besonderen gründen. Es ist bemerkenswert, wie eindeutig nach Maßgabe dieser Rationalität die Komplexität des semantischen Raumes von öffentlicher Meinung reduziert wird: Vier Kategorien reichen aus, um das in den Interviews

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geäußerte Verständnis zu beschreiben , und unter diesen dominieren im Sinne der theoreti­

schen Erwartungen die Kategorien Bürgermeinungen und Medienmeinungen ganz eindeutig.

Beide sind wiederum im Vorstellungsbild der Akteure des Regierungssystems durch eine Einflußrelation von den Medienmeinungen auf die Bürgermeinungen verbunden.

Die Ermittlung öffentlicher Meinung durch das Regierungssystem

Die öffentliche Meinung kann nur in dem Maße eine Resonanz im Regierungssystem er­

zeugen, in dem sie von diesem auch tatsächlich beobachtet wird. Diese Beobachtung wird grundsätzlich durch die Konstruktion von öffentlicher Meinung bei den Akteuren des Regie­

rungssystems gesteuert, was nach unserer bisherigen Analyse bedeutet, daß vor allem die Bürgermeinungen und die Medienmeinungen beobachtet werden müssen. In welcher Weise sie beobachtet werden, hängt darüber hinaus auch von den technischen Beobachtungsmög­

lichkeiten und ihrer jeweiligen Effizienz ab. Als das effizienteste und zugleich verläßlichste Instrument zur Ermittlung der Bürgermeinungen wurden im theoretischen Teil demoskopi- sche Erhebungen angenommen, und dementsprechend wurde Hypothese 4 formuliert. Aus Tabelle 3 wird ersichtlich, daß 37 von 38 Befragten angegeben haben, daß demoskopische Erhebungen im Regierungssystem zur Ermittlung öffentlicher Meinung tatsächlich angewen­

det werden. Da sich demoskopische Erhebungen aber nur auf Bürgermeinungen beziehen können, macht dies zugleich deutlich, daß praktisch alle Befragten unter öffentlicher Meinung unter anderem Bürgermeinungen verstehen. Explizit ausgedrückt haben dies zwar nur 29 Be­

fragte (vgl. Tabelle 1), implizit läßt sich das aber aus diesem Ergebnis erschließen, wenn eine minimale kognitive Konsistenz unterstellt werden kann. Dasselbe gilt für die Massenmedien:

Nur 29 Befragte haben ausdrücklich angegeben, daß sie unter öffentlicher Meinung M edien­

meinungen verstehen (vgl. Tabelle 1), aber nach den Daten in Tabelle 3 wird aus Sicht aller 38 Befragten die öffentliche Meinung durch die Beobachtung der Massenmedien ermittelt.

Tabelle 3: Die Ermittlung öffentlicher Meinung durch das Regierungssystem In Prozent* (Befragte)

Demoskopische Erhebungen 97 (37)

darunter:

- allgemeine Bezugnahme auf demoskopische

Erhebungen 63 (24)

- eigene Erhebungen 32 (12)

- Erhebungen anderer Institutionen/

Organisationen 24 (9)

Beobachtungen der Massenmedien 100 (38)

darunter:

- allgemeine Bezugnahme auf Beobachtungen

der Massenmedien 26 (10)

- Beobachtungen der Printmedien 97 (37)

- Beobachtungen der elektronischen Medien 89 (34)

Kontakte mit Personen 74 (28)

darunter:

- Kontakte mit Bürgern 42 (16)

- Kontakte mit Politikern 37 (14)

- Kontakte mit Journalisten 26 (10)

Öffentliche Veranstaltungen 11 (4)

* Die Prozentuierungsbasis sind alle Befragten (n = 38). Mehrfachnennungen sind sowohl auf der Ebene der Oberkategorien (kursiv markiert) als auch auf der Ebene der Unterkategorien möglich.

Bei der Beobachtung der Medienmeinungen ergibt sich jedoch ein wesentlicher Unter­

schied gegenüber der Beobachtung der Bürgermeinungen. Im Bundespresseamt werden die Massenmedien zwar unter Verwendung moderner Techniken der Informationsverarbeitung beobachtet ; systematische Stichprobenziehungen und sinnvolle quantitative Auswertungen io sind aber - anders als bei demoskopischen Erhebungen - auf dieser Grundlage nicht möglich.

