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Untersuchung des Säure-Base-Gleichgewichts mittels Potentiometrie

6 Untersuchung der Polyelektrolyt-Eigenschaften

6.2 Untersuchung des Säure-Base-Gleichgewichts mittels Potentiometrie

6.2 Untersuchung des Säure-Base-Gleichgewichts mittels Potentiometrie

Es ist erkennbar, dass sowohl für das niedermolekulare Amin 65 als auch für das Polymer 39 c zwischen pH = 10 und pH = 4 der Übergang von der deprotonierten in die protonierte Form erfolgt. Die jeweiligen Wendepunkte bei pH = 10 bzw. pH = 4 können den Neutralisationsgraden β = 0 bzw. β = 1 zugeordnet werden, welche näherungsweise den Protonierungsgraden α = 0 bzw. α = 1 entsprechen. Im stärker alkalischen bzw. im stärker sauren pH-Bereich wird die Pufferwirkung des Wassers dominierend und die Amine liegen außerhalb der Wendepunkte ausschließlich in der vollständig deprotonierten bzw. vollständig protonierten Form vor. Die Titrationskurve des Precursors 39 c ist gegenüber der des Modellamins 65 nach links verschoben. Dies spiegelt den schon in Kapitel 3.3 diskutierten Fall wider, dass der Precursor vermutlich während der Aufarbeitung mit Spuren an Säure reagiert hat und folglich hier schon ohne Zugabe an Säure zu etwa 25 % protoniert vorlag.

Bei allen nun folgenden pH-Titrationen wurde das niedermolekulare Modellamin 65, der Precursor 39 c oder 47 c in Wasser gelöst und zusätzlich zwischen 10 µL und 50 µL 1 M Natronlauge hinzugefügt, um sicherzustellen, dass zu Beginn der Titration alle Aminofunktionalitäten deprotoniert vorlagen. Anschließend erfolgte zur Erhöhung der Genauigkeit die schrittweise Zugabe an 1 M Salzsäure mit einem automatischen Dosimeter in einem zeitlichen Abstand von jeweils zwei Minuten. Die gemessenen pH-Werte wurden während des gesamten Zeitraums durchgehend mit einem Computer erfasst. Das Erreichen eines konstanten pH-Signals und damit des Gleichgewichtszustands konnte nach jedem Dosierungsschritt beobachtet werden. Der Protonierungsgrad α wurde bei der Auswertung mit Hilfe der beiden Wendepunkte bei α = 0 und α = 1 kalibriert. Dies führte zu einer Überprüfbarkeit von Einwaagefehlern und erlaubte eine Vernachlässigung der Volumenzunahme im Verlauf der Titration.

In Abbildung 6.6 sind auf diesem Wege ermittelte Titrationskurven von wässrigen Lösungen (10 mL) des Modellamins 65 (■) und der Precursorpolymere 39 c (■) und 47 c (■) dargestellt. Die Konzentration bezogen auf die Stickstoffatome betrug cN = 20 ± 2 mmol/L. Die durchgezogene Linie (—) entspricht einem Fit der Modellamin-Messwerte mit der Henderson-Hasselbalch-Gleichung (5.30) und spiegelt das erwartete Verhalten einer niedermolekularen Base mit einem pKS-Wert von 7,52 wider. Dieser pKS-Wert ist im Vergleich zu anderen Stickstoffbasen145, wie z. B.

Triethylamin (pKS = 10,75) oder Ammoniak (pKS = 9,25), deutlich kleiner. Die relativ geringe Basizität von 65 resultiert aus dem Substitutionsmuster, was durch den Vergleich mit der literaturbekannten Basenstärke von Triethanolamin145 (pKS = 7,77)

deutlich wird. In beiden Fällen setzen die Ethoxysubstituenten die Basenstärke herab.

Als Grund hierfür sind neben elektronischen Einflüssen auch Einflüsse durch Wasserstoffbrückenbindungen denkbar. Die geringe Basenstärke erweist sich in zweierlei Hinsicht als sehr vorteilhaft: Erstens können zur Kalibration beide Wendepunkte herangezogen werden - der Wendepunkt bei einem Protonierungsgrad von α = 0 wird mit steigendem pKS-Wert der Base immer schlechter detektierbar (vgl.

