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Das Motiv der Kleidung und Ornamentik in Grete Meisel-Hess‘ ‚Die Intellektuellen‘

Der Roman diskutiert anhand seiner Kleidungsmetaphorik über die Aufgabe der Frau und ihre Emanzipation aus traditionell verankerten Werten. Durch dieses Spektrum an Themen der Moderne führt der paradigmatische Entwicklungsweg des Geschwisterpaares Olga und

Stanislaus Diamant in Die Intellektuellen (130). Der Roman beginnt mit einem Treffen im Kontext der Wiener Gesellschaft bei deren Cousin Gustav Diamant (130). Eingeleitet wird der

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Roman durch die Schilderung der Kleidungsweise von Edda Diamant. Sie besitzt ein

Ankleidezimmer mit einem „hohen dreiteiligen Spiegel“ (3), in welchem sie sich für die Wiener Gesellschaft frisieren lässt und in ein Gewand von „weicher chinesischer Seide“ mit „gewagt durchbrochenen Spitzenornamenten“ (3) kleidet. Die Ornamentik repräsentiert einen Verweis auf traditionelle Kleidung und stellt einen Teil des Tee- und Abendkleides der Figur von Edda dar.

Ihre vielen Ringe gliedern sich in die wohl choreografierte Erscheinung ein.

[Edda] öffnete sie langsam und begann ihre Ringe anzulegen. Ringe von verschiedenen bizarren Formen. Ringe in spitzer Marquisenform, andere wieder, in denen sich die Edelsteine als Blüten hoch über den Finger rankten, fremdartige, orientalische Ringe mit großen, dunklen Steinen und solche mit klaren Solitären (3).

Das Ornament hat orientalische Bezüge und steht für das Spektrum an Nippes, das Edda umgibt.

Den gleichen Fokus auf das Detail legt Edda, wenn sie zwischen zwei Nippes den Staub entfernt.

Edda ist durchweg der Mode zugewandt, woraus sie nach dem Verscheiden ihres Mannes vergeblich versucht, ihren Lebensunterhalt zu gewinnen. Doch ihre Modeentwürfe kommen nur

„in Anfällen“ (6) auf das Skizzenblatt und bleiben zwischen den vielen Nippes –

„Elfenbeinbürsten, Kristallflacons, feinen Stahlscheren, Nägelfeilen und silbernen Schalen“ (6) – liegen: Da sah man mit wenigen kecken Strichen Motive der weiblichen Kleidung zu neuen Kombinationen vereint. Fast immer wenn Edda ihre Entwürfe Modejournalen zur Verfügung stellte, hatten die Redaktionen darnach gegriffen, ja man hatte regelmäßige Beiträge von ihr erbeten. Aber Frau Edda mußte ablehnen, denn sie konnte, wie sie es nannte, nur „unfreiwillig“

arbeiten. Ihre Inspirationen kamen „in Anfällen“ (6). Plötzlich, wo immer es war, zumeist während einer Stadtfahrt im Wagen, oder bei der Lektüre eines anregenden Buches, geschah es, dass, wie sie es nannte, „eine Klappe im Gehirn sich öffnete“, – und dann fiel prompt ein neues Trachtenmotiv heraus (6).

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Die Skizzen zeigen, dass Edda sich nicht ohne Mode und Attrappe in der Wiener Gesellschaft zu positionieren weiß, denn „mit ihren langschleppenden, lichten Hauskleidern wußte sie gar nicht, wie sie sich auf den Fliesen der Küche und zwischen den beladenen Tischen bewegen sollte“ (7). Eddas Erscheinungsbild in dem massigen und teils hinderlichen Hauskleid steht der Erscheinung des Geschwisterpaares entgegen:

Die Geschwister sahen einander, flüchtig betrachtet, wenig ähnlich. Stanislaus in seinem festverknöpften, vielgetragenen, schon etwas glänzenden Rock von dunkelgestreiftem, dünnen Tuch, mit schlechter vorgebeugter Haltung, breitem, gewölbtem Rücken, wirkte engbrüstig. […] (11).

Olga trug ein dunkelbraunes Kleid von billigem Wollstoff. Der Rock bedeckte die Bluse nicht fest genug, so daß das auf die Bluse genähte Taillenband bei manchen Bewegungen zum Vorschein kam. Es war ihr alter Schmerz, dass sie es durchaus nicht vermochte, ihrer Figur jene glatten Flächen zu geben, auf welchen die Frauenkleider unverrückbar drapiert erscheinen. Aber sie verschmähte jede Schnürung und konnte sich darum mit der auf die Schnürung berechneten Kleidung nicht zurechtfinden (13).84 Olga unterscheidet sich von Eddas Kleidungsbetragen.

