• Keine Ergebnisse gefunden

In Fotos zwischen 1902 und 1910 erscheint Kafka als Dandy par excellence mit “wide English neckties, upturned collars, and bowlers with a rather stiff flamboyance […] leaning almost coquettishly against a wrought iron fence covered with swirling vines” (Anderson 2). Insofern folgt Kafka dem Rat von Charles Baudelaire, der den Mann der Muße wie folgt beschreibt: „Was ist der höhere Mensch? Nicht der Spezialist, sondern der Mann der Muße und der allseitigen Bildung. […] Was mich groß gemacht hat, war zum Teil der Müßiggang“ (Baudelaire 57). Ohne sich in die tayloristische Bewegungsdynamik der Stadt einzugliedern, wandert der Flaneur die

92 Der Titel „Der Verschollene” war der bevorzugte Titel von Kafka für dieses Romanfragment, obgleich er sich zu diesem Roman häufig als Amerikaroman bezog. Kafka referiert an seinen Roman Der Verschollene selber als der

„Amerika-Roman“. Um eine ständige Wiederholung des Titels zu umgehen und auf die synonymische Verwendung der Titel hinzuweisen, alterniert der Autor ebenfalls zwischen den Titeln.

94

Straße entlang, ohne sich tiefgehend mit den einzelnen Erscheinungen zu befassen, sodass für ihn die Oberflächlichkeit der Dinge in den Vordergrund rückt. Obgleich die Käufer in den Arkaden keinen tayloristischen Habitus annehmen, sind sie Teil eines kommerziellen Lebens und damit Funktionen des Kapitalismus. So bleibt der Flaneur dennoch ein Produkt von übergreifenden Produktionsbedingungen, von denen er sich jedoch bewusst separiert. Die Ware in den Schaufenstern der Arkaden ist dabei weniger im Fokus als der Müßiggang. Denn das Nichtstun und sich von der Muße treiben lassen betreibt der Flaneur als Lebenszweck (Bertschick 112).

Eine Beschreibung des modernen Schriftstellers in der Großstadt passt besonders gut auf den Flaneur Kafka in Prag. Die entsprechende Bewegungsdynamik besteht nicht nur in einer Anpassung an die Bewegung der Massen, sondern erlaubt dem Schriftsteller die Zeit, die moderne Szene zu „lesen“:

These walking writers enter the public sphere in order to ‚read’ the texts of modernity within the continuum of their strolls, within the kaleidoscopic continuity offered at every street corner (4).

Georg Simmel, Siegfried Kracauer und Walter Benjamin legen eine deutliche Beziehung zwischen Flanerie und Modernität als eine Art des Schreibens, Denkens und Sehens dar, die sich in sogenannten Denkbildern niederschlägt (4). „Ornament und Langeweile“ ist das, was sich in der Figur des Schlendrians vor dem Hintergrund tayloristischer Bewegungsabläufe verbindet (Benjamin, Passagen-Werk 162). Damit wird deutlich, dass Kafka nicht nur seine Vorstellung der Ornamentik und der Kleidung mit dem Motiv der Flanerie in Verbindung bringt, sondern mit verschiedenen Bewegungsbildern so variiert, dass in seiner Prosa über das Motiv des Ornaments eine Vielzahl von Motiven miteinander verknüpft werden. In seinem Essay „Franz Kafka“

(1963)93, schreibt Kracauer über diese tayloristischen Schilderungen in Kafkas Prosa wie folgt:

95

Es ließe sich denken, dass Kafka bei der Beschreibung der Maulwurfshöhle jene menschlichen Organisationen vorgeschwebt hätten, deren Triumphe Schützengräben, Drahtverhaue und weitverzweigte Finanzprojekte sind (Kracauer, „Kafka“ 259).

In diesem Essay schildert er die Oberflächendynamik in Kafkas Prosa, die die Referenzen an Kracauers späteres Essay „Das Ornament der Masse“ vorwegzunehmen scheinen. Die scheinbare Welt der Oberflächen wird zum Spielraum für Bewegungsformationen, die auf eine ökonomische Dynamik rückverweisen. Eine Wirtschaft94 „gut“ führen, meint bei Kafka das Wirtschaften von Bewegungsdynamiken, so bemerkt Brunelda gegen Ende des Romans zu Delamarche:

„Ich will nicht, Delamarche“, hat sie gesagt, „Dass Du mir einmal Vorwürfe machst, ich hätte die Wirtschaft nicht gut geführt. Selbst kann ich mich nicht anstrengen, das siehst du doch ein, und Robinson genügt nicht; am Anfang war er so frisch und hat sich überall umgesehen, aber jetzt ist er immerfort müde und sitzt in einem Winkel […]“ (243).

Brunelda mit ihrem Operngucker begegnet der Welt mit einer Seitenaufschau und kann sich nicht wirklich in einem tayloristischen Bewegungsmovens vollends integrieren. Am Anfang konnte Robinson der Dynamik noch standhalten, jetzt hält er sich in einem Status quo und wirkt verbraucht, was ihn als „unwirtschaftlich“ deklassifiziert.

In einem 1928 verfassten Artikel über Paris überträgt Kracauer seine Ästhetik der Oberfläche auf die Stadt und beschreibt diese Bewegungsdynamiken. Seine Oberflächenästhetik, die insbesondere in der Welt des Films, des Musicals und des Varietés zu Beginn des 20. Jahrhunderts

93 Kracauer veröffentlichte dieses Essay in seiner Anthologie Das Ornament der Masse in 1963, obgleich er das Essay bereits 1931 geschrieben hatte.

