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Ist auf „Tipping“-geneigten Märkten ein rechtzeitiges Einschreiten gegen unilaterales

C. Schutzlücken im geltenden Regime der Missbrauchsaufsicht? Diskussion und

IV. Fallgruppenspezifische Absenkung der Eingriffsschwelle in der Missbrauchsaufsicht

1. Ist auf „Tipping“-geneigten Märkten ein rechtzeitiges Einschreiten gegen unilaterales

wettbewerbswidri-ger Weise steiwettbewerbswidri-gert?

a) Besteht eine Schutzlücke?

Eine Schutzlücke kann sich nach geltendem Recht insbesondere insoweit ergeben, als in „Tipping“-geneigten Märkten ein wettbewerbsbehördliches Einschreiten gegen ein nicht durch Leistungswett-bewerb gerechtfertigtes unilaterales Verhalten, das ein Umkippen des Marktes ins Monopol begüns-tigt, derzeit erst ab der Schwelle der Marktbeherrschung (Art. 102 AEUV / §§ 18, 19 GWB) und ggfs.

nach § 20 Abs. 1 oder Abs. 3 GWB möglich ist. Ist ein Markt aber erst einmal „gekippt“, so ist ein Markteintritt neuer Wettbewerber schwer. In einem Markt mit erheblichen Netzwerkeffekten müss-te eine Preisunmüss-terbietungsstramüss-tegie den pomüss-tenziellen Preisvormüss-teil der gesammüss-ten Vormüss-teile der installier-ten Basis (der „Netzgröße“) des etablierinstallier-ten Anbieters aufwiegen, sofern es kein Multihoming gibt.

Wahrscheinlicher dürfte dann ein Markteintritt durch Innovationen oder aus benachbarten Märkten sein, wenn ein dortiger Anbieter seine installierte Basis „hebeln“ kann. Voraussetzung für einen er-folgreichen Markteintritt in einen „gekippten“ Markt ist aber stets, dass der neue Wettbewerber entweder eine hinreichend große Nutzerzahl zu einem koordinierten Wechsel des Anbieters veran-lassen kann oder aber die Nutzer Multihoming betreiben. Angesichts dieser hohen Hürden kann es mit Blick auf die Schutzziele des Wettbewerbsrechts von großer Bedeutung sein, bereits vor Entste-hen einer marktbeherrscEntste-henden Stellung bzw. „relativer“ oder „überlegener Marktmacht“ (§ 20 Abs.

1 und Abs. 3 GWB) gegen ein das „Tipping“ begünstigendes, seiner Art nach nicht pro-kompetitives Verhalten vorzugehen.

Besonders das strategische Erschweren von Multihoming-Möglichkeiten kann ein solches Verhalten darstellen. Anders als auf vielen anderen Märkten ist bei Plattformen für einen erfolgreichen Markt-eintritt oftmals nicht erforderlich, dass die Nutzer den Anbieter wechseln. Vielmehr werden neue Dienste oft zusätzlich zu den bisherigen genutzt, insbesondere wenn sie unentgeltlich angeboten werden. Für den Markteintritt von neuen Plattformen wie Instagram, Snapchat, WhatsApp etc. war es nicht nötig, dass die Nutzer ihren Facebook-Account abmelden oder aufgeben und in diesem Sinne den Anbieter wechseln, wie etwa bei einem Wechsel des Stromanbieters, des Internet Service Provi-ders oder auch beim Autokauf. Während auf vielen anderen Märkten die Entscheidung für einen Anbieter die Entscheidung gegen einen anderen Anbieter bedeutet, impliziert die Entscheidung für eine Plattform nicht automatisch eine Entscheidung gegen eine andere Plattform. Solange Mul-tihoming einfach möglich ist, kann ein Markeintritt bei Plattformen auch erfolgen, ohne dass es zu einem Anbieterwechsel kommt.

Mit einem Kippen des Marktes muss bei direkten und indirekten positiven Netzwerkeffekten daher insbesondere dann gerechnet werden, wenn das Nutzen mehrerer Plattformen für mindestens eine Marktseite schwierig ist. Wenn Nutzer vom Typ A (z.B. „Käufer“) die Plattform bevorzugen, auf denen sich die meisten Nutzer vom Typ B („Verkäufer“) befinden (und/oder umgekehrt), kann sich leicht eine einzige Plattform herausbilden, die diese Netzexternalitäten internalisiert. Um ein „Tipping“ zu verhindern, muss Multihoming auf beiden Marktseiten einfach sein.