Während sich Edda in feine Roben mit Korsage begibt, kann Olga diesen Normen nicht gerecht werden, sodass ihr Körper keine Passform in den „Frauenkleider[n]“ findet, die „unverrückbar drapiert erscheinen“ (13) und sich diesen „Schnürung[en]“ widersetzt (13).

Olga schildert ihre Figur selbst im Kontext der Wiener Gesellschaft und aus der Sicht ihres Vaters als ein „Mädel, das sich nicht verheiratet, immer nur Geld braucht, sich mit lauter Dingen

84 Damit steht Stanislaus’ Kleidungsverhalten ganz im Gegensatz zu Gustav Diamant: „Er lächelte über das ganze, blaurasierte Gesicht, das einen Ausdruck trug, der landläufig mit ‚gescheitʾ bezeichnet wird. Die gelenkige, kaum mittelgroße Gestalt – er war bedeutend kleiner als Frau Edda – steckte in einem Gehrock von elegantestem Schnitt.

Er bewegte sich eilig, grazil, geschickt und lebhaft. Das schwarze, kurzgestutzte, an der Seite gescheitelte Haar war an den Schläfen stark ergraut. Die Augen blitzten durch den Zwicker“; vgl. Grete Meisel-Hess, Die Intellektuellen, S. 15.

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befaßt, die nichts einbringen“ (13). Der kurze Rückblick auf ihre Jugend im Osten von Österreich-Schlesien zeigt die tiefe jüdische Verwurzelung ihrer Geschichte im Kolonialhandel und gleichzeitig ihre angehende Emanzipation von diesem jüdisch-traditionellen Gewerbe:

Im Osten von Österreich-Schlesien, unweit der preußischen und russischen Grenze, waren die beiden zuhause. Dort stand auf dem großen, gepflasterten Ringplatz das alte, schmutziggraue Haus ihres Vaters, mit einer Wohnung von großen, dunklen Zimmern im Stockwerk und einem Kolonialwarengeschäft im Erdgeschoß (14).

Diese „Goldgrub“ (14) des kolonialen und Lebensmittelhandels erhoffte Moses Diamant durch einen geeigneten Schwiegersohn, der „a Paar Hosen“ (14) hätte, weiterführen zu lassen. Doch der Freigeist Olga band sich nicht an einen dafür fähigen Mann, der Sohn hatte studieren wollen und ließ sich nicht in das väterliche Geschäft zwingen. Damit spiegelt der Werdegang des Geschwisterpaares Olga und Stanislaus Diamant den Lebensweg vieler assimilierter Juden zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit ihrer Abwendung von der väterlichen Welt und Hinwendung zur Geisteswissenschaft wider. Dennoch sind das jüdische Gedankengut und eine gewisse Verbindung zur textilen Welt durch eine Nähe zu Fragen von Mode und Kleidung in der Familie Diamant präsent, die sich auch an der nicht-jüdischen Ehefrau Edda Diamant spiegelhaft reflektieren, da sie bewusst mit dem textilen Ornament in der Mode variiert:

Sie trug ein graues, langschleppendes Kleid von zartem Gewebe, unter dem es schwer und starr rauschte. Auf die hochgeschlossene Taille war in Silberstickerei ein Blumenornament appliziert, das sich um die Büste schlang und sich flimmernd vor dem wolkengrauen Grund abhob (31).

Das Blumenornament wirkt als choreografisch eingesetztes Moment, welches sich bis auf Eddas Körper erstreckt und in ihren „blauen Blumenaugen“ (31) verdeutlicht wird. Die Geschwister Olga und Stanislaus weigern sich, in ihrer Kleidung in ein Wiener Nachtlokal mitzukommen, um den Arzt und Verehrer Eddas, Daniel Horatio Macpherson, zu treffen. Dieser fasst sein Kleidungsverhalten und seine generelle Lebensauffassung synoptisch zusammen: „I am

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a gentleman and I am clean (35).“ Das wird zum Leitsatz, an welchem Edda ihr Schicksal festhält.

Nach dem Tod ihres Mannes Gustav Diamant versucht sie vergeblich, sich durch Modeentwürfe selbst zu finanzieren, und bindet sich schließlich an den wohlhabenden Daniel Horatio Macpherson.

