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Text und Textilien: Wertezerfall und Ornament in der Mode des Wien vom fin de siècle:

Bald sind’s 100 000 Spindeln/ Und sie sausen um die Wette,/ Da der Schuß und dort die Kette./ Ha! Die dicken Baumwollbatzen/ Müssen durch die Karde hatzen,/ Werden dann das feine Vlies,/ Und die Spinnerin ist mies,/ Und die Dampfmaschine mächtig/ Und die Konjunktur ist prächtig/ Und die beiden Söhne tichtig / Und das ist besonders wichtig/

Und die Zukunft, sie ist heiter/ Und so fort: Gott helfe weiter!!!

(Hermann Broch)

Hermann Brochs Leben zwischen Text und Textile wurzelt in der Figur seines Vaters, der seinem Sohn bereits als Kind und jungem Erwachsenen den Weg für den Textilhandel ebnete.

Brochs Vater stammte aus Mähren, welches bereits seit dem 17. Jahrhundert ein Zentrum für den von jüdischen Familien dominierten Textilhandel war („Textile“).119 Den materialistischen Orientierungen seines Vaters nachkommend, studierte Hermann Broch Textilmaschinenbau und -technologie an der Wiener Webschule und an der Spinn- und Webschule zu Mühlhausen im Elsass.

In diesem familiären Milieu empfand er sich „noch vor [seiner] Geburt zum Spinner, Weber und Cottondrucker bestimmt“ (Broch, Briefe 166) und wurde in seiner webtechnischen Ausbildung für die Übernahme der Teesdorfer Spinnfabrik vorbereitet, welche sein Vater als deren Großlieferant im Jahre 1906 aufkaufte und aus einer finanziellen Misere rettete. „Da ist Dein Geschäft, da arbeitʼ!“ (Broch, Briefe 45) ist der Satz seines Vaters, der für Hermann Broch zwei Jahrzehnte lang zum Alltagsmotto wird.

Brochs Lebensstil war jedoch der eines literarischen Ästheten. Seine maßgefertigten Anzüge und unzähligen Accessoires hielt er in einem eigens erbauten Garderobenraum (Lützeler,

119 Der Eintrag in der Encyclopedia Judaica unter dem Begriff „Textilie“ betont, dass das Textilwesen des Habsburger Reiches seit dem 17. Jahrhundert von jüdischen Unternehmen dominiert wurde.

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Eine Biographie 48). Auf Fotos von 1906 bis 1910 erinnert Hermann Broch an einen in die Wiener Moderne versetzten Oscar Wilde. Er trägt eine klassische Melone, die er aber tief ins Gesicht gezogen hat, und wirft einen fast kokett wirkenden Blick in die Kamera. Auch Brochs Liebhaberinnen teilten seine Vorliebe für Mode und teure Kleidung. Seine erste Frau Franziska betrachtete die Mode als einen Teil ihres Amüsementprogrammes und alltäglichen Konsums (Lützeler, Eine Biographie 53). Brochs spätere Partnerinnen, Milena Jesenská und Ea von Allesch, verarbeiteten ihr Interesse für die Mode intellektuell und etablierten sich während ihrer Beziehung zu Hermann Broch als Modejournalistinnen. Die zehn Jahre jüngere Milena Jesenská befand sich während ihrer Liaison mit Broch noch in einer offenen Ehe mit Alfred Pollack. Ihren Lebensunterhalt in Wien finanzierte sie in der Zeit der österreichischen Nachkriegswirtschaft durch Portierarbeiten am Westbahnhof und durch Tschechisch-Unterricht, während sie sich zugleich auch als Modeschriftstellerin bei einem der bekannten Prager Tagesblätter profilierte (Lützeler, Eine Biographie 72).

Einen intellektuellen Höhepunkt erreichte Brochs Auseinandersetzung mit der Mode bei seiner Langzeitgeliebten Ea von Allesch. Interessant dabei ist, dass sich beide in ihrer Beziehung nicht nur zu Schreibenden entwickelten, sondern Interessenfelder voneinander übernahmen (McGaughey, „Hermann Broch und Ea von Allesch“ 51). Der Textilgroßfabrikant und -ingenieur Broch erlebte sich als Essayist und Schriftsteller; die Journalistin von Allesch etablierte sich als Schreibende über die Mode, und zwar als Modeschriftstellerin bei der bürgerlichen Modernen Welt (1922–1927) und der Prager Presse (1922–1927). Dabei nahm sie eine eigenwillige Position zum Ornament ein, wie sie in ihrem Artikel mit dem Titel „Akzessorien“ vom 3. Juli 2012 in der Prager Presse das modische Ornament als eines beschreibt, das zur Anziehung des männlichen Blickes dient. In diesem Artikel sind es insbesondere die „Akzessorien“ des Beines, vor allem die

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Seidenstrümpfe und das Schuhwerk, welche den männlichen Blick auf sich ziehen, wobei bei einem modischen Gesamtbild die Ornamente Teil eines „Gleichgewichtes der Kleidung“ (von Allesch, Prager Presse 1) sein müssen.

