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5 Grundlagen zur Untersuchung von Polyelektrolyten

5.2 Säure-Base-Eigenschaften von schwachen Polyelektrolyten

5.2.2 Protonierungsgleichgewicht von Polybasen

Durch Umformen erhält man die Henderson-Hasselbalch-Gleichung:

b-s KS lg s p

pH= − (5.29)

Diese kann mit dem Protonierungsgrad α folgendermaßen geschrieben werden:

α α

− −

=p lg1

pH KS mit α ≈β

= + ++ ] B [ ] BH [

] BH

[ (5.30)

Der Protonierungsgrad α kann im Pufferbereich einer pH-Titration unter Vernachlässigung der Eigendissoziation des Salzes der schwachen Base BH+ näherungsweise mit dem Neutralisationsgrad β gleichgesetzt werden. Bei einem Protonierungsgrad von α = 0,5 gilt mit Gleichung (5.30): pH = pKS, was bedeutet, dass man den pKS-Wert direkt durch eine pH-Messung bestimmen kann.

0 0,5 1 0 0,5 1 0 1 2

Zugabe von HCl [eq]

H2N

NH2 N

H n H2N

N NH2

H

Abbildung 5.5: Von S. Lapanje et al.146 aufgenommene pH-Werte von wässrigen Lösungen der Basen (A) Ethylendiamin, (B) Diethylentriamin und (C) Polyethylenimin als Funktion der zugegebenen Menge an HCl. Die Äquivalente eq beziehen sich auf die Gesamtzahl der vorhandenen Amino- bzw. Iminogruppen.

Für den Fall der zweisäurigen Base Ethylendiamin können zwei ausgeprägte Pufferbereiche und zwei definierte Äquivalenzpunkte entsprechend der beiden enthaltenen Aminofunktionen beobachtet werden. Die Basenstärke der zweiten Aminofunktion ist durch die schon vorhandene positive Ladung des ersten Ammoniumions deutlich herabgesetzt. Folglich ist der pKS-Wert für den zweiten Protonierungsschritt (pKS,2≈ 7) deutlich kleiner als für den ersten (pKS,1≈ 10). Schon bei der dreisäurigen Base Diethylentriamin sind potentiometrisch nicht mehr alle drei Protonierungsschritte separierbar. Es ist nur noch ein Pufferbereich sowie ein Äquivalenzpunkt bei zugegebenen 2/3 eq HCl vorhanden. Dieser ist der Protonierung der beiden primären Amine zuzuordnen. Bei der Protonierung von Polyethylenimin ist weder eine ausgeprägte Pufferwirkung noch ein scharfer Äquivalenzpunkt zu beobachten.

Das Protonierungsverhalten von Oligo- und Polybasen im Vergleich zu einsäurigen Basen ist also nicht mehr ausschließlich bestimmt durch die Charakteristik der funktionellen Gruppe mit einer einzigen definierten Säurekonstanten. Vielmehr wird das Gleichgewicht zusätzlich durch das elektrostatische Potential beeinflusst, das von den an der Kette lokalisierten Ladungen aufgebaut wird. Die Anzahl der ionisierbaren Gruppen und der Abstand zwischen ihnen beeinflussen neben der Ionenstärke der Lösung die Größe des Potentials. Diese Faktoren bestimmen, ob die einzelnen n Protonierungsschritte potentiometrisch separiert und somit, wie im Beispiel des Ethylendiamins, die mikroskopischen pK-Werte (pKS,n) ermittelt werden können.

Bei Polybasen wie auch bei Polysäuren ist die Auftrennung in einzelne Protonierungsschritte aufgrund der hohen Anzahl ionisierbarer Gruppen in keinem Fall möglich. Hier ist meist eine kontinuierliche Verschiebung der Basen- bzw. Säurestärke mit steigendem Protonierungsgrad α zu beobachten, was sich z. B. in Form der schlechten Pufferwirkung in Abbildung 5.5 (C) widerspiegelt. Diese Verschiebung kann durch Berechnung der apparenten Ionisationskonstanten pKapp für jeden gemessenen pH-Wert im Verlauf der Titration veranschaulicht werden. Im Falle der Polybasen ergibt sich im Gleichgewichtsfall mit der Henderson-Hasselbalch-Gleichung (5.30) für pKapp:

α α + −

=pH lg1

pKapp (5.31)

Bei Polybasen sinkt pKapp mit steigendem Protonierungsgrad α. Diese Abnahme der Basenstärke resultiert aus dem positiven Potential, welches sich bei steigendem Protonierungsgrad α immer stärker am Makromolekül aufbaut und somit eine immer stärker werdende Abstoßung der Protonen vom Polyion hervorruft. Eine thermodynamische Betrachtung, ursprünglich von Overbeek und Katchalsky147 beschrieben, führt zu Gleichung (5.32). Die Ionisationskonstante pKapp im Verlauf der Protonierung ist gegeben durch die Differenz aus der intrinsischen Ionisationskonstante des ungeladenen Polymers pK0 und der Änderung der freien elektrostatischen Energie Gel der Polyelektrolytlösung. Der Term (dGel / dα) kann auch als die Arbeit verstanden werden, die benötigt wird, um ein Proton gegen das elektrostatische Potential ψ aus unendlichem Abstand an die Polyelektrolytoberfläche (∆Gel) zu bringen2.

