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3 V ERÄNDERUNGEN DER B EVÖLKERUNGSSTRUKTUREN IN DER L ORE -L INDU -R EGION

3.6 Spontane Wanderungsbewegungen

3.6.2 Typisierung von Wanderungsmotiven

Befragt man spontane Migranten in der Lore-Lindu-Region nach ihrer Motivation, den Wohnort zu wechseln, erhält man in der überwiegenden Anzahl der Fälle die lapidare Antwort: „cari hidup yang lebih baik“ („ein besseres Leben suchen“). Bei genauerer Nachfrage enthüllt diese sehr allgemein gehaltene Antwort eine Reihe unterschiedlicher Wanderungsmotive spontaner Migranten. Vergleicht man die wichtigsten Wanderungs-motive, so nahm deren Vielfalt im Verlauf des 20. Jh. zu. Während der niederländischen Kolonialzeit waren v.a. Heirat, Handelsinteressen, sowie klimatische und medizinische Verhältnisse die Hauptursachen für einen Wohnortwechsel.

Heirat war zu Beginn des 20. Jh. insbesondere für die lokale Bevölkerung ein häu-figes Wanderungsmotiv. Vor allem auf der Ebene der traditionellen ‚Noblen’ (raja, maradika, etc.) kam es hierbei auch zu Wanderungen in andere soziopolitische Herr-schaftsgebiete (z.B. zwischen Kulawi und Sigi). Die gewöhnliche Bevölkerung bewegte sich hingegen nur innerhalb der lokalen Herrschaftsgebiete.

Die Handelsinteressen betrafen v.a Bugis, Chinesen und Araber, die im Gefolge der niederländischen Unterwerfung der Lore-Lindu-Region von den Küstengebieten um Palu oder Poso in das Palu-Tal und nach Kulawi bzw. Napu (Lore Utara) vordrangen, um dort ihre Handelsaktivitäten zu entfalten. Anfangs waren sie noch als mobile Händler in diesen Gebieten tätig. Manche ließen sich jedoch in den jeweiligen Zentren (z.B.

Bolapapu in Kulawi) permanent nieder.

Die klimatischen und medizinischen Verhältnisse waren besonders für die von den Niederländern zwangsumgesiedelte Bergbevölkerung die Ursachen für eine Migration.

Wie bereits erwähnt, konnten sich viele dieser Menschen nur schwer an die klimatischen Bedingungen im Tal gewöhnen oder wurden von Krankheiten, z.B. Malaria, heimgesucht.

Sie kehrten daher wieder in ihre Ursprungsgebiete in den Bergen zurück.

Nach der Unabhängigkeit Indonesiens kam das Motiv der Suche nach verfügba-rem Land hinzu. Mit der Verknappung der Landressourcen in der Herkunftsregion, wel-che durch das natürliwel-che Bevölkerungswachstum, durch Zuwanderung, die infrastruktu-rellen bzw. naturgeographischen Bedingungen und/oder die staatliche Einschränkung der Nutzung bestimmter Waldareale hervorgerufen wurde, gewann dieses Wanderungsmotiv an Bedeutung. Neben der Verbesserung der Verkehrsinfrastruktur (v.a. in Palolo und nach Lore Utara) führte das zunehmende Interesse am Anbau von cash crops wie Kaffee, Ge-würznelken oder Kakao dazu, dass zum einen Migranten aus Südsulawesi in großer An-zahl in die neu erschlossenen, ressourcenreichen und klimatisch günstigen Gebiete auf der Ostseite der Lore-Lindu-Region zuwanderten. Besonders unter den Bugis-Migranten, die ab den 1980er Jahren aus Südsulawesi zugewandert sind, ist das in der Lore-Lindu-Re-gion verfügbare Land ein wichtiger Pull-Faktor. Viele von ihnen besaßen in ihrer Her-kunftsregion zwar über die finanziellen Mittel, Land zu erwerben. Für den Anbau von Kakao auf Grund der natürlichen Gegebenheiten geeignetes Land war in den 1980er Jah-ren in Südsulawesi allerdings nur noch in verkehrsinfrastrukturell schlecht erschlossenen Regionen verfügbar. Die Verbesserung der Infrastruktur v.a. in Palolo und Lore Utara und die Bereitschaft der lokalen Bevölkerung dieser Gebiete zum Landverkauf zog daher viele finanzkräftige Migranten aus dem Süden der Insel an. Für weniger wohlhabende regio-nale Migranten aus Südsulawesi und anderen Provinzen der Insel waren es insbesondere die sozialen, ethnischen Netzwerke, welche sich in den Zielregionen etablierten. Zum anderen nahm dieses Motiv auch für die lokale Bevölkerung im Palu-Tal oder in Kulawi einen in den vergangenen zwei Dekaden stetig wachsenden Stellenwert ein. Ursächlich sind hierfür z.B. die traditionelle Regelung der Erbteilung, gepaart mit Landverkäufen und dem beschränkten Zugriff auf den familiären Landbesitz durch die Einrichtung des Lore-Lindu Nationalparks. Reicht das eigene, geerbte oder als Mitgift erhaltene Land als Versorgungsgrundlage für die Familie nicht aus, migriert diese - sofern sich keine

Be-schäftigungsmöglichkeiten als Lohnarbeiter83 auf den Feldern anderer Dorfbewohner bzw.

außerhalb der Landwirtschaft bieten oder angestrebt werden – in ein anderes Dorf der Untersuchungsregion. Auch hier spielen in vielen Fällen die sozialen Netzwerke der eige-nen ethnischen Gruppe eine wichtige Rolle. Die Suche nach Land kann daher als das ins-gesamt bedeutendste Migrationsmotiv seit der Unabhängigkeit Indonesiens gewertet wer-den.

