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Handlungsspielräume des deutschen Gesetzgebers in der Missbrauchsaufsicht – Zum

europäi-schem Recht

Vor einer Erweiterung der nationalen Missbrauchsaufsicht bleibt zu klären, über welche Spielräume das deutsche Kartellrecht im Verhältnis zum europäischen Wettbewerbsrecht verfügt. Art. 3 Abs. 1 S.

2 VO 1/2003 verpflichtet die mitgliedstaatlichen Wettbewerbsbehörden zur parallelen Anwendung von Art. 102 AEUV, wenn sie das mitgliedstaatliche Recht auf nach Art. 102 AEUV verbotene Miss-bräuche anwenden. Gemäß Art. 3 Abs. 2 S. 2 VO 1/2003 ist es den Mitgliedstaaten allerdings nicht verwehrt, „in ihrem Hoheitsgebiet strengere innerstaatliche Vorschriften zur Unterbindung oder Ahndung einseitiger Handlungen von Unternehmen zu erlassen oder anzuwenden“. Gleichzeitig gilt, dass die Anwendung des mitgliedstaatlichen Wettbewerbsrechts „nicht zum Verbot von Vereinba-rungen zwischen Unternehmen, Beschlüssen von Unternehmensvereinigungen und aufeinander ab-gestimmten Verhaltensweisen führen [darf], welche den Handel zwischen Mitgliedstaaten zu beein-trächtigen geeignet sind, aber den Wettbewerb im Sinne des [Art. 101 Abs. 1 AEUV] nicht einschrän-ken oder die Bedingungen des [Art. 101 Abs. 3 AEUV] erfüllen“ oder durch eine Gruppenfreistel-lungsverordnung erfasst sind (Art. 3 Abs. 2 S. 1 VO 1/2003).

Der Anwendungsbereich dieser beiden Konfliktregeln in Art. 3 Abs. 2 S. 1 und in Art. 3 Abs. 2 S. 2 VO 1/2003 scheint auf den ersten Blick durch die tatbestandliche Unterscheidung zwischen einseitigen Handlungen einerseits, Vereinbarungen und aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen anderer-seits voneinander abgegrenzt. In der Praxis können jedoch sehr wohl Überschneidungen auftreten.

Dies gilt für den Anwendungsbereich von Art. 101 und Art. 102 AEUV403 ebenso wie für den Anwen-dungsbereich von Art. 101 AEUV und den AnwenAnwen-dungsbereich von strengeren mitgliedstaatlichen Regeln betreffend unilaterales Verhalten. Für das deutsche Kartellrecht ist regelmäßig nicht mit Überschneidungen zwischen Art. 101 AEUV und § 20 Abs. 3 GWB – also dem an Unternehmen mit überlegener Marktmacht im Horizontalverhältnis adressierten Behinderungsverbot – zu rechnen: Im Anwendungsbereich des § 20 Abs. 3 GWB wird es zumeist an einer Vereinbarung bzw. an einem ko-ordinierten Verhalten fehlen. Mit großer Regelmäßigkeit treten Überschneidungen aber im Verhält-nis von Art. 101 AEUV und § 20 Abs. 1 und Abs. 2 GWB auf. Gerade das Konzept der „relativen Marktmacht“ erfasst mit der Abhängigkeit häufig Situationen, in denen (Vertikal-)Vereinbarungen zwischen Unternehmen vorliegen, zugleich aber machtbedingte Konflikte im Zusammenhang mit der

403 Siehe dazu EuG, Urt. v. 16.3.2000, Rs. C-395/96 P und C-396/96 P, Compagnie Maritime Belge Transports, Rn. 130 f.; Urt. v. 23.10.2017, Rs. T-712/14, CEAHR, Rn. 94 ff.

Anbahnung, Beendigung oder dem Inhalt der Verträge entstehen.404 Die Voraussetzungen des § 20 Abs. 1 bzw. Abs. 2 AEUV können erfüllt sein, auch wenn die jeweilige Praxis nach Maßgabe des Art.