Die Perspektive auf ein potenziell langwieriges, durch erhebliche Markteintrittsbarrieren geschütztes Monopol gibt Plattformunternehmen in „Tipping“-geneigten Märkten starke Anreize zu versuchen, ein Kippen des Marktes gezielt herbeizuführen. Geschieht dies mit Mitteln des Leistungswettbe-werbs, so ist dies wettbewerbsrechtlich und wettbewerbspolitisch nicht zu beanstanden. Dem Zweck des Wettbewerbsrechts, den Wettbewerbsprozess zu schützen, kann es aber entsprechen, den Ein-satz leistungswettbewerbsfremder Mittel zur Herbeiführung eines „Tipping“ zu unterbinden – und dies eben auch und gerade dann, wenn noch keine marktbeherrschende Stellung besteht. Als unzu-lässige Verhaltensweisen kommen dabei insbesondere die vielfältigen Möglichkeiten einer strategi-schen Erschwernis von Multihoming in Betracht – etwa durch technische Mittel (z.B. gezielte Inkom-patibilität), durch Ausschließlichkeitsbindungen oder durch geschickte Tarifstrukturen.176 Flatrates

176 Ein Beispiel, wie Multihoming behindert werden kann, ist womöglich auch der Einsatz des Programms „Hell”

durch Uber – ein Programm, das Fahrer, die Multihoming betrieben, identifizieren und dann gezielte Anreize für diese Fahrer schaffen sollte, nur für Uber zu fahren. Siehe dazu Anchustegui/Nowag, How the Uber & Lyft case provides an impetus to reexamine buyer power in the world of big data and algorithms, 2017, abrufbar unter https://ssrn.com/abstract=2998688, und den Fall Michael Gonzales v Uber Technologies, Inc, Case

3:17-etwa machen Multihoming tendenziell unattraktiv. In Betracht kommt aber auch eine gezielte Behin-derung des Wechsels von Nutzern im Fall eines „Singlehoming“.177

Auf der Grundlage von Art. 102 AEUV bzw. §§ 18, 19 GWB kann ein solches Verhalten einer Plattform erst dann erfasst werden, wenn diese über eine marktbeherrschende Stellung verfügt. Diese Schwel-le kann immer noch vor dem Zeitpunkt eines endgültigen Umkippens ins Monopol erreicht sein. In einem Markt, in dem mehrere Plattformen mit relevanten Marktanteilen konkurrieren, kann bei-spielsweise ein hoher Marktanteilsabstand für eine marktbeherrschende Stellung einer Plattform sprechen, obwohl Wettbewerb fortbesteht.178 Gleichwohl kommt eine wettbewerbliche Intervention auf der Grundlage dieses Schwellenwertes spät – womöglich zu spät.

Art. 101 AEUV / § 1 GWB kann diese Lücke nur insoweit schließen, als die Behinderung des Mul-tihoming oder eines Nutzerwechsels auf einer wettbewerbsbeschränkenden Vereinbarung beruht – etwa im Fall von Exklusivitätsvereinbarungen. Rein unilaterales Verhalten wird hierdurch nicht er-fasst.

Ein frühes Einschreiten gegen unilaterales wettbewerbsbehinderndes Verhalten kommt im deut-schen Kartellrecht unter Umständen auf der Grundlage von § 20 GWB in Betracht. § 20 Abs. 1 GWB cv-02264-JSC, U.S. District Court for the Northern District of California, der den Einsatz des Programms Hell allerdings unter anderen rechtlichen Gesichtspunkten behandelt. Für einen weiteren Fall der (potenziell) wettbewerbswidrigen Behinderung von Multihoming (allerdings ohne expliziten Bezug zu einem möglichen

„Tipping“ des Online-Werbemarktes; auch im Online-Werbemarkt gibt es aber starke Netzwerkeffekte) – siehe FTC, Pressemitteilung v. 3.1.2013, abrufbar unter

https://www.ftc.gov/news-events/press-releases/2013/01/google-agrees-change-its-business-practices-resolve-ftc: „Google will remove restrictions hampering advertisers’ management of their ad campaigns across competing ad platforms. Under a separate commitment, Google has agreed to remove restrictions on the use of its online search advertising platform, AdWords, that may make it more difficult for advertisers to coordinate online advertising campaigns across multiple platforms. Advertisers who wish to use a search advertising platform spend considerable time, effort, and resources preparing extensive bids, including keywords, price information, and targeting information. Once an advertiser has entered the information necessary to create a search advertising campaign, the advertising platform sends critical data back to the advertisers that they need to evaluate the effectiveness of, and to further manage, their campaign. Advertising platforms use application programming interfaces, known as APIs, to give advertisers direct access to these advertising platforms so they can develop their own software

programs to automatically manage and optimize their advertising campaigns. Some FTC Commissioners were concerned that Google’s contractual conditions governing the use of its API made it more difficult for an advertiser to simultaneously manage a campaign on AdWords and on competing ad platforms, and that these restrictions might impair competition in search advertising.”