⎟⎠

⎜ ⎞

⋅⎛

= dα

dG K RT

Kapp p 0,4343 el

p 0 mit (dGel / dα) = Gel = NA·e·ψ (5.32)

Der Titrationsverlauf einer Polysäure mit einer starken Base kann ebenfalls mit Gleichung (5.31) und (5.32) beschrieben werden. Hierbei muss statt des Protonierungsgrads α der Neutralisationsgrad α’ eingesetzt werden, der durch α’ = 1 – α gegeben ist. Im Falle von Polysäuren steigt pKapp mit steigendem Neutralisationsgrad α’. Fortschreitende Deprotonierung führt zum Aufbau eines negativen Potentials, was

eine Erniedrigung der Säurestärke zur Folge hat. Entsprechend ändert sich das Vorzeichen des Terms (dGel / dα) in Gleichung (5.32).

Stellvertretend für Polybasen und Polysäuren ist in Abbildung 5.6 die Änderung von pKapp im Verlauf einer Titration von (A) Polyvinylamin bzw. (B) Polyacrylsäure dargestellt, wie sie von van Treslong et al.148 bzw. Nagasawa et al.149 erhalten wurden.

(A) (B)

Abbildung 5.6: Verlauf der apparenten Ionisationskonstanten pKapp während der Titration von (A) Polyvinylamin mit Salzsäure148 und (B) Polyacrylsäure mit Natronlauge149.

Kern150 sowie Katchalsky und Spitnik151 beschrieben erstmals phänomenologisch den Verlauf des pH-Werts bei der Titration von Polysäuren mit der „erweiterten Henderson-Hasselbalch-Gleichung“. Analog zu Gleichung (5.30) lautet diese für Titrationen von Polybasen:

α α

⋅ −

=p lg1

pH K0,5 n für α = 0,5 gilt: pK0,5 = pKS = pH (5.33)

Mit den Konstanten pK0,5 und n kann Gleichung (5.33) an eine experimentell ermittelte Titrationskurve angepasst werden. Die Konstanten beschreiben die Größe des elektrostatischen Potentials und sind aus diesem Grunde abhängig vom untersuchten Polyelektrolyt sowie von der Ionenstärke der Lösung. Ist das Potential vernachlässigbar

klein, so gilt unabhängig vom Protonierungsgrad pK0,5 = pKS sowie n = 1. Gleichung (5.33) geht dann in die einfache Henderson-Hasselbalch-Gleichung (5.30) über.

Da Gleichung (5.33) den Verlauf des pH-Werts bei Titrationen von Polybasen und Polysäuren meist nur für Protonierungsgrade nahe α = 0,5 gut beschreibt, wurde von M. Mandel152 vorgeschlagen, die apparente Ionisationskonstante pKapp aus Gleichung (5.31) und (5.32) durch folgende Reihenentwicklung anzunähern:

pKapp = pK0 + ϕ1·α + ϕ2·α2 (5.34)

Hierbei bedeutet pK0 wiederum die intrinsische Ionisationskonstante des ungeladenen Polymers, die durch die Charakteristik der einzelnen ionisierbaren Gruppe gegeben ist, während der Koeffizient ϕ1 durch die Anordnung der ionisierbaren Gruppen im Polymer bestimmt ist. Im Falle von Polysäuren nimmt ϕ1 positive Werte an152, während bei Polybasen negative Werte erhalten werden148. Der Koeffizient ϕ2 wird als abhängig von einer Störung der mittleren Ladungsanordnung (z. B. durch Kettenaufweitung) beschrieben. Alle drei beschriebenen Parameter sind zusätzlich von der Ionenstärke der Lösung abhängig.

Um die Abhängigkeit der Ionisationskonstante pKapp vom Protonierungsgrad α und damit den pH-Verlauf bei der Titration einer Polybase bzw. Polysäure verstehen und vorhersagen zu können, wurden eine Reihe von theoretischen Modellen entwickelt.

Diese können unterteilt werden in die sogenannten meanfield-Modelle, denen unter angenommener statistischer Ladungsverteilung auf der Polymerkette ein zeitgemitteltes Potential zugrunde liegt, und in Modelle, die mit diskreten Ladungsverteilungen arbeiten.