94 In Kafkas Der Verschollene wird das Thema „Wirtschaft“ an verschiedenen Stellen angesprochen, zumal der Begriff bei Brunelda eine doppelbödige Bedeutung erlangt. So bemerkt Brunelda gegen Ende des Romans: „ʿIch werde krank von dieser Wirtschaft, Delamarche, und werde ganz gewiß in Deinen Armen sterbenʾ“; vgl. Franz Kafka, Der Verschollene, S. 279; zuvor bemerkt Delamarche bezüglich Bruneldas Ruhepause und einem allgemeinen Bewegungstopp: „ʿwißt ihr denn nicht, daß Brunelda nach dem Bade immer noch eine Stunde ruht?

Elende Mißwirtschaft! Wartet bis ich über Euch komme. Robinson, Du träumst wahrscheinlich schon wieder. Dich, Dich allein mache ich für alles verantwortlich was geschieht. Du hast den Jungen im Zaum zu halten, hier wird nicht nach seinem Kopf gewirtschaftetʾ“; vgl. Kafka, Der Verschollene, S. 278.

96

erscheint, ist eine abstrakte Bewegungsfigur, die jedoch nicht von der Masse getragen wird. Ihre Verbindung von Abstraktion und Naturwüchsigkeit wird gleichsam ins Optische übersetzt (Mülder-Bach, Grenzgänger 66), sodass eine optische Erscheinung nicht aus etwas erwächst, sondern als abgezogene Formation hervortritt (66). Kracauer sieht genau in einem Merkmal dieser Bewegung die geometrische Anordnung in der Choreographie der Tiller Girls:

Das von seinen Trägern abgelöste Ornament ist rational zu erfassen. Es besteht aus Graden und Kreisen, wie sie in den Lehrbüchern der euklidischen Geometrie sich finden; auch die Elementargebilde der Physik, Wellen und Spiralen, bezieht es mit ein. Verworfen bleiben die Wucherungen organischer Formen und die Ausstrahlung des seelischen Lebens (Kracauer 53).

Die Verbindung von massenornamentalen Bewegungsdynamiken und kinematographischen Strukturen beschreibt Kracauer auch in seinem Essay Das Ornament der Masse (1920) und betont, dass das Ornament zwar von den Massen zustande gebracht, jedoch nicht von ihnen mitgedacht wird.

In Kafka und der Film stellte Peter-André Alt eine Beziehung zwischen Bewegungsdynamik und kinematographischer Erzählweise zu Kracauers Ornamentbegriff her, indem er darauf hinweist, dass Kafkas Beschreibungen von Stadt und Verkehrsdynamiken die ornamentalen Strukturen der urbanen Unterhaltungsindustrie reflektieren, die Kracauer bereits in der Massenkultur der Nachkriegszeit erkannte (Alt 61). Sternenbilder und geometrische Bewegungsformen bedeuten jedoch nach Alt nichts außer sich selbst. Sie sind noch nicht einmal als „Schmuckbeiwerk der turnerischen Disziplinierung“ (61) vorstellbar, sondern das Ornament findet seine Entsprechung in den Flugbildern von Landschaften, Städten beziehungsweise Overhead-shots von Tiller Girls. Am Ende bleibt „ein Ornament [übrig], zu dessen Verschlossenheit die substanzhaltigen Gefüge sich entleeren“ (61). Dem Ornament fehlen eine organische Form und ein spirituelles Wesen. Die Tiller Girls erscheinen nicht als menschliche

97

Wesen, sondern die Struktur des Massenornaments ist abstrakt, ohne dass sie schiere Abstraktion wird. Das Ornament spiegelt auf diese Weise die Realität eines kapitalistischen Produktionssystems wider (Kracauer, „Das Ornament der Masse“ 50).

Dieser kinematographische Blick der Oberflächenästhetik in Kafkas Œuvre darf durchaus mittels Kracauers Ornament der Masse verstanden werden. Während die Verbindung zwischen einem kinematographischen Blick auf die moderne Stadt und Kracauers Oberflächenästhetik in Kafkas Frühwerk Betrachtung etabliert ist, wird in der vorliegenden Arbeit vorgeschlagen, dass zwischen der Ornamentik in der Mode und den Bewegungsabläufen in Kafkas Der Verschollene eine ähnliche Verbindung besteht. Das von Kracauer beschriebene Ornament ist der modernen Unterhaltungskultur des Films, den Varietéprogrammen und den Musicals der 1920er-Jahre mit ihren massenornamentalen Tanzformationen zugeschrieben, an denen sich nicht nur eine geometrische Bewegungsstruktur, sondern auch, wie Inka Mülder-Bach betont, eine sozial-kritische und ökonomische Realität formiert (Mülder-Bach 359). Es ist die „produktionsgerechte Taylorisierung des Körpers, die Zergliederung seiner organischen Rhythmik“ (Mülder-Bach 63) nach der „Motorik der Knie, Arme, Fußspitzen und des ganzen Rumpfes gemeint; und das gedrillt in Kollektion“ (Kracauer 18; Mülder-Bach 63).

Outline

ÄHNLICHE DOKUMENTE