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In einer „Art Einleitung“ bietet Musil dem Leser einen groben Überblick über die miteinander verwobenen Diskurse seines „Erzählteppichs“ (Luskerke-Jaqui 317) und die verschiedenen diskursiv verschalteten Zeit-, Orts-, Handlungs- und Figurenebenen seines Romans.

Mit dieser ʻEinleitungʼ – aus der „bemerkenswerterweise nichts hervorgeht“ (9) –, verführt Musil den Leser dazu, über das Erzählgeflecht „als semiotisches Objekt nachzudenken und die narrativen Freiheiten und Zwänge mit zu reflektieren“ (Peyret 38).

Betrachtet man, in welchem Flechtwerk die Figuren eingeführt werden, zeigt sich ein Spiel mit der Auktorialität138 des Textes, ein Perspektivenspiel, das sich aus der Inszenierung und dem Nachverfolgen der eigenen Beobachtungsposition ergibt. Das polychrone Gewebe als eine Form des textere – des Webens eines Textes – bildet nicht nur auf metaphorischer Ebene einen Kernpunkt von Musils Erzählvorhaben, sondern erstreckt sich bis auf die Metaebene des Textes – das Erzählen selbst. Ulrich erkennt, dass die „erzählerische Ordnung“ (MoE 650) das Gesetz des Lebens darstellt und ihm besonders dieses „primitiv Epische abhanden gekommen sei, woran das private Leben noch festhält“ (650), obgleich öffentlich alles schon un-erzählerisch geworden ist und nicht mehr einem Faden folgt, sondern sich in einer „unendlich verwobenen Fläche“ (650) ausbreitet. Der Erzählgegenstand in Musils Roman hat die Intention, „wie ein Essay in der Folge seiner Abschnitte […] von vielen Seiten aus“ (250) das Erzählte zu beleuchten. Sein Flechtwerk,

138 Der Erzähler repräsentiert nicht mehr eine allwissende Position von einem „olympischen Standpunkt” aus (Stanzel 170), sondern zerfällt zu einem vermittelnden Körper, der die Einheit der epischen Welt nicht mehr gewähren kann; vgl. auch Claus Erhart, Der ästhetische Mensch bei Robert Musil. Vom Ästhetizismus zur schöpferischen Moral (Innsbruck: Innsbrucker Beiträge zur Kulturwissenschaft, 1987), S. 236.

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wie Musil herausstellt139, wird demzufolge zu einem Roman, der nicht die Geschichte erzählt, die erzählt werden soll, weil er die Aufgabe annimmt, die moderne Welt in sich abzubilden.

Der vielfältig gebrochenen Wirklichkeitserfahrung von Ulrich entsprechend, löst Musil die Kontinuität einer durchgehenden Handlung auf, indem er ausgedehnte Reflexionen einflicht. Die individuelle Optik des Erzählers bereichert den Roman, relativiert aber auch die Geschichte und die Problematik eines ʻHandlungsträgersʼ als thematisches Zentrum des Textes, sodass eine vom Subjekt befreite, absolute Prosa, ein Roman, in dem „alles nur Zeichen ist“ (928), entstehen kann.

Anhand der Figur des Ulrich betont Musil, dass sein Roman nicht nur in der Form, sondern auch im Denken essayistisch sein soll. Durch ein Zusammenspiel von Diskursen werden die Zeit-, Orts- und Handlungs- sowie die Figurenebenen zu einem Erzählteppich verwoben.

Zwar können wir den Roman als Ganzes betrachten und versuchen, ein erzählerisches Gesamtsystem in kommunizierbare Teilsysteme zu zerlegen140, doch kommt dies der Komplexität an Diskursivität „mitsamt dem Netz der daran anknüpfenden Begriffe141“ (Foucault, Ordnung des

139 Insbesondere in MoE (Musils Der Mann ohne Eigenschaften wird desweiteren mit dem Kürzel MoE abgekürzt):

„Die meisten Menschen sind im Grundverhältnis zu sich selbst Erzähler. Sie lieben nicht die Lyrik, oder nur für Augenblicke, und wenn in den Faden des Lebens auch ein wenig ʻweilʼ und ʻdamitʼ hineingeknüpft wird, so verabscheuen sie doch alle Besinnung, die darüber hinausgreift: sie lieben das ordentliche Nacheinander von Tatsachen, weil es einer Notwendigkeit gleichsieht […]. Und Ulrich bemerkte nun, dass ihm diese primitive Epische abhanden gekommen sei, woran das private Leben noch festhält, obgleich öffentlich alles schon unerzählerisch geworden ist und nicht einem Faden mehr folgt, sondern sich in einer unendlich verwobenen Fläche ausbreitet”; vgl.

Musil, MoE, S. 650.

