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Mit einer deutlichen Prise Satire exemplifizieren die Frauenfiguren in Der Verschollene die traditionellen Geschlechterrollen. Sie brechen jedoch auch zum Teil mit den alten Stereotypen:

man denke nur an die vampirische Clara. Vom Dienstmädchen, dessen Schwangerschaft Karls

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Verschickung nach Amerika verursachte bis hin zur Mischfigur Brunelda, die zwischen

Schauspielerin und Dirne oszilliert (Bertschick 171), wird ein breites Spektrum an Frauenfiguren dargestellt.

Levy-Lenz umschreibt in Der Arzt im Hause (1926) die verschiedenen Frauentypen zu Anfang des 20. Jahrhunderts. Dabei repräsentieren die Frauenfiguren in ihren symptomatischen und unterschiedlichen Versuchen, verschiedene Weisen, um mit der Figur der Kokotte zu

„konkurrieren“:

Man kopiert überdies bewusst die Kokotte in der Mode und in der Freiheit des Auftretens. Man wetteifert mit ihr in Kosmetik, Dekolettage und Tanzart. Man muss mit ihr wetteifern, denn man fürchtet sie als Nebenbuhlerin bei den ‚Seitensprüngen‘

des Ehemannes. […] Und wie schwer ist es doch für die Frauen der Gesellschaft eine Grenze zu ziehen zwischen den Frauen, von denen man spricht, und denen, von denen man – auch spricht (255).

Eine Modetheorie der feinen Unterschiede zwischen den verschiedenen Frauentypen lässt sich mit Hilfe der Kategorien von Georg Simmel aus seinem Essay „Die Philosophie der Mode“ (1905) begreifen. Mit der Ablösung von starren Ständegesellschaften gewinnt Mode an differenzierter Ausdruckskraft. Während der Stand für „gottgegeben“ gehalten wird, ist es die soziale Klasse eben nicht und bleibt deswegen flexibel (Vinken 126).

„In diesem Augenblick ging über die Brücke ein geradezu unendlicher Verkehr“ lautet der letzte Satz in Kafkas Das Urteil (42) und subsumiert die verschiedenen Bedeutungen von Verkehr in der Abstraktheit und scheinbaren Losgelöstheit des letzten Wortes, in welchem sich die ganze Narration synoptisch bündelt. Prostitution und Bewegung sowie die Idee des Verkehrs in all seinen deutsch-etymologischen Auffächerungen, wie Geschäfts-, Schreib-, Straßen- und Geschlechtsverkehr, sind direkt miteinander verbunden (Anderson 142). Levy-Lenz

Beobachtungen zeigt diese Verbindung auf:

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Man darf eben nicht vergessen, daß der Körper der Prostituierten das Zahlbrett ist, über das hinweg nicht unbeträchtliche Teile des Nationalvermögens ihren Kreislauf nehmen (199).

Die Kokotte zeichnet sich nicht nur durch eine bestimmte Einbettung in eine Sozialdynamik aus, wodurch sie Strukturen reflektiert, die auch Kracauer später in „Das Ornament der Masse“

offenlegt. Das „Zahlenbrett“ (199) als Körper der Prostituierten erinnert dabei daran, dass Kafka in Der Verschollene nicht ein organisiertes politisches Kollektiv und die als Proletariat unter-drückte Klasse beschreibt, sondern im Sinne von Kracauer die „Vermassung“ (Mülder-Bach 70) im soziologischen Sinn als Signatur moderner industrieller Gesellschaften zeigen möchte, die sich anhand der Figur der Kokotte manifestiert. Dabei hantiert diese Figur mit der Ambivalenz des modischen Ornamentes als kulturhistorisches Beiwerk und als Marker einer Bewegungsstruktur und zeigt damit auch einen ganz klaren Bruch zwischen Kafka und Kracauer insofern, als Kracauers Konzept des Massenornamentes stets an Bewegungsformationen gebunden bleibt und das Ornament in Kafkas Texten zusätzlich auch als autonomes, kulturhistorisches Objekt stehen kann.