McGaughey beschreibt wie Adolf Loos, Broch und von Allesch ihre Abneigung gegen Kitsch teilten. Sie betrachteten Kitsch, Kostüm und Tracht als eine bloße Maskerade, welche die wahre Kunst unkenntlich macht. In der Ornamentdebatte bezogen sie jedoch nicht ein und dieselbe Position.120 Wie Jörg Gleiter in seiner Dissertation Kritische Theorie des Ornaments betont, ist Loos’ Leistung nicht die Abschaffung des Ornaments, sondern dessen Dynamisierung. Der moderne Mensch, so behauptet Loos in seiner polemischen Schrift „Ornament und Verbrechen“

(1908), durchläuft in seiner Kindheit „alle wandlungen, die der geschichte der menschheit entsprechen. Mit zwei jahren sieht er aus wie ein papua, mit vier jahren wie ein germane, mit sechs wie Sokrates, mit acht jahren wie Voltaire“ (276). Dabei klassifiziert Loos jedoch das Kreuz als erstes Ornament, das nichts weniger ist als „die erste künstlerische tat, die der künstler, um seine überschüssigkeiten los zu werden, an die wand schmierte“ (277). Es geht darum, das Ornament als schieres Dekorum121 von Körper und Baukörper zu reißen und die Notwendigkeit eines neuen, modernen, ornamentlosen Stils zu postulieren. Der Papua tätowiert seine Haut, der moderne Mensch jedoch nicht. Es ist also nicht nur der primitive Mann, auf den sich der Diskurs über die Ornamentlosigkeit in „Ornament und Verbrechen“ bezieht, sondern es geht darum, den Diskurs

120 Sarah McGaughey untersucht die biographische und literarische Relevanz von Brochs Beziehung zu von Allesch und betont, dass sie, obgleich sich beide als Schreibende mit der europäischen Kultur auseinandersetzen, in der Debatte um Adolf Loos’ Anti-Ornamentik jedoch nicht die gleiche Position beziehen.

121 Der Begriff wird an dieser Stelle im kunsthistorischen Sinne verwendet, das heißt als Weiterentwicklung eines Begriffs aus der antiken Rhetorik.

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der Ornament-Askese auf die Mode zu erweitern, wie Patrizia McBride in „In the Praise of Present“ (2004) argumentiert.

Kleidung erlaubt es dem Menschen, die Konflikte seiner Epoche in der Form einer neuen

„Einheit des Ganzen” (54) zu artikulieren und sie in diesem Prozess zu verarbeiten. Das Kleidungsverhalten in der Gesellschaft verdeutlicht für Broch den Unterschied zwischen Dekoration und Ornament. Dekoration ist keineswegs Ornament; Dekoration impliziert ein attachiertes Nichts ohne Funktion. Dabei vertritt Broch eine ganz klare These zum Ornament-Diskurs, die er nicht nur in seine architektonischen Beschreibungen einfließen lässt, sondern auch in seine Beschreibungen von Kleidung:

Aber die Selbstherrlichkeit des Rationalismus wagt sich an alles: – er geht hin, haut dem Greis den Kopf ab, reißt ihm seinen lächerlichen Litzenschlafrock herunter, steckt ihn in einen vernünftigen, englischen Schneideranzug. – nun ist der Greis gut gewaschen, praktisch beschuht, nun sei er jung und schön. Leider ist er nun geist- und geschlechtslos („Kultur” 33).

Broch plädiert für die Notwendigkeit des Ornaments für alles Geistvolle und Geschlechtliche; das Ornament ist essenzieller Bestandteil jeglicher Selbst- und künstlerischer Darstellung. Kunst kann ohne Ornamentik nicht bestehen, da das Ornament als Synopsis eines Stils fungiert, der das Denken einer ganzen Epoche beinhaltet. Demnach ist das Ornament in der Mode nicht nur Zeitspiegel, sondern auch notwendiges Funktionsteil eines Epochenstiles, den Broch zwar in drei Zeitabschnitte einteilt, diese jedoch in mehrere auf die Mode und Modegeschichte bezogene Zwischenetappen untergliedert. Dies wird bereits zu Beginn des Roman-Zyklus Die Schlafwandler deutlich, wenn in Pasenow oder die Romantik Herr von Pasenow als ostelbischer Junker, wohlproportioniert, mit Zylinder und Stock im rhythmischen Passgang geschildert wird:

Im Jahre 1888 war Herr v. Pasenow siebzig Jahre alt, und es gab Menschen, die ein merkwürdiges und unerklärliches Gefühl der Abneigung verspürten, wenn sie ihn über die Straßen Berlins daherkommen sahen, ja, die in ihrer Abneigung sogar behaupteten, daß

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dies ein böser alter Mann sein müsse. Klein aber von richtigen Proportionen, kein hagerer Greis, aber auch kein Fettwanst: er war richtig proportioniert und der Zylinder, den er in Berlin aufzusetzen pflegte, wirkte durchaus nicht lächerlich. (Pasennow oder die Romantik 11)

Pasenow versichert sich mit dem Blick in den Spiegel seines herkömmlichen, wilhelminischen, landadeligen Aussehens mit rötlich-blonden Haaren, Zylinder und raschem aufrechtem Gang.

Bereits zum Eingang des Romans wird deutlich, dass Pasenow eine Zeiterscheinung ist, die groteske Züge annimmt, indem die Körperteile und Kleidungsteile der Figur ein Eigenleben annehmen. Im rhythmischen Passgang trägt der Junker seinen Bauch vor sich her (11). Damit wird deutlich, dass der 1818 geborene Junker aus dem Straßenbild Berlins beinahe herausfällt und dass seine Abhängigkeit von alten wilhelminischen Traditionen als „romantisch” und damit im Sinne von Broch unzeitgemäß wirkt. Bereits zu Beginn von Pasenow oder die Romantik wird deutlich, dass die Verarbeitung des Kleidungsmotivs auf verschiedenen zeitlichen Stufen verläuft. In den folgenden Abschnitten werden genau diese verschiedenen Abstufungen am Beispiel der Schlafwandler-Trilogie und dem Motiv der Kleidung exemplarisch herausgearbeitet.

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