Bedenkt man, daß es in den Auseinandersetzungen über Abtreibungsregelungen um die politische Regulierung eines Wertekonflikts ging und daß dabei moralisch nicht vermittelbare Positionen aufeinanderstießen, dann erscheint die deutsche Entwicklung der Konfliktverarbei
tung als außerordentlich. Daß ganz andere Entwicklungen möglich gewesen wären, demon
striert die hohe Militanz der amerikanischen Abtreibungskontroverse. Wir werden in unserem Vergleichsprojekt, sobald die amerikanischen Daten verfügbar sind, systematisch prüfen kön
nen, welche Bedingungen in den Jahren 1970 bis 1994 den Ausschlag für den sehr unter
schiedlichen Verlauf deutscher und amerikanischer Abtreibungskonflikte gaben. Schon jetzt aber lassen sich plausible Hypothesen über die Besonderheiten der deutschen Entwicklung aus unseren eigenen Daten ermitteln.
Was in der Öffentlichkeit wahrnehmbar wird, stammt von Sprechern, deren sozialer Status und Zusammenhang für die Art und die Entwicklung von Themen und Meinungen bestim mend sind (vgl. dazu ausführlich Gerhards in diesem Band). Die Tendenzen öffentlicher Mei
nungsbildung lassen sich ohne Kenntnis der sozialen Infrastruktur ihrer Produzenten nicht erklären. Wer mit welcher Prominenz und Reputation auftritt, aus welchen "Lagern" er stammt, welche Allianzen er vertritt, gegen welche Konkurrenten er seine Beiträge plaziert, welche Strategien ihm in diesen Konstellationen zur Verfügung stehen - all dies ist für eine soziologische Analyse sowohl öffentlicher Kommunikationen als auch politischer Entschei
dungen ein wichtiger Rohstoff. Er ist im Hinblick auf Grundfragestellungen unseres Beitrags auch deshalb wichtig, weil die hier zur Diskussion stehende Idee deliberativer Demokratie nicht nur impliziert, daß über öffentliche Angelegenheiten in hinreichendem Maße öffentliche Diskussionen stattfinden, sondern daß dabei mit einer Pluralität von Akteuren eine möglichst vielfältige Beteiligung der unterschiedlichsten gesellschaftlichen Gruppen und Meinungslager durchgesetzt wird. Nur dies gewährleistet einerseits die Chance auf die sachliche Vollständig
keit der Argumentationen und andererseits die Wahrscheinlichkeit einer sozial repräsentativen Vertretung der vorhandenen Überzeugungen und Interessen. Die darauf hin zu behandelnde Frage lautet also: In welchem Maße artikulierte sich in der öffentlichen Abtreibungskontro
verse eine breite Vielfalt von Sprechern der verschiedensten Ebenen und Lager - und wer wa
ren diese Akteure?
Tabelle 5 zeigt, daß die politischen Parteien die herausragenden Akteure öffentlicher Aus
einandersetzungen über Abtreibungsregelungen waren. Dies trifft vor allem für die CDU/CSU (27,5 Prozent), weniger deutlich, aber doch überdurchschnittlich auch für SPD (15,9 Prozent) und FDP (12,0 Prozent) zu. Dieser, zumindest im Vergleich zu den USA, spezifisch deutsche Ausdruck parteienstaatlicher Politikverfassung markiert - siehe unten - die entscheidende Verbindungslinie zwischen Öffentlichkeit und Politik. Er liefert allerdings auch Anhaltspunk
te für den vor allem von Jürgen Habermas systematisierten Argwohn gegen eine "vermachtete Öffentlichkeit", die den "zivilgesellschaftlichen" Akteuren gleichsam die Luft abdrückt (Habermas 1992, S. 429-467).
Tabelle 5: Akteure der öffentlichen Abtreibungsdiskussion mit dem Anteil ihrer Beiträge zu gesetzlichen Regelungsmodellen (in Prozent)
Zwar ist in unserem Material vor allem die katholische Kirche als Hauptproponent konserva
tiver Positionen mit 196 (= 7,2 Prozent) aller 2.734 protokollierten Äußerungen (evangelische Kirche: 2,8 Prozent) deutlich nachweisbar, aber überraschend erscheint die sehr geringe Re
präsentation der sozialen Bewegungen und Bürgerinitiativen (1,5 Prozent), von denen aus anderen Quellen bekannt ist, daß sie in der Abtreibungsfrage mit Gruppierungen sowohl der Frauen- als auch der Lebensschutzbewegung stark aktiv waren (Rucht 1994, S. 368-403).
Dem widersprechen unsere Daten nun allerdings insofern nicht, als sie nicht Äußerungen und Aktionen, sondern deren öffentliche Resonanz in überregionalen Zeitungen, also in der natio
nalen Öffentlichkeit, abbilden. Daß die stark dezentralisierten "pro choice"- und "pro iife”- Bewegungen mit einer Fülle lokaler und regionaler Initiativen unter anderem auf die Parteien eingewirkt und in diesen eine erhebliche Rolle gespielt haben, läßt sich an der Art innerpar
teilicher Diskussionen und Kontroversen auch in unserem Material nachweisen (siehe unten).
Dafür sorgten einerseits vor allem die "pro-choice"-Gruppen emanzipierter Frauen und ande
rerseits die "pro-life"-Gruppen gläubiger Katholiken - die einen stärker in der SPD und FDP, die anderen stärker in der CDU/CSU.