177 Die Behinderung von Multihoming sowie des Wechsels bei Singlehoming war ein wesentliches Kriterium im Missbrauchsverfahren gegen CTS Eventim: BKartA, Beschl. v. 4.12.2017, B6-132/14-2, CTS Eventim, Rn. 191, 255, 258, 281 ff.

178 Vgl. das Missbrauchsverfahren gegen CTS Eventim, in dem offengelassen werden konnte, ob ein „Tipping“

bereits eingetreten war. Denn der deutliche Größenvorsprung von CTS reichte jedenfalls aus, um angesichts der ausgeprägten indirekten Netzwerkeffekte auf eine marktbeherrschende Stellung zu schließen: BKartA, Beschl. v. 4.12.2017, B6-132/14-2, CTS Eventim, Rn. 169.

verbietet Plattformen eine Behinderung von abhängigen Unternehmen – soweit es sich hierbei um kleine oder mittlere Unternehmen handelt. Die Behinderung eines Multihoming durch die auf der Plattform tätigen Händler wäre unter dieser Voraussetzung bei festgestellter Abhängigkeit verboten.

Weitergehende Interventionsmöglichkeiten folgen aus § 20 Abs. 3 GWB, wenn ein Unternehmen im Horizontalverhältnis gegenüber kleinen und mittleren Wettbewerbern über überlegene Marktmacht, d.h. über einen „deutlichen Vorsprung an Marktmacht“179 verfügt. Soweit ein solches Unternehmen in einem „Tipping“-geneigten Markt gezielt und ohne leistungswettbewerbliche Rechtfertigung Wettbewerber behindert, sollten die Gründe, die im Regelfall für eine enge Handhabung der Norm sprechen, hinter das Ziel zurücktreten, ein „Tipping“ zu verhindern. § 20 Abs. 3 GWB greift aber eben nur bei Behinderungsmaßnahmen im Verhältnis zu kleinen und mittleren Unternehmen (s.o.). Die strategische Behinderung etwa von Multihoming kann in „Tipping“-geneigten Märkten aber auch im Verhältnis zu größeren Wettbewerbern eine Wettbewerbsgefährdung bedeuten. Durch § 20 Abs. 3 GWB nicht erfasst wird ferner ein entsprechendes Behinderungsverhalten im engen Plattformoligo-pol (näher unten, b)).

b) Schließung der Schutzlücke

Um die Wettbewerbsgefährdungen in „Tipping“-geneigten Märkten frühzeitig zu erfassen, bedarf es vor diesem Hintergrund eines neuen Sondertatbestands – etwa in einem § 20 Abs. 6 GWB oder in einem § 20a GWB. Die Ausweitung des Behinderungsverbots in einem solchen Sondertatbestand erscheint aber tatsächlich nur für „Tipping“-geneigte Märkte gerechtfertigt – also für solche Märkte, die durch starke positive Netzwerkeffekte gekennzeichnet sind.

Vorteilhaft könnte es ferner sein, den Anwendungsbereich des Missbrauchsverbots auf die größten Plattformen im relevanten Markt zu beschränken, zu deren Gunsten außerdem ein sehr schnelles Wachstum relativ zu anderen Wettbewerbern zu beobachten ist. Würde man hingegen auch den kleineren Wettbewerbern in „Tipping“-geneigten Märkten die Behinderung von Multihoming verbie-ten, so könnten diese einer Abwehrstrategie gegen die größte und am schnellsten wachsende Platt-form beraubt sein, die ein „Tipping“ womöglich gar verhindern kann. Dies legt es nahe, die Norm an Unternehmen – vor allem Plattformen – mit überlegener Marktstellung gegenüber Wettbewerbern zu adressieren, ohne dass es sich bei diesen Wettbewerbern allerdings um kleine und mittlere Un-ternehmen i.S.v. § 20 Abs. 3 GWB handeln müsste. Der Normadressatenkreis wäre ferner auf Mit-glieder eines engen Plattformoligopols mit wenigen, etwa gleich großen Plattformen (bei womöglich

