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2.1 Theorie

2.1.3 Synthese und Hypothesen

An dieser Stelle folgt die Zusammenfügung der unterschiedlichen, eben erwähnten theoretischen Überlegungen für diese Arbeit und im Anschluss daran die Formulierung der Hypothesen, die mit dieser Arbeit untersucht werden sollen.

Die Theorie der Multi-Level-Governance entwirft ein europäisches politisches Sys-tem, welches sich durch mannigfaltige Akteure, Strukturen und Interaktionen auszeich-net. Die Theorie hat dabei zwei grundsätzliche Annahmen, die für das Thema der Arbeit

von besonderer Bedeutung sind, und die daher hier nochmals ausgebreitet und geschil-dert werden sollen.

MLG geht erstens davon aus, dass es eine europäische politische Ebene gibt, die als autonom betrachtet werden muss. In ihr finden sich Akteure, deren ursprüngliche Be-fugnisse sich zwar auf die europäischen Verträge als Akt nationalstaatlicher politischer Delegierung zurückführen lassen, die über mehrere Jahre hinweg jedoch ein Eigenle-ben entwickelt haEigenle-ben und selbstbewusst als politischer Taktgeber auftreten. Akteure wie vor allem die Kommission oder der Gerichtshof sind längst nicht mehr nur der ver-längerte Arm einer weiterhin supranational begründeten und funktionierenden Polity, sie sind Akteure mit eigenen Interessen, eigenen Ansprüchen und eigenem Bewusst-sein, denen es gelingt, politische Prozesse von sich aus zu prägen, und zwar in einer Art und Weise die nicht ohne weiteres durch andere europäische oder nationalstaatliche politische Akteure gestoppt oder grundlegend geändert werden könnte.

Der zweite maßgebliche Aspekt von MLG ist, dass die Entwicklung, Verabschiedung und Durchführung politischer Prozesse heutzutage in allen Phasen auch maßgeblich von nicht-politischen Akteuren mit beeinflusst wird. Dies sind im Sinne dieser Arbeit alle Akteure, die weder im engeren Sinne (als Teile von Parlamenten und Regierun-gen) noch im weiteren Sinne (als Teile der Verwaltung oder der Rechtsprechung) in den Bereich des Politischen gehören. Einige Akteure treten in diesem Zusammenhang als relativ intuitiv hervor; dies sind einerseits originäre wirtschaftliche Akteure wie Un-ternehmen aus verschiedenen Branchen oder Märkte im Sinne einer komprimierten Aggregierung von Unternehmen, denen man eine verallgemeinerte Positionierung zu-schreiben kann, und NGOs, die in der Regel als organisierte Vertreter unterschiedlicher Interessengruppen erscheinen, wobei man auch klassische Unternehmensinteressen-vertreter – alsoLobbygruppen– mit einschließen kann. Die politische Einflussnahme dieser Akteure kann auf zwei Arten erfolgen: Sie kann indirekt erfolgen, indem Vertre-ter dieser Akteure andere am politischen Prozess beteiligte Akteure beeinflussen, um ein bestimmtes Ergebnis zu erzielen; sie kann aber auch direkt erfolgen, indem Vertre-ter dieser Akteure direkt in unVertre-terschiedliche Phasen des politischen Prozesses einge-bunden werden, sei es um sich besondere Expertise zu Nutzen zu machen oder einen möglichst breit angelegten Austausch zu gewährleisten.

Die Europäische Zentralbank wird in diesem Governance-Gefüge als hybrider Ak-teur verstanden und beobachtet. Dabei bedeutet Hybridität, dass die EZB als AkAk-teur stets wirtschaftliche und politische Wirkung erzielt. Mit dem Verweis auf die System-theorie von Luhmann und dabei besonders auf den Aspekt der funktionalen Differen-zierung würde dies für die EZB bedeuten, dass sie sich sowohl im wirtschaftlichen als auch im politischen System bewegt und sich dabei auch nach den entsprechenden bi-när kodierten Funktionslogiken (also Haben/Nicht-Haben im Wirtschaftssystem bzw.

Macht/Nicht-Macht im politischen System) verhält. Der Verweis auf Luhmann soll hier jedoch eher den illustrativen Zweck erfüllen, darzustellen wie ein wirtschaftlicher

Ak-teur bzw. ein politischer AkAk-teur handelt. Die Denkfigur des hybriden AkAk-teurs soll hier einen weiteren Schritt ermöglichen, nämlich die Annahme, dass jede Handlung der EZB gleichzeitig in beiden Funktionssystemen wirkt – kurz gesprochen: Weil die EZB eine bestimmte Macht hat, kann sie Zahlungen kontrollieren und indem sie Zahlungen kon-trolliert, übt sie Macht aus.