Ziel bei der Entwicklung der meanfield-Modelle war stets, die Änderung der freien elektrostatischen Energie (dGel / dα) aus Gleichung (5.32) im Verlauf der Titration zu berechnen. Dazu wurde das elektrostatische Potential um die Polymerkette bestimmt, die als unendlich langer Zylinder betrachtet wurde. Dies gelang entweder durch numerische Lösung153 der Poisson-Boltzmann-Gleichung oder analytisch unter Verwendung des in Kapitel 5.1 beschriebenen Zellmodells136,142,143,154. Eine gute Übereinstimmung zwischen meanfield-Theorie und Experiment wurde immer dann festgestellt, wenn Polymere verwendet wurden, bei denen erstens keine zu großen konformativen Änderungen während der Titration auftreten und zweitens die Ladungen

nicht zu dicht angeordnet sind und somit Wechselwirkungen der nächsten Nachbarn vernachlässigt werden dürfen. Bei höheren Neutralisationsgraden genügt beispielsweise Polyacrylsäure149,153,155 diesen Anforderungen sehr gut.

Marcus156 und etwas später Lifson157 führten in diesem Zusammenhang erstmals ein Modell ein, das auf einer diskreten Ladungsverteilung beruht. Es wurde durch statistische Betrachtung der repulsiven Wechselwirkungen der geladenen Gruppen auf der Polymerkette mit deren nächsten Nachbarn gleicher Ladung abgeleitet. Katchalsky et al.158 beobachtete eine zufrieden stellende Übereinstimmung dieses Modells mit den Polybaseneigenschaften von Polyvinylamin. Bei ähnlichen Untersuchungen von Polyethylenimin konnte durch zusätzliche Einbeziehung der übernächsten Nachbarn eine noch bessere Übereinstimmung erreicht werden159.

Abbildung 5.7 repräsentiert eine von Borkovec160 veröffentlichte übersichtliche Darstellung der Ergebnisse der beiden beschriebenen Modelle inklusive einer Computersimulation für das Verhalten einer linearen, kettensteifen Polybase.

Abbildung 5.7: Berechnete Titrationskurven einer linearen, kettensteifen Polybase160 a) ohne Berücksichtigung von Wechselwirkungen der an der Kette lokalisierten Ladungen (einsäurige Base mit pKS = 10), b) nach dem „mean-field“-Ansatz, c) nach dem Modell der diskreten Ladungen unter ausschließlicher Berücksichtigung der nächsten Nachbarn und d) mit Hilfe einer Computersimulation.

Mit dem „mean-field“-Ansatz ergibt sich eine breite Protonierungsstufe über den gesamten pH-Bereich, die den scharfen Übergang und die damit verbundene gute Pufferwirkung der einsäurigen Base ersetzt. Das Modell der nächsten Nachbarn hingegen sagt einen um α = 0,5 symmetrischen, s-förmigen Verlauf des pH-Werts

vorher, was zwei voneinander unterscheidbare Protonierungsstufen impliziert, wie es bei Dibasen (Abbildung 5.5 A) beobachtet wird. Dies kann mit einer Stabilisierung des intermediären Zustands von alternierend protonierten und deprotonierten Gruppen erklärt werden.

Einen vollständig anderen Ansatz zur Beschreibung von Titrationskurven veröffentlichten Manning und Holtzer161, der einige Jahre später von Manning162,163 weiterentwickelt wurde. Die Grundidee liegt in der Anwendung des in Kapitel 5.1 beschriebenen Modells der Gegenionenkondensation für eine Linienladung unendlicher Länge. Auf dieser Basis ist theoretisch, d. h. ohne Verwendung anpassbarer Fit-Parameter, eine Vorhersage des Verlaufs der apparenten Ionisationskonstanten pKapp

möglich. Da die Manning-Theorie oberhalb einer kritischen Ladungsdichte das Auftreten der Phase kondensierter Gegenionen vorsieht, wird an der entsprechenden Stelle der Titrationskurve ein signifikanter Sprung von pKapp vorhergesagt, der experimentell nie gefunden wurde. Durch weitere Modifizierungen dieses Modells durch Satoh et al.164 gelang zwar eine Vorhersage von Titrationskurven ohne pH-Sprung, gute Übereinstimmungen mit Experimenten konnten aber trotzdem nicht erzielt werden2.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Titrationsverhalten von Polybasen und Polysäuren bisher nur phänomenologisch beschreibbar ist. Je nach Struktur des Polymers sind dazu einzelne der oben diskutierten Modelle geeignet. Als sehr problematisch bei der Interpretation der Messdaten erwies sich hierbei in der Vergangenheit der nicht quantifizierbare Einfluss der schon diskutierten konformativen Effekte137,149,152,165. Zuverlässige Voraussagen des Titrationsverhaltens von Polysäuren oder Polybasen in Abhängigkeit ihrer Struktur sind unter anderem aus diesem Grund bisher noch nicht möglich.