Abbildung 5.4). Zweitens erfolgt die komplette Titration in nur schwach alkalischer Lösung, wodurch der störende Kohlendioxideintrag durch die umgebende Luft gering bleibt.

Zusätzlich sind in Abbildung 6.6 die Ergebnisse aus den NMR-spektroskopischen Untersuchungen (, , ) abgebildet. Die Protonierungsgrade α wurden aus den chemischen Verschiebungen δ der 1H-NMR-Spektren bei unterschiedlichen pH-Werten (Abbildung 6.1 bis Abbildung 6.3) mit Hilfe der Gleichung (6.1) berechnet. Diese setzt eine lineare Abhängigkeit des Tieffeldshifts (δ – δX-B) mit dem Protonierungsgrad α voraus und kann durch Umformen von Gleichung (5.37) erhalten werden. Hierbei entspricht δX-B bzw. δX-BH+ den chemischen Verschiebungen der Protonen H9 und H10 der vollständig deprotonierten bzw. vollständig protonierten Spezies.

B X BH X

B X

+

= −

δ δ

δ

α δ (6.1)

0,0 0,2 0,4 0,6 0,8 1,0 4

5 6 7 8 9 10

pH

α

Abbildung 6.6: pH-Wert von wässrigen Lösungen (10 mL) des Modellamins 65 ( bzw. ) , der Precursorpolymere 39 c ( bzw. ) und 47 c ( bzw. ) der Aminokonzentration cN= 20 mmol/L, aufgetragen gegen den potentiometrisch (Quadrate) bzw. NMR-spektroskopisch (Dreiecke) bestimmten Protonierungsgrad α

Obwohl die tertiären Aminogruppen der drei Basen 65, 39 c und 47 c ein nahezu identisches Substitutionsmuster aufweisen, unterscheiden sich die Kurvenverläufe voneinander. Während im alkalischen Bereich zwischen 10 > pH > 8,5 die Messpunkte in allen drei Fällen sehr gut durch die Henderson-Hasselbalch-Gleichung mit einem pKS

von 7,52 beschrieben werden, weichen die Messpunkte der Polybasen mit steigender Protonierung immer stärker davon ab. So liegen die pH-Werte bei einem Protonierungsgrad von α = 0,5 im Falle des Modellamins 65 bei pH = 7,5, im Falle des Precursors 39 c bei pH = 7,1 und im Falle des Precursors 47 c sogar bei pH = 6,6. Die Basizität scheint also in dieser Reihenfolge abzunehmen.

Diese Tendenzen werden auch durch die Messpunkte aus den NMR-spektroskopischen Untersuchungen wiedergegeben. Die NMR-Daten der Precursorpolymere 39 c () und 47 c () stimmen innerhalb der Fehlertoleranz von ± 0,2 pH-Einheiten mit den potentiometrisch ermittelten Titrationskurven (■ bzw. ■) gut überein, was das angenommene lineare Verhalten der chemischen Verschiebung mit α für die Polybasen 39 c und 47 c bestätigt. Die NMR-Daten des Modellpolymers 65 () liegen hingegen etwa 0,5 pH-Einheiten über der potentiometrisch ermittelten Kurve (■). Ein Grund für

diese Diskrepanz ist die Verwendung von Deuteriumoxid statt Wasser bei den NMR-Messungen, ohne dass die ermittelten pH-Werte korrigiert wurden. In der Literatur wurde der Isotopeneffekt bei Säure-Base-Titrationen unter Verwendung von pH-Glaselektroden vielfach untersucht187,188 189, . Von allen Arbeitsgruppen wurde festgestellt, dass der tatsächliche pD-Wert einer Deuteriumoxid-Lösung mit einer pH-Elektrode meist durch einfache Addition des angezeigten pH-Werts mit 0,4 ermittelt werden kann:

pD = pHabgelesen + 0,4 (6.2)

Von R. B. Martin190 wurden zusätzlich Ionisationskonstanten in Wasser (pKS) mit denen in Deuteriumoxid (pKD) verglichen und es wurde empirisch folgender Zusammenhang gefunden:

pKD = 1,015 ⋅ pKS + 0,45 (6.3)

Bei der Ermittlung von Säurekonstanten in Deuteriumoxid mit Hilfe einer pH-Glaselektrode unter Verwendung der abgelesenen pH-Werte heben sich die Konstanten in den Gleichungen (6.2) und (6.3) in der Mehrzahl der Fälle auf. Dass dies im Falle des Modellamins 65 nicht so genau zutrifft, konnte aus dem identisch geführten potentiometrischen Experiment in Deuteriumoxid statt Wasser bestätigt werden: Die Messpunkte (■) verschieben sich um etwa 0,3 pH-Einheiten ins Basische und entsprechen dann näherungsweise den Ergebnissen aus der NMR-spektroskopischen Untersuchung.