Der Aspekt der Macht erfordert angesichts des Wertefundamentes, welches sich die EU selbst gegeben hat und welches daher auch die EZB als primärrechtliche Vorgabe bindet, ebenfalls eine Rückbesinnung auf Überlegungen zur Demokratie. Hier ist anzu-merken, dass Governancetheorien allgemein Überlegungen zur Demokratie oft unzu-reichend bearbeiten oder als eher nebensächlich betrachten, auch MLG ist dabei keine Ausnahme. Hier sei nochmals an die Überlegungen von Crouch zur Postdemokratie erinnert, der erklärt, dass die demokratischen Strukturen auf der Oberfläche weiter-hin funktionsfähig sind, dass es freie Wahlen gibt und dass als Folge dieser Wahlen es auch weiterhin immer wieder einmal zu Regierungswechseln kommt. Dahinter steht jedoch eine Struktur, in der bestimmte Fragen der grundlegenden politischen Ausrich-tung dem Parteienwettbewerb weitgehend entzogen worden sind und stattdessen in vorpolitischen Zirkeln festgelegt werden, oft unter Beteiligung und im Sinne bedeu-tender wirtschaftlicher Interessen. Streeck geht mit seiner Denkfigur des Konsolidie-rungsstaates dann noch einen Schritt weiter und beschreibt, wie diese wirtschaftlichen Interessen in der Regel ausgestaltet werden, und zwar in einer Politik, die finanzielle Konsolidierung als politische Hauptpriorität festlegt, der sich alle anderen Maßnahmen staatlicher Politik unterzuordnen haben. Gleichzeitig werden expansive Maßnahmen zur Konsolidierung wie unter anderem Steuererhöhungen jedoch kaum erwähnt und in einigen Fällen auch offen abgelehnt, weil dies der politischen Grundrichtung zuwider läuft, welche auf eine möglichst geringe Belastung von Unternehmen achtet.

Eine solche Politik erfordert aufgrund ihrer strukturellen und inhaltlichen Verfassung auch ein anderes Verständnis von Legitimität, wie das, welches herkömmlich im Rah-men des Nationalstaates entworfen wurde. Neben der klassischen Input-Legitimität, die sich hauptsächlich durch eine demokratische Ausgestaltung politischer Prozesse vor al-lem unter der Prämisse regelmäßiger, ergebnisoffener Wahlen zeigt, gibt es außerdem die Output-Legitimität, die sich vor allem daraus ergibt, ob ein gewünschtes politisches Ergebnis eingetreten ist, und der Throughput-Legitimität, welche darauf achtet, dass die politischen Prozesse selbst offen, transparent sowie nachvollziehbar sind und ge-wählten Vertretern stets eine entscheidende Rolle in solchen Prozessen einräumen. Im Angesicht einer auf mehrere Ebenen verteilten politischen Autorität, welche nun auch nicht-politische Akteure stets mit einbezieht, ist Legitimität im Rahmen demokratischer Politik auch anders zu verstehen; nämlich im allgemeinen Sinne nach Teßmer als Ba-lance zwischen Vollmacht und Misstrauen.

Mit diesem theoretischen Hintergrund sollen nun die drei Hypothesen dieser Ar-beit vorgestellt werden. Erkenntnisse zur Beantwortung der drei Thesen werden sich

an verschiedenen Stellen über den analytischen Hauptteil der Arbeit verteilen, eine Zu-sammenfassung der Forschungsergebnisse inklusive entsprechender Einordnung in den Hypothesensatz folgt darauf in Abschnitt 5.1. Die Hypothesen lauten wie folgt:

1. Die Europäische Zentralbank wurde mit Ausbruch der Krise im Euroraum zu ei-nem hybriden Akteur, weil sie nun sowohl wirtschaftliche Transaktionen, aber auch politische Interaktionen tätigt.

2. In ihrer hybriden Rolle hat die Europäische Zentralbank seit Ausbruch der Kri-se im Euroraum einen Zuwachs an politischer Macht erhalten, insbesondere im Verhältnis zu nationalstaatlichen Regierungen.

3. Falls ein Zuwachs an politischer Macht für die Europäische Zentralbank festge-stellt werden kann, ist ebenfalls festzustellen, dass die Europäische Zentralbank diesen Zuwachs an politischer Macht positiv bewertet und aktiv versucht, diesen Zuwachs noch weiter zu vergrößern.

Im Sinne einer einheitlichen Vorausrichtung wurden alle drei Hypothesen als positiv formuliert, was natürlich wie bei jeder Hypothesenbildung die Möglichkeit der Falsifi-zierung stets mit beinhaltet. Es folgt nun die Darstellung der methodischen Herange-hensweise, inklusive Verweis auf die Verwendung der Hypothesen.