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Marktabgrenzungserfordernis als Hindernis einer effektiven, zügigen und rechtssicheren

C. Schutzlücken im geltenden Regime der Missbrauchsaufsicht? Diskussion und

II. Flexibilisierung der Prüfungssystematik?

1. Marktabgrenzungserfordernis als Hindernis einer effektiven, zügigen und rechtssicheren

Das Missbrauchsverbot in Art. 102 AEUV und in §§ 18, 19 GWB ist ausschließlich an marktbeherr-schende Unternehmen adressiert. Dementsprechend beginnt jede Prüfung eines Verstoßes gegen Art. 102 AEUV bzw. § 19 GWB mit der Abgrenzung der relevanten Märkte und der Feststellung einer marktbeherrschenden Stellung (für das deutsche Recht siehe § 18 GWB).87 Erst wenn die Normadres-sateneigenschaft festgestellt ist, wird das Vorliegen eines missbräuchlichen Verhaltens geprüft. Da-mit wird implizit unterstellt, eine marktbeherrschende Stellung bestehe stets unabhängig vom konk-ret zu prüfenden Verhalten.

Die Feststellung der marktbeherrschenden Stellung hat in der Missbrauchskontrolle eine wichtige Filterfunktion: Sie bezeichnet die Schwelle, ab welcher Unternehmen mit Blick auf die Wettbewerbs-gefährdungen, welche ihr Verhalten hervorrufen können, einer „besonderen Verantwortung“88 un-terworfen werden. Kartellrechtliche Verbotsnormen betreffend unilaterales unternehmerisches Ver-halten greifen erheblich in die wettbewerbliche Freiheit von Unternehmen ein. Die Abgrenzung zwi-schen – ggfs. auch aggressivem – pro-kompetitivem Leistungswettbewerb und antikompetitivem Verhalten kann in der Praxis mit erheblichen Unsicherheiten verbunden sein.89 Wird im Ergebnis un-ternehmerisches Handeln untersagt, obwohl Wettbewerbskräfte noch wirksam sind, so kann die Missbrauchskontrolle selbst zu Wettbewerbsbeschränkungen führen. Die mit solchen „false positi-ves“ verbundenen Wohlfahrtskosten können erheblich sein. Die in Art. 102 AEUV / §§ 18, 19 GWB verankerte Grundentscheidung, das Missbrauchsverbot nur an marktbeherrschende Unternehmen zu adressieren,90 hilft, ein zu frühes Eingreifen der Wettbewerbsbehörden und Gerichte zu unterbin-den und die damit verbununterbin-denen Irrtumskosten91 zu reduzieren.

87 Siehe EuG, Urteil v. 14.9.2017, Rs. T-751/15, Contact Software, Rn. 76 ff.: Die Klägerin, die gegen eine Zurückweisung ihrer Beschwerde vorging, hatte in diesem Fall eine Daumenregel des Inhalts vorgeschlagen:

„Der Markt ist dort, wo der Missbrauch stattfindet“. Missbräuche seien ohne Marktmacht nicht möglich. Aus dem Missbrauch könne daher auf die Existenz einer marktbeherrschenden Stellung rückgeschlossen werden.

Das EuG hat eine solche Daumenregel abgelehnt und festgestellt (Rn. 78): „Wie die Kommission [...] zutreffend geltend gemacht hat, gibt es keine solche Regel. Für die Anwendbarkeit von Art. 102 AEUV muss sowohl nachgewiesen werden, dass das fragliche Unternehmen eine beherrschende Stellung auf dem relevanten Markt innehat, als auch, dass es diese Stellung missbraucht hat.“

88 Dazu Mestmäcker/Schweitzer, Europäisches Wettbewerbsrecht, 3. Aufl. 2014, § 16 Rn. 44 ff. m.N. zur Rspr.

89 Näher: Mestmäcker/Schweitzer, Europäisches Wettbewerbsrecht, 3. Aufl. 2014, § 4 Rn. 114.

90 Vorbehaltlich des § 20 GWB – dazu unten, C. III.4.

91 Zum Konzept der Irrtumskosten wegweisend: Joskow/Klevorick, Yale L. J. 89 (1979), 213, 231 ff.

Voraussetzung für die Funktionsfähigkeit dieses Filters ist allerdings, dass die Ermittlung einer markt-beherrschenden Stellung mit einem vertretbaren Maß an Aufwand und Rechtssicherheit möglich ist.