Die ermittelte Tendenz in der Basenstärke 65 > 39 c > 47 c entspricht dem erwarteten Verhalten von Polybasen im Vergleich zu niedermolekularen Basen und kann folgendermaßen erklärt werden: Der Grad der Protonierung wird durch die Charakteristik der funktionellen Gruppe (Substitutionsmuster des Amins) und zusätzlich durch das elektrostatische Potential aller geladenen Gruppen an der Polymerkette bestimmt. Das positive Potential, welches sich bei steigendem Protonierungsgrad α immer stärker am Makromolekül aufbaut, bewirkt eine immer stärker werdende Abstoßung der Protonen. Die Polybase verhält sich folglich mit steigendem Protonierungsgrad α immer weniger basisch. Da in der Polybase 47 c die

Aminofunktionen dichter angeordnet sind, wirkt sich der elektrostatische Effekt stärker aus.

Um die Konzentrationsabhängigkeit des Polyelektrolyteffekts zu untersuchen, wurden die oben beschriebenen Titrationen zusätzlich bei niedrigerer Basenkonzentration wiederum in 10 mL wässriger Lösung vorgenommen. In Abbildung 6.7 sind die Messergebnisse des Modellamins 65 und der Precursor 39 c und 47 c der Aminokonzentration cN = 2,0 ± 0,2 mmol/L und cN = 20 ± 2 mmol/L gemeinsam dargestellt. Zusätzlich ist die Titrationskurve des wasserlöslichen Monomers 38 c abgebildet, welches im Gegensatz zum Modellamin 65 zwei Aminofunktionen besitzt.

4 5 6 7 8 9 10

0,0 0,2 0,4 0,6 0,8 1,0

α

pH

Abbildung 6.7: pH-Wert von wässrigen Lösungen (10 mL) des Modellamins 65 ( bzw. ), der Precursorpolymere 39 c ( bzw. ) und 47 c ( bzw. ) sowie des Monomers 38 c () der Aminokonzentrationen cN = 20 mmol/L (Quadrate) bzw. cN = 2 mmol/L (Dreiecke), aufgetragen gegen den Protonierungsgrad α

Der Verlauf des pH-Werts im Falle des Modellamins 65 zeigt erwartungsgemäß fast keine Abhängigkeit von der vorgelegten Basenkonzentration. Das Titrationsverhalten des Monomers 38 c mit zwei Aminofunktionen entspricht nicht dem einer zweisäurigen Base, d. h. es können keine zwei Pufferbereiche wie in Abbildung 5.5 (A) beobachtet werden. Vielmehr verhält sich das Monomer 38 c mit einem einzigen Pufferbereich identisch wie das Modellamin 65. Dies bedeutet, die beiden Aminofunktionen müssen als zwei voneinander getrennte Basensysteme betrachtet werden, die Protonierung des

ersten Amins beeinflusst die Protonierung des zweiten nicht. Eine gegenseitige Beeinflussung tritt also erst nach dem Verknüpfen der Monomere zu den Polymeren auf. Dies steht im Einklang mit Ergebnissen, die in der Literatur beschrieben sind: so wird von Häußling et al.191 während einer pH-Titration des Hexaamins 67 (Abbildung 6.8) die Beeinflussung der beiden tertiären Amine als Funktion ihres Abstands für x = 2, 3 und 4 untersucht. Hierbei wird berichtet, dass bereits für x = 4 die beiden Aminogruppen in der Titrationskurve nicht mehr unterscheidbar sind und somit maximal noch eine geringe Wechselwirkung vorliegen kann. Dies wird in theoretischen Untersuchungen von Borkovec192 bestätigt, der Wechselwirkungsparameter der aliphatischen Dibasen H2N-(CH2)x-NH2 in Abhängigkeit von der Anzahl der Methylengruppen bestimmte.

