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Kunstgeschichtliche Diskurse um das Ornament in der Mode um die Jahrhundertwende mit

Jahrhundertwende mit besonderer Berücksichtigung der Kleidungsmotivik in Franz Kafkas ‚Betrachtung‘ (1912)

Zum Verständnis der Kleidungsmotivik bei Kafka benötigt die in der Einleitung skizzierte kunsthistorische Übersicht einige Ergänzungen.88 Kafkas Schreiben enthüllt seine detaillierten Beobachtungen zur Ornamentik und Mode. Während es im 19. Jahrhundert noch eine Darstellung der Ornamentik gibt, die sich an die Umwälzung des Kunstgewerbes anschließt und bei der sich das Ende des exklusiven Einzelexemplars anbahnt (Raulet 72), kommt es im frühen 20.

Jahrhundert in der Kunstgeschichte und in der Literatur zu einem Aufblühen der Diskussion um das Ornament. Gleichzeitig gibt es seit dem Ende des 19. und dem Anfang des 20. Jahrhunderts einen Umschwung in der wirtschaftlichen Debatte um das Ornament und seine Verbindung zu Textilien. Die Produktion wichtiger Gebrauchsgüter wie Textilien unterlag der Arbeitsteilung. Für den ornamentalen und orientalisch besetzten Stoffdruck bedeutete dies, dass die Konkurrenz immer mehr anzog, sodass sich jeder Produzent durch eine Palette von ornamentalen Mustern zu wappnen suchte (Rosenlecher 119). Aus dieser Konkurrenz ergab sich eine weitere Verzahnung von Textilie und Ornament. Reisende Textilhändler waren auf eine Varietät von ornamentalen

88 Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie (Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1993); Raulet/Schmidt, Kritische Theorie des Ornaments (Wien: Böhlau, 1993); Adolf Loos, Ornament und Verbrechen, in: Sämtliche Schriften, hrsg. v. Franz Glück, (Wien: Herold, 1962); Markus Vitruvius Apollo, Zehn Bücher über Architektur, hrsg. v. Jakob Prestel (Baden-Baden: Heitz, 1974); Gottfried Semper, Wissenschaft, Industrie und Kunst und andere Schriften über Architektur, Kunsthandwerk und Kunstunterricht, hrsg. v. Hans W. Wingler (Mainz: Neue Bauhausbücher, 1966); Michael Müller, Die Verdrängung des Ornaments (Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1977); Gérard Raulet, Natur und Ornament. Zur Erzeugung von Heimat (Darmstadt: Sammlung Luchterhand, 1987); Siegfried Kracauer, Das Ornament der Masse (Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1977); Ernst Bloch, Die Erzeugung des Ornaments, in: Gesamtausgabe (Frankfurt/M.:

Suhrkamp, 1985); Owen Jones, The Grammar of Ornament (London: AC Black, 1856), Hans Sedlmayr, Verlust der Mitte. Die bildende Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts (Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1983); Jörg Gleiter: Kritische Theorie des Ornaments. Zum Statuswandel der Ästhetik in der architektonischen Moderne (Diss. Bauhaus-Universität Weimar, 2001).

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Mustern erpicht, sodass die Stoffdrucker selbst eigene Warenlager mit Stoffen anlegten, um Kaufwünsche möglichst umstandslos befriedigen zu können (119).

Was Franz Kafka betrifft, hat er anhand des väterlichen Galanteriewarengeschäfts frühe Einblicke in die damals modischen Stoffe und Muster ermöglicht. Die Motivik der Kleidung und des Ornaments kommt bereits im Frühwerk von Franz Kafka vor. Bereits in den frühen Texten wie Betrachtung (1912) und „Beschreibung eines Kampfes“89 lässt sich ein gezielter Motivgebrauch von Textilien und Ornamentik erkennen. Kafkas Beobachtungen zur Verwendung der Kleidungsmotivik im Sammelband Betrachtung (1912) sollen in den Motivgebrauch von Kleidung und Ornamentik in seinem späteren Werk Der Verschollene (1911–1914) überführen. In Betrachtung verweisen Momente des Ornamentalen und Dekorativen in der Kleidung auf das Reich der Galanteriewaren und auch auf eine Welt von schillernden, medial undurchdringbaren Oberflächen (Anderson 21). Während etliche der kurzen Texte aus Betrachtung eine nicht zu identifizierbare, beobachtende Erzählerposition beziehen, erzählt „Der Kaufmann“ aus der ersten Erzählposition einer fiktiven Person, die die Umstände einer schnelllebigen, modernen Welt schildert:

Für Stunden im voraus muß ich Bestimmungen treffen, das Gedächtnis des Hausdieners wachhalten, vor befürchteten Fehlern warnen und in einer Jahreszeit die Moden der folgenden berechnen, nicht wie sie unter Leuten meines Kreises herrschen werden, sondern bei unzugänglichen Bevölkerungen auf dem Lande. Mein Geld haben fremde Leute; ihre Verhältnisse können mir nicht deutlich sein; das Unglück, das sie treffen könnte, ahne ich nicht; wie könnte ich es abwehren! (Kafka, „Der Kaufmann“ 20).

Die Kleidung fungiert als eine Metapher und Verkörperung von Erscheinungsformen des modernen Austauschs beziehungsweise Verkehrs (Anderson 21). Kennzeichnend ist hier die

89 Kafka hat individuelle Teile des Textes zwischen 1903 und 1907 in dem literarischen Magazin Hyperion veröffentlicht, während eine volle Publikation erst nach Kafkas Tod erschien.

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Feststellung des Kaufmanns: „Mein Geld haben fremde Leute“ („Der Kaufmann“ 29). Die Mode ist in ökonomische Strukturen eingebunden. Vor allem fürchteten jüdische Geschäftsleute wie Kafkas Vater die Ressentiments der tschechischen Nationalisten, die jüdische Läden boykottierten und oft auch verwüsteten (Anderson 29). Die Verzahnung von Ornament und Ökonomie wird vor allem in den Texten deutlich, wo sie Bekleidung nicht als Alltagsgewand, sondern als eine von Ornament durchsetzte Kleidung erscheint.

Das Ornament und das Kuriose sind Schauplatz der Spannungen von dem Ich und seiner äußeren Nachahmung zu Beginn des 20. Jahrhunderts. In den Texten des Bandes Betrachtung scheint das minutiöse Detail der Darstellung ein unsicheres Ich zu verstecken.

So entsteht ein raffiniertes Spiel zwischen dem inneren Ich und der äußeren Selbstpräsentation. Der schon erwähnte kleine Text „Kleider“ stellt diese Problematik sehr anschaulich dar. Oft wenn ich Kleider mit vielfachen Falten, Rüschen und Behängen sehe, die über schönen Körpern schön sich legen, dann denke ich, dass sie nicht lange so erhalten bleiben, sondern Falten bekommen, die, dick in der Verzierung, nicht mehr zu entfernen sind, und dass niemand sich so traurig und lächerlich wird machen wollen, täglich das gleiche kostbare Kleid früh anzulegen und abends auszuziehn (Kafka, „Kleider“ 136). Dieser Text bietet im zweiten Satz ein Trompe-l’oeil (Anderson 29), welches Kleider als die Gesichter junger Mädchen zeigt, deren Gesichtszüge sich als natürliche Kleider entpuppen.

Die Kleider fungieren in diesem Sinne mimetisch und ahmen einen imaginierten weiblichen Körper nach (143). Diese Kleider sind jedoch schwer, beladen von Plisseefalten und anderen textilen Fortsätzen. Eine derart überladene Kleidung wird als alt und getragen beschrieben, sodass bereits an eine ästhetische einfachere, ökonomischere Kleidungsform im Sinne von Loos appelliert wird (31).

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Ökonomie und Kleidung zeigt sich bei Kafka am Ornament, nicht nur in kulturhistorischer Hinsicht wie am Beispiel von Loos und einem damit einhergehenden asketischen Ideal, sondern auch sozialhistorisch, insofern, als dass das Ornament sich gleichfalls an der Welt der Kleidung und des Kuriosen ausmacht.

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