101 AEUV nicht zu beanstanden ist – etwa weil sie weder eine Wettbewerbsbeschränkung i.S.v. Art.

101 Abs. 1 AEUV bezweckt noch bewirkt, oder weil die Voraussetzungen einer Freistellung nach Art.

101 Abs. 3 AEUV oder einer Gruppenfreistellungsverordnung erfüllt sind.405

Der Umstand, dass Art. 101 AEUV auf eine Vereinbarung anwendbar ist, ihr im Ergebnis aber nicht entgegensteht, schließt die Anwendbarkeit der Regeln über unilaterales Verhalten nicht aus. Dies ist in der Rechtsprechung der Unionsgerichte mit Blick auf das Verhältnis zwischen Art. 101 und Art. 102 AEUV anerkannt.406 So heißt es etwa im Urteil des EuG in der Sache CEAHR:

„Die Feststellung, dass ein Verhalten nach Art. 101 AEUV rechtmäßig ist, impliziert daher nicht grundsätzlich die Feststellung, dass dieses Verhalten nach Art. 102 AEUV rechtmäßig ist. Hierfür ist vielmehr zu prüfen, ob die Voraussetzungen für die An-wendung der letztgenannten Vorschrift erfüllt sind oder nicht.“ (Rn. 94)

Dasselbe muss für § 20 Abs. 1 und Abs. 2 GWB gelten. Ein gemäß Art. 101 AEUV zulässiges Verhalten kann nach § 20 Abs. 1 und Abs. 2 GWB verboten sein.

Zugleich ist für das Verhältnis zwischen Art. 101 und Art. 102 AEUV anerkannt, das die Wertungen des Art. 101 Abs. 1 und Abs. 3 AEUV sowie der Gruppenfreistellungsverordnungen auch im Kontext des Art. 102 AEUV von Bedeutung sind.407 Dies gilt in gleicher Weise für das Verhältnis zwischen Art.

101 AEUV und § 20 GWB.408 So würden nach Nothdurft z.B. „Unternehmen, welche die Kriterien ei-nes freigestellten selektiven Vertriebssystems nicht erfüllen, dazu auch über diese Regelung im Re-gelfall keinen Zugang erhalten können.“409 Die für alle GVOen vorgesehene Möglichkeit des Entzugs der Freistellung(Art. 29 VO 1/2003) zeigt allerdings, dass die Wertungen der GVOen die Beurteilung

404 Nothdurft, in: Langen/Bunte, § 20 GWB Rn. 8.

405 Nothdurft, in: Langen/Bunte, § 20 GWB Rn. 8.

406 Siehe EuG, Urt. v. 16.3.2000, Rs. C-395/96 P und C-396/96 P, Compagnie Maritime Belge Transports, Rn. 130 f.; Urt. v. 23.10.2017, Rs. T-712/14, CEAHR, Rn. 94 ff.

407 Vgl. EuG 23.10.2017, Rs. T-712/14, CEAHR, Rn. 95.

408 Siehe dazu Nothdurft, Relative Marktmacht. Gutachten zu Grundlagen, Bedeutung, Wirkung und Praxis der deutschen Missbrauchsverbote gegenüber relativ marktmächtigen Unternehmen, 2015, abrufbar unter

http://www.faire-importpreise.ch/pdf/gutachten.pdf, S. 16: „Schon rein faktisch wird in den allermeisten Fällen die Vereinbarung und Durchsetzung eines unter dem Aspekt des Kartellverbots freigestellten Vertriebssystems auch der Interessenabwägung nach § 20 Abs. 1, § 19 Abs. 1 Abs. 2 Nr. 1 GWB standhalten, weil in ihrem Rahmen die Wertungen von Art. 101 Abs. 1 und insbesondere Abs. 3 AEUV von hoher Bedeutung sind.“

409 Nothdurft, Relative Marktmacht. Gutachten zu Grundlagen, Bedeutung, Wirkung und Praxis der deutschen Missbrauchsverbote gegenüber relativ marktmächtigen Unternehmen, 2015, abrufbar unter http://www.faire-importpreise.ch/pdf/gutachten.pdf, S. 16.