Viele der Befragten geben zudem an, daß ihre Beobachtungsweise der Massenmedien einfach in einer Kenntnisnahme bestimmter Zeitungen besteht, d. h. letztlich in einer Lektüre dieser Zeitungen. Als eine mehr oder weniger systematische Beobachtungsform der Massenmedien werden in den Interviews explizit nur regelmäßige Zusammenstellungen von Artikeln in Form von Pressespiegeln erwähnt. Insgesamt läßt sich also die Schlußfolgerung ziehen, daß das Regierungssystem die Massenmedien einerseits zwar kontinuierlich beobachtet, andererseits aber die Art dieser Beobachtung weniger professionell ist als die der Beobachtung der Bür­

germeinungen. Der Grund hierfür dürfte vor allem in dem einfachen Tatbestand liegen, daß die Wissenschaft zur Beobachtung der Massenmedien bislang keine Instrumente bereitstellen kann, die gleichermaßen effizient - im Sinne des Aufwandes an Zeit und Geld - und verläßlich - im Sinne der Generalisierbarkeit - sind wie die demoskopischen Erhebungen.

In Hypothese 5 wird den elektronischen Medien bei der Beobachtung der massenmedialen Meinungen aufgrund ihrer größeren Reichweite eine stärkere Bedeutung zugeschrieben als den Printmedien. Dies kann durch die Daten aber nicht bestätigt werden. Der größte Teil der Befragten beobachtet zwar die elektronischen Medien, gleichermaßen aber auch die Printme­

dien, wobei letztere sogar ein leichtes Übergewicht haben. Einer der Gründe für diesen relati­

ven Vorrang der Printmedien könnte in der technischen Verarbeitbarkeit der beobachteten Informationen liegen: Ein Pressespiegel aus Zeitungskommentaren ist beispielsweise leichter herzustellen und durch andere schneller zu registrieren als ein Videomitschnitt von Fernseh­

sendungen. Möglicherweise ist auch die Informationstiefe von Zeitungskommentaren für das Regierungssystem größer, so daß es hier instruktivere Informationen für seine Entscheidungs­

tätigkeit erhält. Die geringen Unterschiede zwischen dem Ausmaß der Beobachtung der elek­

tronischen Medien und dem der Printmedien sollten allerdings nicht überbewertet werden.

Das wichtigste Ergebnis in Tabelle 3 besteht unseres Erachtens darin, daß die Akteure des Regierungssystems beide Medien beobachten.

Noch nicht eingegangen wurde auf den zweiten Teil von Hypothese 4, in der "Kontakten mit Personen" sowie "öffentlichen Veranstaltungen" eine geringe Rolle bei der Beobachtung öffentlicher Meinung zugeschrieben wurde. Der Grund für diese Annahme liegt in der gerin­

gen Effizienz beider Beobachtungsformen, da sie sich immer nur auf einen ganz selektiven Ausschnitt d.er Bürger beziehen können. Nach Tabelle 3 wird dieser Teil der Hypothese für die "öffentlichen Veranstaltungen" weitgehend bestätigt, aber nicht für die "Kontakte mit Per­

sonen". Immerhin 74 Prozent (n = 28) der Befragten haben angegeben, Informationen über die öffentliche Meinung durch Kontakte mit Personen zu gewinnen. Die mehr oder weniger sy­

stematische Beobachtung der öffentlichen Meinung durch demoskopische Erhebungen und Beobachtungen der Massenmedien ersetzen diese direkten Kontakte mit Bürgern, Journalisten und Politikern offenbar nicht vollständig. Es hat den Anschein, daß diese beiden eher abstrak­

ten Ermittlungsmethoden durch solche intuitiv leichter zugänglichen direkten Kontakte er­

gänzt werden müssen. Zudem gehören Kontakte mit Politikern und Journalisten zu den Routi­

netätigkeiten der befragten Akteure, und die auf diese Weise indirekt gewonnenen Informa­

tionen über die öffentliche Meinung stellen deshalb kostenarme Zusatzgewinne dar.

Die Resonanz des Regierungssystems auf die öffentliche Meinung

Nachdem das Verständnis und die Ermittlung von öffentlicher Meinung durch das Regie­

rungssystem in den beiden vorangegangenen Abschnitten empirisch analysiert worden sind, steht eine entsprechende Analyse für die Resonanz des Regierungssystems auf die öffentliche Meinung noch aus. Diesbezüglich wurden zwei Hypothesen spezifiziert. Hypothese 6 behaup­

tet zwei unterschiedliche, aber gleichwohl aufeinander bezogene Resonanzformen, die beide der Rationalität des Regierungssystems entspringen. Erstens ist eine Responsivität auf die jeweils gegebene öffentliche Meinung im Interesse einer Wiederwahl der amtierenden Regie­

rung notwendig. Zweitens aber wird die öffentliche Meinung nicht nur als eine vorgegebene

