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Meinungen zu Entscheidungen

In den Inhaltsanalysen der beiden überregionalen Zeitungen FAZ und SZ wurde nicht nur ermittelt, daß in dem Zeitraum von 1970 bis 1994 insgesamt 7.394 Äußerungen von Akteuren zur Abtreibungsfrage publiziert wurden. Für 1.744, also für 23,9 Prozent dieser Äußerungen konnte darüber hinaus festgestellt werden, für oder gegen welches der diskutierten gesetzli­

chen Regelungsmodelle Stellung bezogen wurde. Die unterschiedlichen Varianten, auf die dabei Bezug genommen wurde, lassen sich grob folgenden Grundmodellen zuordnen: (1) ge­

nerelle Strafbarkeit der Abtreibung, (2) Indikationenregelung, (3) Fristenregelung und (4) ge­

nerelle Straffreiheit. Die Modelle (1) und (2) lassen sich als "eher konservative", die Modelle (3) und (4) als "eher liberale" Grundpositionen deuten. Sie unterscheiden sich dadurch, daß in einem Fall die Letztentscheidung über Fortsetzung oder Unterbrechung von Schwangerschaft den betroffenen Frauen vorenthalten, im anderen Falle zugebilligt wird.

Prüft man in der Datenanalyse zunächst, welche Regelungsoptionen auf der Agenda öf­

fentlicher Diskussionen standen und damit - sei es zustimmend, sei es ablehnend - allgemeine Aufmerksamkeit fanden, so läßt sich Tabelle 1 entnehmen, (a) daß sowohl konservative als auch liberale Positionen, darunter auch deren Radikalvarianten, nämlich die Forderungen nach

"genereller Strafbarkeit" oder aber "genereller Straffreiheit", Gegenstand öffentlicher Ausein­

andersetzungen waren.

Tabelle 1: Beiträge von Sprechern zu gesetzlichen Regelungsmodellen in der Abtreibungsdiskussion (in Prozent)

Regelungsmodelle 1970-1994

Welle I 1970-1977

Welle II 1987-1994

1. Generelle Strafbarkeit 4,1 7,8 1,1

2. Indikationenmodell 39,0 38,6 35,7

3. Fristenmodell 53,2 51,3 58,4

4. Generelle Straffreiheit 3,8 2,3 4,8

N = 1.744 651 1.007

Insofern läßt sich mutmaßen, daß für ein relativ breites Spektrum von Optionen Für und Wider ausgetauscht wurden (vgl. dazu Tabelle 2), der "Argumentationsraum" zur Abtrei­

bungsfrage deshalb wohl auch relativ vollständig besetzt war. Erst wenn unsere Datenauswer­

tung auch das umfangreiche Material über die in der Diskussion vertretenen "idea elements"

analysierbar gemacht hat, werden wir in der Lage sein, sowohl die argumentative Reichweite der Auseinandersetzung als auch deren Entwicklung im Diskussionsverlauf bestimmen zu können. Schon aus den Daten der Tabelle 1 geht allerdings (b) hervor, daß sich die öffentliche Diskussion der Abtreibungsfrage etwas stärker und zunehmend mehr auf liberale als auf kon­

servative Positionen bezog. Verständlich wird dies dadurch, daß es in der ganzen Debatte um eine Liberalisierung von Gesetzesbestimmungen ging, die von Teilen der Bevölkerung als zu restriktiv empfunden wurden. Wahrscheinlich entspricht es einem allgemeinen Muster, daß jene Argumente im Vordergrund der Aufmerksamkeit stehen, die auf eine Revision des Status

quo zielen.

Für die Begründung dieser Interpretation ist es allerdings nicht hinreichend, sich auf die Analyse von Agendadaten zu beschränken. Man muß wissen, welche Positionen zu den The­

men vertreten werden, über die öffentliche Diskussion stattfindet, um entscheiden zu können, was ihr Agendarang bedeutet, ln der inhaltsanalytischen Erhebung wurden deshalb die Beiträ­

ge der über die Presse öffentlich werdenden Sprecher nach einer Dreierskala klassifiziert. Be­

wertungen des angesprochenen Regelungsmodells konnten dabei als "negativ", "ambivalent"

oder "positiv" identifiziert werden. Die Befunde erscheinen in mehrfacher Hinsicht als in­

struktiv.