140 Christoph Hoffmann beschreibt Musils Roman als Erzählapparatur wie folgt: „Musils Texte sind Apparate, in denen Ereignisse nach bestimmten Regeln zusammengebracht und verschaltet werden und übertragen von einem Apparat namens Schriftsteller, der als Medium bestimmt ist, und hergestellt von einem Schreibapparat, dessen Produktionen wie eine maschinelle Leistung rationalisiert wird“; vgl. Hoffmann, Christoph. „Dichter am Apparat“.

Medientechnik, Experimentalpsychologie und Texte Robert Musils 1899 – 1942 (München: Wilhelm Fink Verlag, 1997), S. 186.

141 Diese Begriffe sind für Foucault Regelhaftigkeit, Zufall, Diskontinuität, Abhängigkeit, Transformation: „Die grundlegenden Begriffe, die sich jetzt aufdrängen, sind nicht mehr diejenigen des Bewusstseins und der Kontinuität (mit den dazugehörigen Problemen der Freiheit und der Kausalität), es sind auch nicht die des Zeichens und der Struktur. Es sind Begriffe des Ereignisses und der Serie, mitsamt dem Netz der daran anknüpfenden Begriffe:

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Diskurses 36) und der Verflechtung der Figurenapparate nicht bei. Betrachten wir den Roman als ein Erzählgeflecht142, kann dieses in kommunizierende Teilgewebe entflochten werden, die als Berührungsknoten fungieren, über welche eine Kommunikation143 stattfindet und die als diskursive Knotenpunkte144 gedacht werden können. Durch diese Knotenpunkte lassen sich die narrativen Teilsysteme erneut zu einer „unendlich verwobenen Fläche“ (650) zusammensetzen.

Die Figurenkonstellation und das Kleidungsverhalten der Figuren in dem Roman Der Mann ohne Eigenschaften (1930) ist folglich als Ausdruck der funktionalen Differenzierung von Diskursen zu begreifen.

Musil eröffnet seinen Roman nicht mit einer konventionellen Exposition der Zeit-, Ort-, Handlungs- und Personalebenen, sondern er bietet dem Leser einen Aufblick auf seinen Erzählteppich als eine Art Anleitung, mit welcher er durch die Bedeutung der Kleidungs-metaphorik an die Kontingenz- und Subjektivitätsproblematik seines Romans Der Mann ohne

Regelhaftigkeit, Zufall, Diskontinuität, Abhängigkeit, Transformation“; Michel Foucault, Die Ordnung des Diskurses, transl. Walter Seitter (Frankfurt a. M.: Fischer, 1991), S. 36.

142 Foucault betrachtet die Überlappung von Diskursen auch als ein „Geflecht” und bedient sich dieser Metaphorik, Michel Foucault, Die Ordnung des Diskurses, S. 14–15.

143 In der Musil-Forschung wurde versucht, Kommunikation anhand von Luhmanns Systemtheorie zu erklären, indem die zentrale Prämisse eine operative Geschlossenheit von Systemen ist, wie das soziale System

(Kommunikation) und das psychische System (Bewusstsein). Zwar gibt es „ohne Bewusstsein keine

Kommunikation und ohne Kommunikation kein Bewusstsein”, dennoch operieren diese Bereiche stets innerhalb ihrer Grenzen, sodass der Austausch zwischen Bewusstsein und sozialem System nie vollständig sein kann; vgl.

auch Ingrid Berger, Musil mit Luhmann. Kontingenz-Roman-System (München: Fink, 2004); Roland Kroemer, Ein endloser Knoten? Robert Musils Verwirrungen des Zöglings Törleß im Spiegel soziologischer, psychoanalytischer und philosophischer Diskurse (München: Fink, 2004), S. 193.

144 Dass sich überschneidende Diskurse als Knotenpunkte fungieren, erwähnt Musil bereits im Törleß: „Es war, als ob er eine unaufhörliche Division durchführen müsste […], oder als ob der fiebernde Finger wundbemühte, um einen endlosen Knoten zu lösen”; Robert Musil, „Die Verwirrungen des Zöglings Törleß“ in Gesammelte Werke. Bd.

6 (Reinbeck: Rowolth 1978), S. 65. Musil selbst beschrieb den Törleß als den „Anfang der Linie, an deren Ende der M.O.E. steht”; vgl. Robert Musil, Gesammelte Werke. Bd. 7 (Reinbeck: Rowolth 1978), S. 964; vgl. auch die Studie, die diesen Gedankengang ansatzweise berührt: Roland Kroemer, Ein endloser Knoten? Robert Musils Verwirrungen des Zöglings Törleß im Spiegel soziologischer, psychoanalytischer und philosophischer Diskurse (München:

Wilhelm Fink Verlag, 2004), S. 10–12.

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Eigenschaften heranführt. Bereits seine frühen Texte der Zwanzigerjahre zeigen eine Verbindung zwischen Kleidungsmetaphorik und dem Textilwesen zu Beginn des 20. Jahrhunderts.

6.2 Am Anfang der Linie, an deren Ende der M.O.E. steht: zur Kleidungsmetaphorik in

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