Während dies bei relativ stabilen Marktverhältnissen typischerweise der Fall ist,92 gibt es im Kontext der Digitalökonomie Fallkonstellationen, in denen erhebliche Zweifel bestehen.93

Zwar sind Märkte stets normative Konstrukte und ist die Marktabgrenzung häufig mit gewissen Un-gewissheiten und Unschärfen verbunden. Für die Abgrenzung von Märkten, auf denen Leistungen gegen Entgelt angeboten werden, haben die Wettbewerbsbehörden jedoch plausible Methoden zur Marktabgrenzung entwickelt. Der Preis eines Produkts bzw. einer Leistung hat sich ferner als ein Kri-terium erwiesen, dem Nachfrager bei ihrer Auswahlentscheidung regelmäßig besondere Aufmerk-samkeit schenken. Es kann daher regelmäßig als „Proxy“ für die Feststellung einer hinreichenden wettbewerblichen Kontrolle unternehmerischen Verhaltens dienen.

Auf Plattformmärkten stoßen die etablierten ökonomischen Methoden zur Marktabgrenzung und Marktmachtermittlung aber auf Grenzen. Dies gilt in besonderem Maße für den sog. „SSNIP“-Test und andere Methoden, bei denen Preis- und Kreuzpreiselastizitäten eine zentrale Rolle spielen.94 Zum einen beeinflusst die Preissetzung der Plattform auf einer Marktseite nicht nur die Anzahl der Teilnehmer auf eben dieser Marktseite, sondern aufgrund indirekter Netzwerkeffekte auch die At-traktivität der Plattform für die Teilnehmer auf anderen Marktseiten. Diese Wechselbeziehungen können auf Plattformen schnell Spiraleffekte erzeugen, mit der Folge erheblicher Marktanteilsverän-derungen in kurzer Zeit. Zwar ist es theoretisch möglich, den sog. SSNIP-Test auch auf mehrseitige Märkte anzuwenden,95 sofern man die entsprechenden Kreuzpreiselastizitäten kennt. Genau dies ist jedoch in der Praxis ein erhebliches Problem. Sind Nachfrageschätzungen zur Ermittlung von Prei-selastizitäten ohnehin schon anspruchsvoll im Hinblick auf Methode und Datenanforderungen, gilt dies für mehrseitige Plattformen noch verstärkt.96

Hinzu kommt, dass viele Plattformen von einer Nutzergruppe kein monetäres Entgelt verlangen (vgl.

z.B. Facebook, Google, HRS, MyTaxi etc.). Zwar steht dies der Abgrenzung eines separaten Marktes

92 Ausführlich zu den zunehmend verfeinerten ökonomischen Methoden der Marktabgrenzung und Marktmachtfeststellung: Schwalbe/Zimmer, Kartellrecht und Ökonomie, 2. A. 2011, S. 72 ff.

93 Siehe z.B. Wismer/Rasek, Market definition in multi-sided markets, OECD, DAF/COMP/WD(2017)33/FINAL.

94 „small but significant nontransitory increase in price“: Führt eine hypothetisch angenommene, geringfügige, aber signifikante und dauerhafte Preiserhöhung dazu, dass hinreichend viele Nachfrager auf leicht verfügbare Substitute ausweichen, sodass sich die Preiserhöhung nicht rechnet? Falls ja, geht von diesen Substituten ein hinreichend großer Wettbewerbsdruck aus, sodass sie in den relevanten Markt mit aufzunehmen sind.

95 Vgl. Filistrucchi/Geradin/van Damme/Affeldt, Journal of Competition Law and Economics 10 (2014), 293;

Kehder, Konzepte und Methoden der Marktabgrenzung und ihre Anwendung auf zweiseitge Märkte, 2013.