eines Einzelfalls, in dem eine spezifische Machtlage festgestellt worden ist, nicht notwendig determi-nieren.410

Wie Fälle zu entscheiden sind, in denen die Berücksichtigung der Art. 101 AEUV zugrunde liegenden Wertungen nicht dazu führt, dass das Verhalten eines Unternehmen mit relativer Marktmacht für gem. § 20 Abs. 1 GWB zulässig erachtet wird, ist bislang nicht abschließend geklärt.411 Angesichts des Ziels von Art. 3 Abs. 1 S. 1 VO 1/2003, eine unionsweit einheitliche Beurteilung von wettbewerbsbe-schränkenden Vereinbarungen sicherzustellen, sind Zweifel an der These begründet, dass ein stren-geres mitgliedstaatliches Recht im Anwendungsbereich des Art. 3 Abs. 2 S. 2 VO 1/2003 sich gegen-über Art. 101 AEUV stets durchsetzt.412 Aus den Begründungserwägungen der VO 1/2003 wie auch aus der Gesetzgebungsgeschichte lassen sich keine klaren Kriterien für die Auflösung des potenziel-len Konflikts entnehmen. Dem Ziel, in der Anwendung des Art. 101 AEUV ein „level playing field“

herzustellen, steht die eindeutige Anerkennung der Zulässigkeit strengerer mitgliedstaatlicher Regeln betreffend einseitiges unternehmerisches Verhalten entgegen. Die Einfügung des Art. 3 Abs. 2 S. 2 VO 1/2003 ging seinerzeit maßgeblich auf das Bestreben der Bundesrepublik Deutschland zurück, das Verbot des Missbrauchs relativer Marktmacht beizubehalten. Begründungserwägung 8 der VO 1/2003 erkennt dementsprechend die Zulässigkeit von strengeren Regeln „zur Ahndung missbräuch-lichen Verhaltens gegenüber wirtschaftlich abhängigen Unternehmen“ an – die potenziell stets im Überschneidungsbereich mit Art. 101 AEUV liegen.

Da der Konflikt in Art. 3 VO 1/2003 nicht aufgelöst ist, liegt es nahe, auf die Rechtsprechung des EuGH zum Verhältnis zwischen europäischem und nationalem Wettbewerbsrecht vor Inkrafttreten der VO 1/2003 zurückzugreifen, als eine Regelung des Unionsgesetzgebers zum Verhältnis zwischen den staatlichen Rechtsvorschriften und dem Wettbewerbsrecht der EU noch fehlte. Maßgeblich war

410 Dies spricht gegen die These, dass sich „innerhalb freigestellter Vertragssysteme schon generell die

entsprechende Prüfung der Vereinbarungen nach § 20 Abs. 1 GWB erübrigt, weil insoweit die Sperrwirkung des Gemeinschaftsrechts nach Art. 3 Abs. 2 Satz 1 VO Nr. 1/2003 eingreift.“ – Für Nachweise zu dieser These, die Nothdurft als h.L. bezeichnet, siehe Nothdurft, Relative Marktmacht. Gutachten zu Grundlagen, Bedeutung, Wirkung und Praxis der deutschen Missbrauchsverbote gegenüber relativ marktmächtigen Unternehmen, 2015, abrufbar unter http://www.faire-importpreise.ch/pdf/gutachten.pdf, S. 16.

411 In seinem Urt. v. 11.11.2008, KVR 17/08 = WuW/E DE-R 2514, Bau und Hobby, Rn. 14 verneinte der BGH einen Verstoß gegen § 20 Abs. 1 GWB, betonte jedoch, dass dieses Ergebnis nicht bereits zwingend aus dem Eingreifen einer Gruppenfreistellungsverordnung folge. In BGH, Urt. v. 07.12.2012, KVR 11/12 = WuW/E DE-R 3967, Rabattstaffel, Rn. 22 konnte die Frage hingegen offenbleiben. Vgl. aber OLG München, Urt. v. 8.1.2009, U (K) 1501/08 = NJOZ 2009, 4179, 4184: Freistellung von Art. 101 AEUV könne einem zivilrechtlichen Anspruch aus § 19 Abs. 1 GWB nicht entgegengehalten werden, denn „eine Möglichkeit der Freistellung vom Verbot des [Art. 102 AEUV] gibt es nicht.“