Tabelle 2 informiert über die Bewertungen gesetzlicher Regelungsmodelle unabhängig vom konkreten Regelungsbezug ihrer Äußerungen, also pauschal. Zweierlei ist auch für die Geltungsansprüche deliberativer Demokratietheorien informativ. Geht man davon aus, daß der Abtreibungsstreit sich auf ein moralisches Dilemma bezieht, in dem zwei Grundrechte, näm­

lich das Recht auf (ungeborenes) Leben und das Selbstbestimmungsrecht (schwangerer Frau­

en), aufeinanderstoßen, dann mag es überraschen, daß nur 5,7 Prozent der 1.741 klassifizier­

baren Beiträge zu Regelungsmodellen des Abtreibungsstreits als "ambivalent", definiert als

"sowohl pro als auch contra", eingestuft wurden. Eine Vermittelbarkeit von "Entweder/oder"- Positionen drückt sich in Form von differenzierenden "Einerseits/andererseits"-Abwägungen in der öffentlichen Rhetorik kaum aus. Dies könnte einerseits an den advokatischen Strategien der Akteure liegen, die sich öffentlich äußern. Andererseits wird sicher das allgemeine Muster massenmedialer Berichterstattung für den Verlust differenzierender Zwischentöne verant­

wortlich sein. Hans-Jürgen Weiß konnte eine "Polarisierung des Konflikts", nämlich "seine Reduktion auf einfache Gegensätze", als medienerzeugt in einer Studie nachweisen, in der er unabhängig voneinander einerseits Pressemitteilungen und sonstige Statements der am Kon­

flikt Beteiligten, andererseits die massenmediale Darstellung dieser Äußerungen miteinander verglich (Weiß 1989, S. 487).3 Es entspricht der "Nachrichtenwert"-Logik massenmedialer Berichterstattung, daß ein binäres Konfliktschema von "dafür" versus "dagegen" konstruiert

wird, mit dem die vorhandenen Differenzen zu einem aufmerksamkeitserregenden Kampf­

muster stilisiert werden (Neidhardt 1994b, S. 44-47).

Insoweit sich diese Tendenz durchsetzt, verliert die öffentliche Diskussion an diskursiver Qualität. Sie wirkt für den Fortgang der Debatten dann auch eher konfliktsteigernd als kon­

fliktlösend. Von Öffentlichkeit läßt sich in dieser Hinsicht deshalb kaum erwarten, daß sie zu kompromißhaften Entscheidungsbildungen direkt beitragen kann. Sie klärt vielmehr die Fronten und informiert die Akteure, die entscheiden müssen, über Art und Ausmaß der Ent­

scheidungskosten. Die Konfliktbearbeitung mit dem Ziel, Entscheidungen vorzubereiten, fin­

det offensichtlich weniger in der Öffentlichkeit als in den geschlossenen Verhandlungsräumen der Politik statt.

Tabelle 2: Bewertungen gesetzlicher Regelungsmodelle im Abtreibungsstreit, 1970-1994 (in Prozent)

Stellungnahmen 1970-1994

Welle I 1970-1977

Welle II 1987-1994

Negativ 62,7 62,0 62,8

Ambivalent 5,7 7,7 4,8

Positiv 32,5 30,2 32,4

N = 1.741 649 1.006

Dafür spricht auch ein weiterer Befund (vgl. Tabelle 2). Faßt man die veröffentlichten Stellungnahmen zu den diversen Regelungsmodellen zusammen, so zeigt sich, daß nur 32,5 Prozent der Äußerungen Zustimmung? hingegen 62,7 Prozent Ableimung ausdrücken. Diese Anteile variieren in und zwischen den beiden Diskussionswellen im übrigen kaum. Der öf­

fentliche Disput über die Abtreibungsfrage bestand durchgängig vor allem in der Verneinung der Optionen ihrer Regelung. Insofern erscheint Öffentlichkeit hier als "kritische Öffentlich­

keit". Sie ist vor allem eine Arena des Protests.