96 Vgl. Hamelmann/Haucap, ORDO 67 (2016), 269.

speziell für diese Plattformseite rechtlich nicht entgegen. Der deutsche Gesetzgeber hat dies mit der 9. GWB-Novelle durch die Einfügung eines neuen § 18 Abs. 2a GWB klargestellt.97 Der sog. SSNIP-Test ist in solchen Fällen jedoch faktisch unbrauchbar.98 Theoretisch könnte stattdessen ein sog. SSNDQ-Test für mehrseitige Märkte konstruiert werden, bei dem nicht eine hypothetische Preissteigerung, sondern eine Qualitätsabsenkung („Decrease in Quality“) zum Maßstab genommen wird.99 Wie aber eine solche Qualitätssenkung operationalisiert werden soll, ist unklar. Was sollte etwa ein 10% tiefe-rer Eingriff in die Privatsphäre sinnvollerweise sein, was ein 20% Anstieg der Datenabfrage? Auch muss eine Erweiterung des Datenzugriffs aus Nutzerperspektive nicht dieselbe herausragende Be-deutung haben wie der Preis. Durch die oft bestehende Intransparenz über das Ausmaß des Daten-zugriffs und der weiteren Nutzung der Daten können Nutzer entsprechende Verschlechterungen meist schwer erkennen und in ihrer Tragweite einschätzen, sodass sie darauf oft wenig sensibel rea-gieren.100 Zwar können die Bedingungen der Datennutzung unter Umständen durchaus ein relevanter Aspekt der Qualität von Produkten sein (bspw. in "Internet der Dinge"-Anwendungen), aber die Ope-rationalisierung weist zu viele Probleme auf, um sie für einen SSNDQ-Test verwenden zu können.101 Neben die methodischen Herausforderungen tritt die besondere Dynamik der digitalen Märkte,102 welche Wettbewerbsbehörden und Gerichte bei der Marktabgrenzung und Marktmachtbestimmung vor große praktische Schwierigkeiten stellt. Hinzu kommt, dass häufig verschiedene Geschäftsmodel-le aufeinandertreffen, die bei z.T. ganz unterschiedlicher Strukturierung der Wertschöpfungskette

97 §18 Abs. 2a GWB lautet: „Der Annahme eines Marktes steht nicht entgegen, dass eine Leistung unentgeltlich erbracht wird.“ Diese Feststellung war in der deutschen Rechtsprechung nicht unumstritten – siehe zuletzt OLG Düsseldorf, Beschl. v. 9.1.2015 – VI Kart 1/14 (V) = WuW 2015, 394, 398, HRS. Zu der Diskussion vor der 9.

GWB-Novelle siehe Podszun/Franz, NZKart 2015, 121.

98 Vgl. Kehder, Konzepte und Methoden der Marktabgrenzung und ihre Anwendung auf zweiseitge Märkte, 2013; Dewenter/Rösch/Terschüren, Abgrenzung zweiseitiger Märkte am Beispiel von Internetsuchmaschinen, 2014, abrufbar unter https://www.econstor.eu/bitstream/10419/103404/1/799249998.pdf; Monopol-kommission, Wettbewerbspolitik: Herausforderung digitale Märkte, Sondergutachten 68, 2015.

99 Vgl. Filistrucchi/Geradin/van Damme/Affeldt, Journal of Competition Law and Economics 10 (2014), 293.

100 Besonders wichtig ist in diesem Zusammenhang das bekannte Privacy Paradox, nach dem viele Individuen zwar auf der einen Seite sehr besorgt über den Schutz ihrer personenbezogenen Daten sind, gleichzeitig aber in ihrem faktischen Verhalten solche Daten oft großzügig weitergeben. Für einen Überblick über empirische Studien zu diesem Phänomen vgl. Kokolakis, Computers & Security 64 (2015), 122.