Das Ornament beschreibt dabei eine Bewegungsformation, die aus dem Taylorismus entspringt. Die Integration in diesen für Kafka „amerikanischen“ Bewegungsmodus entscheidet über die gesellschaftliche Organisierung und Positionierung. In einen Brief an Grete Bloch schreibt Kafka 1914 bezüglich der Textilindustrie:

Ich habe vor ein paar Tagen mit dem einen Chef einer großen Wäschefabrik, Joss und Löwenstein, gesprochen, Eugen Löwenstein heißt er. Das Gespräch kam auf Organisationsfragen, er läßt gerade durch einen Amerikaner seinen ganzen komerciellen und technischen Betrieb neu organisieren. Das erste, woran ich natürlich dachte, waren Ihre Maschinen. Sie haben sie auch in der Fabrik, aber die wollen sie abschaffen, die Leute arbeiten nicht gerne damit, es bewährt sich nicht (Kafka, Briefe 1914-1917 90).

Dieser Brief an Grete Bloch zeigt noch einmal die Verzahnung von Textilwesen, Kafkas Know-How und den Diskurs des Taylorismus, der sich als solcher in literarischer Form in Der

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Verschollene als ein Bewegungsdiskurs widerfindet. Karl Roßmanns Schicksal ist somit, dass er gleich den „zu alten Maschinen,“ aus diesem Bewegungsmodus herausfällt. Karl Roßmanns Strafe ist es an den gesellschaftlichen Rand gedrängt zu werden.102 Das Romanfragment macht jedoch nicht deutlich, inwiefern ein Leben am Rande der Gesellschaft – zumal unter dem von Karl gewählten Namen ‚Negro‘ – eine positive Möglichkeit darstellt.

Am Anfang des Romans verrät die Freiheitsstatue im New Yorker Hafen ihre intendierte hoffnungsvolle Begrüßung neuer Einwanderer nicht – oder wenigstens in den Augen Karl Roßmanns. Statt der leuchtenden Fackel scheint die Freiheitsgöttin ein Schwert in der Hand zu halten. Karls Fehlbeobachtung lässt sich wohl auf seine Angst vor der Verbannung in einer gefährlichen neuen Welt zurückführen.103 Für Karl Roßmann scheint das Schwert auch seine soziale Zugehörigkeit in der neuen Welt in Frage zu stellen. Ein ähnliches Moment finden wir im ersten Kapitel von Der Verschollene:

Ihr Arm mit dem Schwert ragte wie neuerdings empor, um ihre Gestalt wehten die freien Lüfte (7).

102 Trotz der „Verbannung“ findet für Karl Roßmann auch eine Metamorphose statt, indem er eine neue soziale Welt mit der Last der väterlichen Schuld betritt. In einer späteren Notiz in seinen Tagebüchern verglich Kafka die Figur des Roßmann bezüglich der väterlichen Schuld mit der Figur des K. in Der Process: „Roßmann und K., der Schuldlose und der Schuldige, schließlich beide unterschiedlich strafweise umgebracht, der Schuldlose mit leichter Hand mehr zur Seite geschoben als niedergeschlagen“; Franz Kafka, Tagebücher in der Fassung der Handschrift (Frankfurt: S.

Fischer Verlag, 2008), 30.09.1915.

103 Die Forschung hat auf diese Wahrnehmung Karls als ein Impuls aus Arthur Holitschers Amerika heute und morgen sowie die voraugegangene Publikation dieser Reiseberichte in der Neuen Deutschen Rundschau

hingewiesen; vgl. Jürgen Born, Kafkas Bibliothek. Ein beschreibendes Verzeichnis (Frankfurt: Fischer 1990); Alfred Wirkner, Kafka und die Außenwelt: Quellenstudien zum Amerika Fragment (Stuttgart: Klett 1976); Carolin

Duttlinger, „Visions of the New World Photography in K’s Der Verschollene“ in: GLL 50 (2006), S. 423-455. Das Bild der Freiheitsstatue ist jedoch nicht sehr deutlich, denn was sie eigentlich in der Hand hält wird vom Fotoappart nicht scharf genug wiedergegeben.

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Das Schwert als ornamentale Bestückung verweist darauf, dass eine Illusion von Freiheit in einem unterdrückenden System suggeriert werden mag, das jedoch durch seine Machtstrukturen regelrecht signiert und unterminiert wird. Der Anspruch des Staates, seinen Einwohner Freiheit zu gewähren, steht in starkem Konflikt mit dem ökonomischen und rassistischen Unterdrückungssystem – ein Gedankengang, der auch die Idee des Ornamentes als Ausgeburt des tayloristischen Systems beschreibt.

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