Diese Tendenz wird noch deutlicher in den 1.004 Äußerungen, in denen Akteure, die als Sprecher in die Öffentlichkeit traten, andere Akteure des Abtreibungsstreits direkt ansprachen und bewerteten. Nur in 13,3 Prozent dieser Fälle fand eine positive Etikettierung, dagegen in 84,8 Prozent der Fälle eine negative Beurteilung statt (vgl. Tabelle 3). Die Repräsentation sozialer Beziehungen besitzt in massenmedialen Darstellungen einen "bias" zugunsten der Markierung von Gegnerschaften. Sachliche Zustimmung und soziale Unterstützung bleiben eher randständig. Der Beobachter der massenmedial vermittelten Diskussionen vernimmt vor allem den Streit der Kontrahenten.

Tabelle 3: Beurteilungen anderer Akteure durch Sprecher

Wieder werden die Tendenzen, die in unserem Material deutlich werden, mit den nachrich­

tenwertbestimmten Selektionsvorlieben der Massenmedien zu tun haben. "Negativismus"

(Galtung/Ruge 1965, S. 69 f.) ist ein Mittel, um auf dem Publikumsmarkt Aufmerksamkeit zu erringen. Zusätzlich wird aber auch eine Rolle spielen, daß bei den Akteuren des Konflikts eine asymmetrische Mobilisierbarkeit ihrer Attitüden in der Weise gegeben ist, daß Zustim­

mung eher beruhigt und Dissens eher aktiviert. Die Neigung zu öffentlicher Akklamation wird in freien Demokratien geringer motiviert sein als der Hang zu öffentlichem Widerspruch.

Hinzu kommt ein funktionales Argument: Öffentlichkeit steht nicht unter einem Entschei­

dungsdruck, muß also nicht produktiv werden, und der Konsensusbedarf ist entsprechend ge­

ring. Wie auch immer erklärbar, feststellbar ist zumindest für unseren Fall, daß Bedingungen für die Entwicklung jener Konsonanzen, mit denen sich "öffentliche Meinung" als mächtige kollektive Größe darstellt, kaum gegeben waren (allgemeiner dazu: Neidhardt 1994a, S. 25­

27). Sichtbar werden vor allem Dissens und Gegnerschaft.

Unter diesen Bedingungen stellt sich die Frage, in welcher Weise öffentliche M einungsbil­

dung für politische Entscheidungsprozesse überhaupt relevant werden kann. Tabelle 4 zeigt, daß in keiner Phase konservative oder liberale Positionen, zwischen denen zu entscheiden war, mehrheitlich vertreten waren. Durchweg existierte ein deutlicher Überhang an Ableh­

nung. Keine der politischen Entscheidungsoptionen erwies sich in der Öffentlichkeit als auch nur annähernd mehrheitsfähig. Die Vorstellung Joshua Cohens von einem demokratischen Staat als "an association whose affairs are governed by the public deliberation o f its members"

(Cohen 1989, S. 17) wird also schon dadurch entwertet, daß in massenmedial vermittelten Öffentlichkeiten moderner Demokratien nicht nur die Aussichten auf einen "consensus", son­

dern - das schwächere Postulat - sogar die Chancen, "to win the approval o f the majority"

(Manin 1987, S. 359), zumindest im Falle von Wertkonflikten strukturell nicht gewährleistet sind; dies auch dann nicht, wenn Deliberation - wie im vorliegenden Fall - Zeit hat, sich zu entfalten, und ein "issue" über Jahrzehnte hin mit einem hohen Aufwand an Für und Wider diskutiert wird.

Tabelle 4: Meinungsverteilung zu eher konservativen und

sprüchen ihrer Theoretiker hätte es im Falle der deutschen Abtreibungskontroverse weder in den siebziger noch in den neunziger Jahren eine Legitimität für politische Entscheidungen gegeben. Entsprechend ihren Maßstäben entwickelte sich aus der öffentlichen Diskussion für die Politik eine Entscheidungsfalle: Gleichzeitig mit zunehmendem Entscheidungsdruck sta­

bilisierte sich der Widerstand gegen alle Entscheidungsoptionen. Hätte der Gesetzgeber unter diesen Bedingungen keine Gesetze machen dürfen? Fehlt nun den Gesetzen, die er doch be­

schloß, demokratische Legitimität?