An Edda wird das Ideal der eleganten femme fragile gespiegelt, dem die Hauptfigur der Olga mit ihrem Kleidungsverhalten gegenübersteht. Olga zeigt über ihren Bezug zu Körper und Kleidung als Resultat ihres jüdisch und väterlich geprägten Elternhauses ihre Unfähigkeit, dem Ideal einer femme fragile zu entsprechen:

Aber damals, in ihren ersten „Blütejahren“, in dem düstern Haus – da hatte sie sich mehr als einmal, weinend und verzagend, mit dem Bibelwort auf den Lippen gefunden: „Dein Leib ist der Tempel Gottes“. Und ihr schien es, als wäre es der Verzicht des Lebens, den sie annahm, wenn sie es duldete, dass ihr Leib diesen Worten Hohn sprach, wenn sie diesen Körper nicht zwang, schöner zu werden. So sann sie denn oft über die Möglichkeit günstiger Kleidung, die ihr aber durch ihr geringes Taschengeld und ihren wenig geübten Geschmack ziemlich unerreichbar blieben. Auch vermochte sie keinerlei beengenden Zwang an ihrem Körper zu dulden, und die charakterlose, mitteleuropäische Frauentracht der bürgerlichen Kreise, Rock, Bluse und Gürtel, paßte sich ihren widerspenstigen Körperformen wenig günstig an (51).

Meisel-Hess zeichnet an dieser Stelle die sich emanzipierende junge Jüdin Olga als eine Frau, der es aufgrund ihrer körperlichen und finanziellen Umstände nicht möglich ist, sich als femme fragile zu entwickeln. Mit dieser Einschränkung entwickelt sie ein bestimmtes Kleidungsbetragens der

„mitteleuropäischen Frauentracht“ (51) und versucht eine bewusste Applikation des modischen Ornamentes zu goutieren. Mit einem Gefühl der Schuld begegnet sie ihrem eigenen ornamentlosen Kleidungsverhalten und bezieht sich im Text als nicht getaufte Jüdin auf das Neue Testament:

„Dein Leib ist der Tempel Gottes (51).“85 Damit unterstreicht sie, dass sie sich solch einem Fokus

85 Es heißt wortwörtlich: „Oder wisset ihr nicht, daß euer Leib ein Tempel des heiligen Geistes ist, welchen ihr habt von Gott und seid nicht euer selbst“ (Lutherbibel 1912, Korinther 6:19).

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auf den „Leib“ widersetzt. Meisel-Hess spielt auf diese Weise auf die Wichtigkeit der Körperkultur nach Jungborn zu Beginn des 20. Jahrhunderts an, als auch auf das Motiv des Turners, der mit den agilen Wendungen seines Körpers das erzielt, was der Schreibende als sprachlicher Turner durch seine Wortgewandtheit und Redewendungen erzielt (Anderson 90). Meisel-Hess widersetzt sich zwar diesem Fokus teilweise, jedoch ist die Agilität ihrer Protagonistinnen bezeichnend für eine Betonung des Körperbewusstseins im fin de síècle. Die aufgewühlte, unterjochte junge Ehefrau Fanny Roth stellt das Moment von Spiel und Beweglichkeit als Kennzeichen für eine literarische Gymnastik in den Vordergrund (90). Bei der Figur der Olga wird die Betonung des Leibes mithilfe einer Zitation aus dem Neuen Testament angedeutet; allerdings sind zahlreiche Artikel in der Selbstwehr über jüdische Gymnastik-Verbände in Prag erschienen. Max Nordau propagiert daher die Idee des „muskulösen Juden“ als eine Erscheinung, die losgelöst von einem Ghetto-Leben und von den „zionistischen Kreisen“ aufgegriffen worden ist (75).

Während die schlanke Figur von Olgas Bruder Stanislaus vielmehr an einen literarischen Turner erinnert, ist es bei Olga in den Wiener Kreisen noch das Versagen, einen Bezug zum eigenen Körper aufzubauen. Gleichzeitig positioniert sich Olga in der Gesellschaft durch ihre Ablehnung von ornamentierter und einer Vorliebe für bewegungsfreie Kleidung. Die

ornamentierte Tracht ist für Olga eine „charakterlose“ (51) Kleidung, da sie keine Individualität zulässt, sondern auf das Ideal einer in die Gesellschaft als femme fragile und Ehefrau

eingegliederten Frau pocht. Olgas widerspenstige Körperformen passen sich den bürgerlichen Kreisen nicht an.

Die Verehrer, die in das väterliche Geschäft einheiraten wollen, lehnen Olga letztlich ab, weil sie eine „mise Mad“ (51), „arrogant“ (51) und „überbildet“ (51) sei und sich mit lauter

„Lesereien“ (51) den „Kopp einnehme“ (51). Olgas Ambition, sich zur Lehrerin weiterzubilden,