Größe begriffen, sondern als etwas, was beeinflußt werden kann. Wenn man lediglich die ge­

neralisierte Handlungsrationalität des Regierungssystems und seine Autonomieerhöhung als Bezugspunkt nimmt, wäre es optimal, wenn die Responsivität des Regierungssystems sich auf eine öffentliche Meinung beziehen könnte, die es nach systemeigenen Kriterien selbst konsti­

tuiert hätte. Das ist natürlich in der realen Welt nicht zu verwirklichen, sondern stellt eine Art fiktionalen Fluchtpunkt dar, an dem sich das faktische Handeln orientieren kann. Eine unmit­

telbare und differenzierte Überprüfung dieser beschriebenen Rationalität ist mit den Daten nicht möglich, sondern lediglich eine Überprüfung der in Hypothese 6 enthaltenen Implika­

tionen, daß im Vorstellungsbild der Akteure des Regierungssystems sowohl die Responsivität als auch die Beeinflußbarkeit enthalten sind.

Tabelle 4: Die Resonanz des Regierungssystems auf die öffentliche Meinung In Prozent* (Befragte)

Responsivität 82 (31)

- auf Bürgermeinungen 50 (19)

- auf Medienmeinungen 50 (19)

Beeinflußbarkeit 74 (28)

- von Bürgermeinungen 47 (18)

- von Medienmeinungen 55 (21)

* Die Prozentuierungsbasis sind alle Befragten (n = 38). Mehrfachnennungen sind sowohl auf der Ebene der Oberkategorien (kursiv markiert) als auch auf der Ebene der Unterkategorien möglich.

Nach den in Tabelle 4 aufgeführten Ergebnissen haben 82 Prozent der Befragten angege­

ben, daß für das Entscheidungshandeln des Regierungssystems die öffentliche Meinung eine Rolle spielt und das Regierungssystem in diesem Sinne responsiv ist. Jeweils 50 Prozent der Befragten haben diesbezüglich die Bürgermeinungen und die Medienmeinungen explizit er­

wähnt. 74 Prozent der Befragten haben geäußert, daß die öffentliche Meinung durch das Re­

gierungssystem beeinflußt werden kann. 47 Prozent haben sich dabei ausdrücklich auf die Bürgermeinungen und 55 Prozent auf die Medienmeinungen bezogen. Zunächst fällt die rela­

tiv geringe Prozentsatzdifferenz zwischen Bürgermeinungen auf. Gleichzeitig ist die stärkere Betonung der Medienmeinungen plausibel, wenn man bedenkt, daß das Handlungsrepertoire der Öffentlichkeitsabteilungen des Regierungssystems zur direkten Beeinflussung der Bürger, d. h. unter Umgehung einer massenmedial vermittelten Kommunikation, sehr begrenzt ist. Es beschränkt sich weitgehend auf das Versenden von Broschüren, das Verteilen von Zeitungen zu Wahlkampfzeiten sowie das Anbringen von Plakaten und ähnliches. Ganz anders nehmen sich die Möglichkeiten der Medienbeeinflussung aus. Hier sind vor allem zwei Faktoren zu nennen. Erstens die professionellen Kontakte, die die Angehörigen der Öffentlichkeitsabtei­

lungen zwangsläufig mit Journalisten haben. Diese Kontakte bestehen unter anderem in stän­

digen Pressekonferenzen, in informellen Beziehungen und in der Weitergabe von Informatio­

nen an die Nachrichtenagenturen. Hinzu kommt ein zweiter Faktor, der mit der Besonderheit des Regierungssystems verbunden ist: Die Implementation von verbindlichen Entscheidungen für die Gesamtgesellschaft generiert fast automatisch einen Nachrichtenwertfaktor, der eine überproportionale Aufmerksamkeit der Massenmedien gewährleistet. Diese richtet sich so­

wohl auf die prominenten Inhaber von Entscheidungspositionen wie den Kanzler und die M i­

nister, aber auch auf die getroffenen Entscheidungen selbst. Beides kann in der Öffentlich­

keitsarbeit des Regierungssystems strategisch eingesetzt werden.