101 Vgl. Hamelmann/Haucap, ORDO 67 (2016), 269.

102 Betont z.B. in BKartA, Beschluss v. 4.12.2017, CTS Eventim, Rn. 202 (zum innovationsgetriebenen Wettbewerbsdruck, § 18 Abs. 3a Nr. 5 GWB): „... zielt insbesondere auf digitale Märkte, die der besonderen Dynamik des Internet ausgesetzt sind. Das Internet ist häufig bezogen auf alle internetbasierten Märkte von einer großen Dynamik und einer Vielzahl an Innovationen geprägt. Innovative Produkte und Dienste können innerhalb kurzer Zeit neue Internetmärkte schaffen und etablieren. Ebenso können Internetdienste aufgrund der Internetdynamik aber auch schnell an Bedeutung verlieren. Dabei spielen die für das Internet prägenden Faktoren der weitweiten Vernetzung und direkte Erreichbarkeit der Endkunden sowie die hohe

Innovationsgeschwindigkeit eine zentrale Rolle“.

bzw. Vertriebswege eine präzise Bestimmung der Wettbewerbsbeziehungen erschweren. Gerade wenn es um den Einsatz von digitalen Plattformen als Vermittler geht, können diese mit anderen Vertriebswegen in Wettbewerb stehen. Wie in der Fusionskontrolle103 wird unter Umständen eine differenziertere Berücksichtigung der unterschiedlichen „Nähe“ und damit zugleich Intensität der Wettbewerbsbeziehungen erforderlich.

Auch die zunehmende Individualisierung von Produkten und ggfs. auch Preisen nach Maßgabe von Nachfragerpräferenzen und Nutzungsprofilen kann die Abgrenzung von Märkten erschweren. Die Individualisierung kann potenziell zu einem „Lock-in“ und zu einer zunehmend engen Abgrenzung von Sekundärmärkten führen, wenn dem „Lock-in“ nicht mit Mitteln des Wettbewerbsrechts oder mit anderen Mitteln effektiv begegnet wird. Die Abgrenzung von Sekundärmärkten ist in der Praxis weiterhin mit erheblichen Rechtsunsicherheiten behaftet (näher hierzu siehe unten, VI.3.).

Mit dem Konzept der Marktbeherrschung bislang schwer zu erfassen sind schließlich Fallkonstellatio-nen, in denen sich zwar mit begrenztem Ermittlungsaufwand ein von Wettbewerb nicht kontrollier-tes Verhalten feststellen lässt – etwa wenn ein Informationsintermediär die im Verhältnis zu seinen Nachfragern der Intermediationsleistung bestehenden Informationsasymmetrien ausnutzt, um eige-ne Dienste zu bevorzugen – und auch nachgewiesen werden kann, dass hierdurch Wettbewerber vom Markt verdrängt werden, die bessere, nämlich präferenzgerechtere Dienste anbieten; wenn aber zugleich die normalerweise für eine marktbeherrschende Stellung geforderten marktstrukturel-len Kriterien, insbesondere ein Marktanteil auf dem Intermediationsmarkt von wenigstens 30-40 %, nicht vorliegen. Die Definition der marktbeherrschenden Stellung als die Möglichkeit, sich vom Wett-bewerb unkontrolliert zu verhalten, gerät hier mit den etablierten strukturellen Mindestanforderun-gen in Konflikt. In dem Maße, in dem in der Digitalökonomie Informationsintermediäre eine zuneh-mend marktsteuernde Bedeutung erlangen, ist daher die Frage aufgeworfen, ob bei einer systemati-schen Ausnutzung von Informationsasymmetrien mit Verdrängungswirkung auf Nachbarmärkten eine marktbeherrschende Stellung bereits aus der Fähigkeit gefolgert werden kann, diese Verdrän-gungswirkungen unabhängig von Leistungswettbewerb hervorzurufen. Eine konzeptionelle Rechtfer-tigung hierfür kann in dem Zusammentreffen zweier unterschiedlicher Formen von Marktversagen liegen: Einem gewissen, allerdings herabgesetzten Grad von Marktmacht und Informationsasymmet-rien.

103 Dazu z.B. Zimmer, The Antitrust Bulletin 6 (2016), 133, insb. 145 ff.

2. Reformoption: Flexibilisierung der Prüfungsmethodik in der