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werden von ihrem Vater schlichtweg als „Flausen“ (52) abgekanzelt, sodass sich Olga zwar als emanzipierte, junge Frau heranbildet, jedoch ohne eine definitive Richtung einzuschlagen. Auf einem Maskenfest beim Eislauf kleidet sich Olga als Teufelin im „schwarzroten Sammetkostüm, mit zwei festen, kleinen Holzhörnern, dicht verlarvt“ (52). Bei diesem Maskenfest trifft sie auf den jungen Leutnant Kasimir Koszinsky: „[Er] war in Uniform, nicht verkleidet (52).“ Während Olga mit ihrer Verkleidung das zeigt, was sie wirklich ist – eine Rebellin auf dem Eis –, spielt hier Meisel-Hess in erzählerischer Ironie darauf an, dass gerade der hochstapelnde Koszinsky die Uniform gleich einer Verkleidung trägt: dass er das nach außen trägt, was er nicht ist. Um die Hochstapelei seines potenziell zukünftigen Schwiegersohnes aufzudecken, bedient sich Moses Diamant wiederum der Kleidung, dem „europäischen Rock“ (53), den er gekonnt einsetzt, um die nötigen Referenzen einzuholen, sodass er von den „Lumpereien“ (58) des Leutnants Koszinsky erfährt.

Bei einer Diskussion von Frauenrechtlerinnen in Berlin hält Olga eine Rede und gewinnt auch an „physischer Persönlichkeit“ (96), als sie in einem Reformkleid auftritt:

Die Gestalt in einem dunkelblauen Kleid von modernem Reformschnitt, den sie erst in Berlin genau kennen gelernt hatte, schien kräftig und beweglich; das Gehäuse des Kopfes, unter dem Minervahelm ihres kupfernen Haares, zeichnete sich in bedeutenden Konturen; die dunklen Augen, die bei der ersten Anregung des Sprechens aufleuchteten, sich dann mählich tief umflorten, bekamen eine Art gläubigen Ausdruck (96).

Olga zeigt nun eine Entwicklung in ihrem modischen Kleidungsverhalten und verleiht ihrem Ich einen sozial-politischen Ausdruck. Reformmode legte eine Betonung auf absolute Beweglichkeit und die Körpermitte (Ober 147). Sie repräsentiert eine Richtung der jüdisch-weiblichen Körperkultur des fin de siècle. Denn in erster Linie bestand die Fasson des Reformkleides darin, einen Kampf gegen das Korsett – eine Umgestaltung der körpernahen Unterkleidung – darzulegen, die auf eine Neukonzeptionierung des weiblichen Körpers zielte als

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die „Rückgestaltung zu der von der Natur gewollten Beschaffenheit“ (150). Mode musste nun weibliche Autonomie und Reproduktionsfähigkeit miteinander vereinen, um die Frau im Sinne von Meisel-Hess in der Gesellschaft progressiv zu repräsentieren (152). Musste sich Olga in Wien noch in der Verkleidung als Teufelin auf dem Eis geben und widerstrebte ihr Körper den modischen Schnitten, kann sie sich nun im Reformkleid finden. Meisel-Hess spielt auf diese Entwicklung von Olga explizit an, wenn sie betont, dass sie das Reformkleid erst in Berlin kennengelernt habe, zumal sie als einzige ein Reformkleid bei der Frauenrechteversammlung trägt und Mode für die beschriebenen weiblichen Teilnehmenden eine politische Position vermittelt. Olgas Kleidungsverhalten alterniert jedoch in Berlin. Im Kaffeehaus, in welchem die Damen in den „allerneusten Moden kostümiert“ (148) erscheinen, trägt Olga kein Reformkleid, sondern ein blaues Tuchkleid mit rechteckigem Halsausschnitt: Olga, die selten hierher kam, hatte in einer Ecke Platz gefunden und wartete auf Hoffmann und die von ihm Angekündigten;

auch Stanislaus sollte kommen. Sie trug ihr neues, blaues Tuchkleid, dessen rechteckiger Halsausschnitt mit einer bunten, türkischen Borte abschloß, und, inmitten der breiten, kupfrig schimmernden Wellen ihres Haares, ein rundes Astrachankäppchen, daß sie seit Jahren besaß (149).

Zum einen betont das modische Ornament der türkischen Borte den progressiven rechteckigen Halsausschnitt, zum anderen dient auch das runde, extravagante

Astrachankäppchen86 als modisches Ornament und verweist auf Olgas Entwicklung als etwas,

86 Astrachan ist eine bestimmte Fellart, die besonders bei Kappen im islamischen Raum und für Militärkappen verwendet worden ist. Diese sind als Karakulmützen oder Persianermützen bekannt geworden; vgl. Richard Knötel und Herbert Sieg, Farbiges Handbuch der Uniformkunde (Stuttgart: Herbig, 2000).

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das bereits in Wien in ihr gewohnt hat und nun seinen Ausdruck findet. Die türkische Borte und das Astrachankäppchen erinnern an das Orientale und Koloniale und damit an Olgas väterlichen Hintergrund des Kolonialwarengeschäftes, dem Olga nicht ganz entsagen kann (Meisel-Hess, Die Intellektuellen 14).

3.5. Meisel-Hess’ literarisches und essayistisches Werk im Kontext von Kafka, Musil und

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