179 Nothdurft, in: Langen/Bunte, § 20 GWB Rn. 101.

fortbestehendem Außenseiterwettbewerb von einigen kleineren Wettbewerbern) zu erstrecken. Als hypothetisches Beispiel mag der Markt für elektronische Zahlungssysteme dienen. Würde ein Oligo-polist oder würden alle Oligopolmitglieder in einem solchen Fall zu Verhaltensweisen greifen, die Multihoming behindern, ohne Ausdruck von Leistungswettbewerb zu sein, und wachsen sie auf diese Weise zulasten der Oligopol-Außenseiter, so wäre dieses Verhalten zu verbieten. Ein Wachstum rela-tiv zu den anderen Oligopolmitgliedern hingegen wäre ein Ausdruck von Wettbewerb im Oligopol – und müsste nicht notwendig zum „Tipping“ führen.

Der Sondertatbestand sollte eine missbräuchliche Behinderung der Wettbewerber verbieten, soweit diese geeignet ist, ein „Tipping“ des Marktes zu begünstigen. Die sachlich nicht gerechtfertigte Be-hinderung von Multihoming und von Plattformwechseln durch wechselwillige Nutzer wären als Re-gelbeispiel zu nennen. Auch hier können sich schwierige Abgrenzungsfragen ergeben. Dies gilt etwa dann, wenn der Normadressat eine Kundenbindungsstrategie entwickelt hat, die aus Kundensicht kurzfristig vorteilhaft ist, jedoch zugleich die Anreize für ein Multihoming erheblich senkt.180 Die Ab-grenzungsfragen, die hier entstehen, unterscheiden sich allerdings nicht wesentlich von den Abgren-zungsfragen, wie sie für das Missbrauchsverbot generell kennzeichnend sind. Maßgeblich wäre, wie stets, eine Interessenabwägung, die im Lichte des Ziels des GWB durchzuführen ist, die Freiheit des Wettbewerbs zu schützen. Ein Indiz für eine missbräuchliche Behinderungsstrategie kann es sein, wenn die Kundenbindungsstrategie kurz- und mittelfristig verlustbringend ist und wirtschaftlich nur vor dem Hintergrund der Erwartung einer längerfristigen Monopolisierung sinnvoll ist („predation“).

Eine missbräuchliche Verdrängungswirkung kann allerdings auch von nicht verlustbringenden For-men der Behinderung von Multihoming ausgehen.

Wie groß der Gewinn einer solchen Ausweitung des Missbrauchsverbots in den Bereich unterhalb der Marktbeherrschung und unterhalb einer überlegenen Marktmacht im Vergleich zu den mit ihr verbundenen Irrtumskosten wäre, die gerade auch mit dem Versuch präventiven Wettbewerbsschut-zes verbunden sein können, hängt vor allem davon ab, wie groß die Zahl der Fälle ist, in denen eine reale „Tipping“-Gefahr frühzeitig erkennbar ist – und zwar bevor gegen ein Behinderungsverhalten bereits auf der Grundlage von § 20 Abs. 1 oder Abs. 3 GWB eingeschritten werden kann. Zu fragen ist ferner, ob Behörden und Gerichte in der Lage sind, diejenigen Situationen zu identifizieren, in denen ohne ein Einschreiten ein „Tipping“ wahrscheinlich ist.

180 Zu denken wäre z.B. an ein Kundenbindungsprogramm vergleichbar Amazon Prime.

Den wettbewerblichen Gefahren, die mit einer „Tipping“-spezifischen Erstreckung des Missbrauchs-verbots in eine relativ frühe Phase der Gefahrenabwehr verbunden sind, steht aber der Vorteil ge-genüber, dass womöglich die Entstehung langlebiger Monopole, die ex post nur schwer auflösbar sind, verhindert werden kann, wo diese Monopole vermeidbar sind. Die Möglichkeit von Plattform-nutzern zum Multihoming ist ein wichtiger Schutzmechanismus für jede Plattformseite. Sie verhin-dert, dass Plattformen ihre marktseitenübergreifenden Quersubventionierungsstrategien zulasten einer Marktseite implementieren können, die über keine Ausweichmöglichkeiten verfügt. Damit wird zugleich dem wettbewerbsrechtlichen Grundsatz Rechnung getragen, dass jede Marktseite für sich genommen wettbewerbsrechtlichen Schutz genießt.181

2. Nicht-koordiniertes Parallelverhalten im engen Oligopol – besteht