Die Zunahme des produzierenden und Dienstleistungsgewerbes, v.a. in Palu, und die wachsende Bedeutung von Lohnarbeitsbeschäftigung im agraren und nicht-agraren Bereich eröffnete ein weiteres Motiv für einen Wohnortwechsel. Ebenso wurde mit dem Ausbau des Bildungssystems (v.a. der höheren Schulen) während der Regierungszeit von Präsident Suharto eine neue Motivgrundlage geschaffen. Dies führte zu einer, meist zeit-lich begrenzten Wanderung in die Hauptorte des jeweiligen Kecamatan oder nach Palu (v.a. für Hochschulbesuche).

Auf die Migrationsentscheidungen wirkt sich nicht nur die Verkehrsinfrastruktur im Zielgebiet beeinflussend aus, sondern auch die des Herkunftsgebiets. Beispielhaft hier-für ist die Pipikoro-Region im westlichen Kulawi. Mit zunehmender Bedeutung der Märkte entschlossen sich ab den 1970er und 1980er Jahren zahlreiche Familien, das ge-birgige und größtenteils nur mit Fußwegen erschlossene Pipikoro-Gebiet zu verlassen, um sich in der Gimpu-Ebene niederzulassen. Die hohen Transportkosten, um die produzierten landwirtschaftlichen Güter zu den Märkten und Händlern zu bringen, ergaben für sie eine zu schlechte Kosten-Nutzen-Bilanz. Andere verließen die Region aber auch, weil ihnen die Bewirtschaftung der an den bis zu 80 Grad steilen Berghängen gelegenen Felder zu mühsam wurde. Zudem darf der Einfluss des Mediums Fernsehen nicht übersehen wer-den. Das Fernsehprogramm führt den Menschen mit seinen in den javanischen Metropo-len produzierten Seifenopern oder den US-amerikanischen Serien und Spielfilmen tag-täglich ein Leben vor, das in extremem Kontrast zu dem Lebensstandard der Fernsehzu-schauer in den Dörfern Pipikoros steht. Zwar sind sich die Menschen i.d.R. darüber im

83 Lohnarbeit wird generell als makan gaji bezeichnet. Daneben gibt es z.B. auch die Möglichkeit des bagi hasil , ein System, bei welchem anstelle eines Geldlohns die produzierte Ernte geteilt wird. Auch dies stellt eine alternative Unterhaltsquelle im genannten Fall dar.

Klaren, dass sie diesen hohen Lebensstandard nicht werden erreichen können. Manche von ihnen erhoffen sich aber, durch eine Migration in besser erschlossene Gebiete der Lore-Lindu-Region dem Lebensstandard der Protagonisten aus dem Fernsehen zumindest ein Stück weit näher kommen zu können.

Ein spezieller, bei den Befragungen häufig genannter Migrationsgrund ist meran-tau. Übersetzt bedeutet das Wort „in die Fremde gehen“. Es sind in der Regel Männer, die in jüngeren Jahren ihr Elternhaus verlassen, um sich in anderen Orten und Regionen eine Lohnbeschäftigung zu suchen. Diese Personengruppe weist meist eine sehr bewegte Migrationsbiographie auf. Sie bleiben nur so lange an einem Ort, wie es das Arbeitsange-bot zulässt. Ergibt sich nach dem Ablauf der Vertragslaufzeit keine Möglichkeit auf eine andere lukrative Tätigkeit am selben Ort, ziehen sie weiter. Den Abschluss solcher Migrationsbiographien bilden meist die Heirat und die permanente Niederlassung an ei-nem Ort (vgl. auch Kap. 3.6.1).

In der Auflistung der verschiedenen Wanderungsmotive tauchten bereits wieder-holt die ethnischen und sozialen Netzwerke als migrationsbeeinflussende Größen auf. In der Tat ist diesem Faktor, vielleicht abgesehen von der Migration zu Ausbildungszwe-cken, ein enormer Stellenwert bei der Entscheidung zur Migration beizumessen. Wie be-reits in Kap. 3.6.1 erwähnt, bilden diese Netzwerke die Grundlage von Kettenmigrationen in der Untersuchungsregion. Nur in seltenen Fällen kommt es vor, dass soziale Kontakte keine Rolle beim Entscheidungsprozess spielen. Dabei dienen diese Netzwerke nicht nur dem Informationsaustausch über einen potentiellen Zielort. Die durch vorangegangene Wanderungen erzeugten, räumlich weitverzweigten familiären Netzwerke führt dazu, dass in einer Vielzahl von Orten der Region Verwandte wohnen, welche als erste Anlauf-stelle nach vollzogener Migration zur Verfügung stehen. Wie die im vorangegangenen Kapitel dargestellten Migrationsbiographien zeigen, sind es oft der Onkel oder andere Verwandte, welche den Migranten bzw. die Migrantin während der ersten Zeit im Zielort der Migration bei sich aufnehmen.

3.6.3 Fallbeispiel: Spontane Zuwanderung in das Palolo-Tal – das Beispiel