412 So aber Weitbrecht, EuZW 2003, 69, 72; Röhling, GRUR 2003, 1019, 1022; wohl auch Billing/Lettl, WRP 2012, 773, 780 f. Vgl. ferner Taube, Das Diskriminierungs- und Behinderungsverbot für „relativ marktstarke“

Unternehmen, 2006, S. 161 f.

vor Inkrafttreten der VO 1/2003 das Urteil des EuGH v. 13.2.1969 in der Sache Walt Wilhelm.413 Da-nach war eine gewisse Eigenständigkeit der Wertungsgesichtspunkte im europäischen und im natio-nalen Recht grundsätzlich zu respektieren und schloss die parallele Anwendung der Rechtsvorschrif-ten nicht aus:

„Das Kartellrecht der Gemeinschaft und das staatliche Kartellrecht beurteilen die Kar-telle nicht nach den gleichen Gesichtspunkten. Artikel 85 [Art. 101 AEUV] stellt darauf ab, ob ein Kartell den Handel zwischen den Mitgliedstaaten behindern kann, wäh-rend jede der staatlichen Kartellgesetzgebungen von ihren eigenen Erwägungen aus-geht und die Kartelle lediglich nach ihnen beurteilt.“ (Rn. 3)

Die Grenze der parallelen Anwendung von Vorschriften, die auf unterschiedlichen wettbewerbspoli-tischen Wertungen beruhten, wurde in Walt Wilhelm folgendermaßen formuliert:

„Mit Rücksicht auf die allgemeine Zielsetzung des Vertrags ist diese gleichzeitige An-wendung des nationalen Rechts [und des Gemeinschaftsrechts] nur statthaft, soweit sie die einheitliche Anwendung des Gemeinschaftskartellrechts und die volle Wirk-samkeit der zu seinem Vollzug ergangenen Maßnahmen auf dem gesamten Gemein-samen Markt nicht beeinträchtigt“ (Rn. 4).

Bei einem Konflikt zwischen der Wertung des Art. 101 AEUV und der Wertung einer strengeren Norm des mitgliedstaatlichen Rechts betreffend einseitiges unternehmerisches Verhalten ist also zu prüfen, ob „die Wirkung der Gemeinschaftsordnung beeinträchtigt und die Verwirklichung der Vertragsziele gefährdet“ wären. Bei dieser Prüfung ist die grundsätzliche Entscheidung des Unionsgesetzgebers für die Zulässigkeit strengerer nationaler Regeln zu berücksichtigen. Die Absenkung der Interventions-schwelle im Verhältnis zum Missbrauchsverbot des Art. 102 AEUV wird als legitime wettbewerbspoli-tische Wertung anerkannt.

Erst wenn auf der Grundlage solcher Normen Vereinbarungen oder abgestimmte Verhaltensweisen, die nach Art. 101 AEUV bzw. auf der Grundlage etwa der Vertikal-GVO als zulässig gelten, breitflächig für missbräuchlich erklärt würden, würde ein Wertungskonflikt entstehen, der zugunsten des Vor-rangs des Unionsrechts aufzulösen wäre.

413 EuGH, Urt. v. 13.2.1969, Rs. 14/68, Walt Wilhelm. Das Urteil erging zu der Frage, ob mitgliedstaatliche Behörden auf einen Sachverhalt, der bereits Gegenstand eines Verfahrens der Kommission war, die Verbotsvorschriften des nationalen Kartellrechts anwenden dürfen.

Die im Gutachten unterbreiteten Empfehlungen überschreiten diese Schwelle soweit ersichtlich nicht. Empfehlenswert ist es allerdings, bei der anstehenden Überarbeitung der Vertikal-GVO auf eine Wertungsparallelität zur nationalen Missbrauchskontrolle gerade auch im Digitalisierungskon-text hinzuwirken.