C H2 N N

NH2

NH2

H2N

H2N

67

x

Abbildung 6.8: Von Häußling et al.191 potentiometrisch untersuchtes Hexaamin 67

Im Falle der Polybasen 39 c und 47 c wird die erwartete Konzentrationsabhängigkeit des elektrostatischen Effekts bestätigt. Bei einer Aminokonzentration von cN= 2 mmol/L verhalten sich die Polybasen noch weniger basisch als bei cN = 20 mmol/L. Eine geringere Polyelektrolytkonzentration ist gleichbedeutend mit einer geringeren Ionenstärke der Lösung. Folglich sind die Ladungen weniger stark abgeschirmt und beeinflussen die Protonierung in stärkerem Maße. Die Erhöhung der Ionenstärke durch die Zugabe an Säure während der Titration hat keinerlei Einfluss auf die erhaltenen Messkurven. Dies konnte mittels zweier direkt aufeinander folgender Titrationen der Polybasen 39 c und 47 c bestätigt werden: zuerst erfolgte durch Titration mit 1 M Säure die Protonierung und anschließend durch Titration mit 1 M Natronlauge die Deprotonierung. Innerhalb der geschätzten Fehlergrenzen von ± 0,2 pH-Einheiten war keine Hysterese erkennbar.

Um den diskutierten elektrostatischen Effekt insbesondere für die Polybasen separat quantifizieren zu können, wird aus den Titrationskurven (Abbildung 6.7) mit Hilfe der Gleichung (6.4) der sogenannte apparente pK-Wert (pKapp) als Funktion des Protonierungsgrads α berechnet. Dieser drückt die Basenstärke des Amins zu jedem Zeitpunkt der Titration aus. Gleichung (6.4) kann durch Umformen der

Henderson-Hasselbalch-Gleichung (5.30) erhalten werden und stellt eine Näherung für den Pufferbereich einer Titrationskurve dar.

α α + −

=pH lg1

pKapp (6.4)

Die auf diese Weise berechneten pKapp-Werte sind in Abbildung 6.9 in vergrößertem Maßstab gegen den Protonierungsgrad α aufgetragen.

0,0 0,2 0,4 0,6 0,8 1,0

6,0 6,5 7,0 7,5

p K

app

α

Abbildung 6.9: pKapp des Modellamins 65 ( bzw. ), der Precursorpolymere 39 c ( bzw. ) und 47 c ( bzw. ), aufgetragen gegen den Protonierungsgrad α bei den Aminokonzentrationen cN = 20 mmol/L (Quadrate) bzw. cN = 2 mmol/L (Dreiecke). Die durchgezogenen Linien entsprechen einem Fit der Messpunkte durch eine Reihenentwicklung gemäß Gleichung (5.34).

Erwartungsgemäß ist der apparente pK-Wert des Modellamins 65 bei einer Aminokonzentration von cN = 20 mmol/L mit pKapp = 7,5 nahezu über den kompletten Protonierungsbereich konstant und somit unabhängig von α. Eine Abweichung kann nur für α < 0,1 und α > 0,9 beobachtet werden, was bestätigt, dass die Henderson-Hasselbalch-Gleichung nur im Pufferbereich gültig ist. Aus diesem Grund beziehen sich alle weiteren Diskussionen ausschließlich auf den Bereich 0,1 < α < 0,9. Da der Pufferbereich bei einer Verringerung der Basenkonzentration kleiner wird, ergeben sich für die Konzentration cN = 2 mmol/L geringe Abweichungen von pKapp = 7,5. Da diese

im Bereich 0,1 < α < 0,9 weniger als 0,1 pK-Einheiten betragen, wird der daraus resultierende Fehler im Folgenden vernachlässigt.

Das Sinken der pK-Werte der Polybasen 39 c und 47 c mit zunehmender Protonierung repräsentiert den steigenden elektrostatischen Effekt. So ergeben sich für den vollständig protonierten Precursor 39 c je nach Konzentration die apparenten pK-Werte pKapp = 6,9 bzw. pKapp = 6,3 sowie für 47 c pKapp = 6,2 bzw. pKapp = 5,9. Dies bedeutet eine Veränderung der Ionisationskonstanten KS im Verlauf der Protonierung über mehr als eine Zehnerpotenz.