Im übrigen zeigen unsere Detailergebnisse, daß sich auch Interessenverbände (4,3 Prozent - darunter besonders die berufsständischen Organisationen der Mediziner und Juristen, kaum dagegen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände) sowie die Wissenschaften (4,2 Prozent - darunter vor allem Mediziner und Juristen) in die öffentliche Debatte eingemischt haben - und in einem außergewöhnlichen Maße auch die Medien (11,8 Prozent). Wir können dies mit un
serem Material zwar nicht flächendeckend und repräsentativ, wohl aber für zwei Tageszeitun
gen belegen, die zu den politischen Meinungsfiihrern unter den Massenmedien gehören: die Frankfurter Allgemeine (6,1 Prozent) und die Süddeutsche Zeitung (5,7 Prozent), die wir in
haltsanalytisch bearbeitet haben. Journalisten haben sich jenseits ihrer reinen Chronistenarbeit
mit eigenen Beiträgen sehr stark eingeschaltet und dem Gesamtthema Abtreibung (also nicht nur den Modellen ihrer Regelung) im Untersuchungszeitraum 1970 - 1994 insgesamt 315 Kommentare und Leitartikel gewidmet (FAZ: 182; SZ: 133). Der "zivilgesellschaftliche" Ak
teur, der sich mit eigener Stimme am massivsten in die öffentlichen Meinungsbildungen ein
mischte, bestand aus Journalisten als professionellen Beobachtern gesellschaftlicher und poli
tischer Entwicklungen. Es wird einer anderen Studie Vorbehalten sein, die Art ihres Beitrags durch eine Inhaltsanalyse der Leitartikel und Kommentare genauer zu bestimmen. Die jetzt vorliegenden Daten über die beiden Zeitungen erlauben aber schon zwei Feststellungen, die auf einen differenzierenden Beitrag der beiden einflußreichen Medien zum speziellen Thema politischer Regelungsmodelle schließen lassen. Dies trifft insofern zu, als sie zwar deutlich unterschiedliche Vorlieben zu konservativen und liberalen Positionen ausdrückten, die FAZ zugunsten konservativer, die SZ zugunsten liberaler; in beiden Fällen war aber die Zahl kriti
scher Äußerungen zu der von ihrer eigenen "Redaktionslinie" bevorzugten Grundposition noch größer als die der zustimmenden. Die Medien bildeten insofern keinen einheitlichen Meinungsblock, sondern repräsentierten durchaus eine relativ große Bandbreite unterschiedli
cher Positionen und Argumente.
Gleichermaßen differenzierend dürften die breit abwägenden Urteile des Bundesverfas
sungsgerichts (BVerfG) gewirkt haben (vgl. Döbert in diesem Band), die in der Öffentlichkeit in einem beachtlichen Maße Gehör fanden. Ihre Hauptfunktion wird allerdings wohl darin bestanden haben, dem Abtreibungsdiskurs verbindliche Grenzen zu setzen, jenseits derer zu streiten sich politisch nicht lohnt. Sie haben den Spielraum verfügbarer Optionen
"letztinstanzlich" festgelegt. Für die eher konservative Art seiner Grenzsetzungen ist das BVerfG. in den öffentlichen Auseinandersetzungen kritisiert worden. 43 von 54 Stellungnah
men zum Akteur BVerfG, also 79,6 Prozent, besitzen einen kritischen Gehalt. Aber es ver
wundert angesichts der einschneidenden Wirkung seiner Urteile, daß die negativen Etikettie
rungen sogar mit diesem Prozentsatz noch etwas unterdurchschnittlich liegen (Gesamtanteil von Akteursverurteilungen: 83,6 Prozent; vgl. Tabelle 3) und im übrigen in keinem Fall die Radikalität von "sehr negativ" erreichten. Das vergleichsweise hohe öffentliche Prestige des Bundesverfassungsgerichts, verbunden mit einem Bürgervertrauen, das das zu allen anderen öffentlichen Institutionen übertrifft (Walz 1996, S. 77-79), hat die Grenzsetzungen des ober
sten Gerichts zwar nicht unumstritten, aber offensichtlich hinnehmbar gemacht. Wäre es an
ders gewesen, hätte nicht nur der Anteil der negativen Urteile, sondern auch deren Aggressivi
tät gegenüber dem Gericht höher liegen müssen.
Bilanziert man die Ergebnisse über das Partizipationsspektrum in der Abtreibungsdiskussi
on, so bleibt einerseits festzuhalten, daß eine Vielzahl von Sprechern unterschiedlicher Ebe
nen und Lager öffentlich vertreten war - dies um so mehr, als hinter den Namen von Parteien, Verbänden, Organisationen und Bewegungen, auf die hin die jeweiligen Sprecher in unserer Analyse aggregiert wurden, eine große Fülle von Personen, Untergruppen und Zirkeln steht.
Es erscheint insoweit berechtigt anzunehmen, daß eine der zentralen Bedingungen des delibe- rativen Demokratiemodells in unserem besonderen Fall im wesentlichen erfüllt war.
Aller-dings ist andererseits auffällig, daß den politischen Parteien (anders als in den USA) eine überragend dominierende Rolle in der öffentlichen Meinungsbildung zukam. Die Frage ent
steht: Indiziert das starke Gewicht der politischen Parteien (und die ihm korrespondierende Randstellung der durchaus aktiven sozialen Bewegungen) in der deutschen Abtreibungsdis
kussion eine problematische Einschränkung freier Meinungsbildung? Welche Effekte lassen sich der mächtigen Rolle der Parteien zurechnen?