Angesichts dieser unterschiedlichen Möglichkeiten der Beeinflußbarkeit von Bürgermei­

nungen und Medienmeinungen ist die geringe Differenz zwischen beiden (vgl. Tabelle 4) eher überraschend. Allerdings ist das Meßinstrument nicht scharf genug - bzw. es wurde nicht so differenziert gefragt -, daß zwischen einer direkten Beeinflussung der Bürger und einer über die Massenmedien vermittelten Beeinflussung unterschieden werden kann. Wir gehen davon aus, daß eine Reihe von Befragten, die eine Beeinflußbarkeit entweder der Bürgermeinungen oder der Medienmeinungen geäußert haben, diese komplexere Einflußrelation, die über die Medienmeinungen auf die Bürgermeinungen verläuft, im Blick haben. Diese Vermutung wird durch das bereits erörterte Faktum gestützt, daß die überwiegende Mehrheit der Befragten annimmt, daß die Medien die Bürger beeinflussen (vgl. Tabelle 2).

Der letzte. Schritt der empirischen Analyse bezieht sich auf die Verwendung der beobachte­

ten öffentlichen Meinung innerhalb des Regierungssystems. Hierauf konzentriert sich Hypo­

these 7, in der unterstellt wird, daß die Responsivität des Regierungssystems gegenüber der öffentlichen Meinung primär zum Zwecke der Machterhaltung geschieht und weniger, um einer demokratischen Norm zu entsprechen. Anhand der Ergebnisse in Tabelle 5 wird ver­

sucht, diese Hypothese zu überprüfen.

Tabelle 5: Die Verwendung öffentlicher Meinung im Regierungssystem

In Prozent* (Befragte)

Machterhaltung 74 (28)

Politikgestaltung 100 (38)

Politikvermittlung 53 (20)

* Die Prozentuierungsbasis sind alle Befragten (N = 38). Mehrfachnennungen sind möglich.

Die Aussagen der Befragten zu diesem Thema können in drei theoretisch sinnvolle Kate­

gorien zusammengefaßt werden, und dementsprechend ist Tabelle 5 aufgebaut. Als Zweck der Beobachtung der öffentlichen Meinung für das Regierungssystem werden von den Befragten

"Machterhaltung", "Politikgestaltung" und "Politikvermittlung" angegeben. Im Unterschied zu den beiden ersten Kategorien wird das Wort "Machterhaltung" von den Befragten im Inter­

view nicht verwendet, sondern ist eine von uns gewählte Bezeichnung, um den Bezug zum

Regierungs/Oppositions-Code deutlich zu machen. Die Aussagen der Befragten selbst bezie­

hen sich vor allem auf Wahlen, und dies in der Regel in einer sehr allgemeinen Form. Daß es dabei um das Gewinnen von Wahlen geht - und damit um das Behalten des Regierungsamtes - , kann unseres Erachtens ohne allzu viel Spekulationen unterstellt werden, 28 von 38 Befrag­

ten (74 Prozent) haben Machterhaltung in dem beschriebenen indirekten Sinne als einen Be­

weggrund für die Beobachtung und Beeinflussung der öffentlichen Meinung durch das Regie­

rungssystem genannt. Insofern kann Hypothese 7 als bestätigt betrachtet werden. Aber noch mehr Befragte, oder genauer gesagt: alle Befragten, haben die Politikgestaltung als einen Verwendungszweck artikuliert. Politikgestaltung ist allerdings ein mehrdeutiger Begriff, der zwar auf die Machterhaltung bezogen werden kann, grundsätzlich aber auch auf die Erfüllung einer demokratischen Norm. Dasselbe gilt für die Politikvermittlung als dem dritten von den Befragten angegebenen Verwendungszweck für die beobachtete öffentliche Meinung. Es be­

steht aber auch kein Grund anzunehmen, daß in beiden Fällen gerade diese Normerfüllung gemeint ist, wenn einerseits keinerlei explizite Äußerungen dazu vorgenommen wurden, an­

dererseits aber Machterhaltung als Zweck sehr häufig erwähnt wurde.

Wir interpretieren die empirischen Ergebnisse, die in Tabelle 5 präsentiert werden, als eine Bestätigung von Hypothese 7, die dem instrumentellen Charakter der Beobachtung öffentli­

cher Meinung gegenüber dem normativen Postulat eine eindeutige Priorität gibt. Diese Inter­

pretation ist zum Teil durch die Daten in Tabelle 5 selbst gerechtfertigt, zum Teil aber auch durch das Gesamtmuster der gewonnenen empirischen Ergebnisse. A uf dieses Gesamtmuster sowie au f das Verhältnis des instrumenteilen und des normativen Aspektes bei der Beobach­

pretation ist zum Teil durch die Daten in Tabelle 5 selbst gerechtfertigt, zum Teil aber auch durch das Gesamtmuster der gewonnenen empirischen Ergebnisse. A uf dieses Gesamtmuster sowie au f das Verhältnis des instrumenteilen und des normativen Aspektes bei der Beobach­