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Erklärungsversuche und der Wettbewerb der Lesarten

4.1 Der Beginn der Krise

4.1.3 Erklärungsversuche und der Wettbewerb der Lesarten

Es gibt verschiedene Erklärungen dafür, wie und warum sich die Krise in der Eurozo-ne so abrupt und so gravierend entwickelte, und bei diesen verschiedeEurozo-nen Erklärungen zeigen sich teils erhebliche Differenzen. Größere Einigkeit besteht allerdings in der Fest-stellung, dass durch den Ausbruch der Eurokrise einige strukturelle Mängel der WWU deutlich sichtbar wurden.

Es zeigte sich, dass ein häufig erwähntes Problem, nämlich die asymmetrische Kom-petenzverteilung in der WWU, in der Geldpolitik und Fiskalpolitik auf unterschiedli-chen Ebenen entschieden werden, bei Ausbruch der Krise besonders zum Vorschein trat; diese Diskrepanz haben Panico und Purificato (2013: 589) gut zusammengefasst:

„The roles played by the ESCB and the Eurosystem in monetary poli-cy diverge from those played by the ECOFIN and the Eurogroup in fiscal

policy. The Eurosystem takes formal decisions, while the Eurogroup does not. The Eurosystem can rely on the cooperative behaviour of the NCBs, while the Eurogroup cannot enforce cooperative behaviour by the national authorities. As a result, and unlike what happens in regard to monetary policy, with fiscal policy there is uncertainty about the implementation of the decisions taken at the supernational level. Any government can agree on fiscal decisions at the supernational level but behave differently at home with negligible consequences.“

Während in der Geldpolitik eine klare Zentralautorität besteht, gibt es in der Fiskalpo-litik kein vergleichbares Verhältnis von Befehl und Gehorsam, sondern nur eine gegen-seitige Verpflichtung zur Verhaltensanpassung, die mal mehr und mal weniger befolgt wird.

In dieser unvollständigen Struktur gab es einige Schwierigkeiten, die durchaus be-kannt waren, aber nicht näher beachtet wurden – sogenannteknown unknowns, wenn man den Jargon des ehemaligen amerikanischen Verteidigungsministers Donald Rums-feld verwendet. In der WWU wurden Staaten zusammengefasst, die teils erhebliche Un-terschiede in ihrer Wirtschaftsgeschichte hatten, gerade im Hinblick auf Einstellungen zu Inflation oder Wechselkursgestaltung. Darüber hinaus war die Gefahr von stark an-steigenden Staatsschuldenständen nicht vollständig ausgeschlossen, was zu einem Po-tenzial für destabilisierende Ungleichgewichte beitrug. Die in diesem Zusammenhang vorgebrachten bedenken wurden jedoch mit dem Argument entkräftet, dass sich die Eurozone im Laufe der Zeit praktisch von selbst zu einem optimalen Währungsraum⁶⁷ entwickeln würde (Pisani-Ferry 2013: 7–8). Trotz alledem war die WWU in ihrer letzt-lichen Form als Ergebnis der Verhandlungen um den Vertrag von Maastricht vor allem ein Kompromiss, maßgeblich geprägt durch die deutsch-französische Rivalität, die sich zeitgleich zu den Maastricht-Verhandlungen auch an der Frage der deutschen Wieder-vereinigung zeigte (Sinn 2015: 35–39).

Gleichzeitig wurden einige strukturelle Gefahren der WWU gar nicht erst als sol-che wahrgenommen, dieunknown unknownsalso, wenn man Rumsfelds Begrifflichkeit analog anwendet. Dafür lohnt es sich zu vergegenwärtigen, dass die Eurokrise letztlich das Ergebnis mehrerer Teilkrisen ist, die in ihrer Natur und ihrer Reihenfolge nichts Ungewöhnliches sind, die aber in einem ungewohnt großen Ausmaß und dazu noch fast zeitgleich erschienen. Grundsätzlich stand zu Beginn der Eurokrise das Platzen ei-ner Immobilienblase, gefolgt von eiei-ner Krise im Finanzsektor. Diese Finanzkrise führte zu einer finanziellen Unterstützung durch die Staaten, woraus sich letztlich die Staats-schuldenkrise ergab. Auch wenn diese Reihe makroökonomischer Ereignisse also kei-neswegs exotisch war, ist es dennoch bemerkenswert, dass in den Regeln der WWU die

⁶⁷ In der wirtschaftswissenschaftlichen Literatur gibt es viele Beiträge zu Theorien optimaler Währungs-räume, die auch eine dezidiert kritische Haltung gegenüber der WWU vertreten; eine kritische Weiter-entwicklung der Theorie optimaler Wirtschaftsräume findet sich bei McNamara 2015.

Möglichkeit ernsthafter Zahlungsschwierigkeiten für einen Staat in der Eurozone prak-tisch nicht berücksichtigt wurde. Solche Zahlungsschwierigkeiten wurden höchstens als Folge dauernder Zahlungsbilanzkrisen für möglich gehalten. Mit der Übernahme einer einheitlichen Währung wurde jedoch davon ausgegangen, dass mit dem Wech-selkursrisiko auch die Gefahr von Zahlungsbilanzkrisen hinfällig würde. Zwar verfügt die EU über ein Instrument, welches Staaten gegenseitigen finanziellen Beistand bei Zahlungsbilanzkrisen ermöglicht – Grundlage hierfür ist Art. 143 AEUV – dieses Mittel steht jedoch den Eurostaaten explizit nicht zur Verfügung. In der Architektur der WWU wurde die Möglichkeit, dass Marktakteure die Irreversibilität einer Euro-Mitgliedschaft in Frage stellen könnten und es daraufhin einen plötzlichen Kapitalstopp geben wür-de, gänzlich übersehen (Braun 2015: 425, 430). Diese Ignoranz – ob vorsätzlich oder fahrlässig verursacht – eröffnete eine offene Flanke in der WWU und beförderte die dramatische Entwicklung zu Krisenbeginn. Es ist mithin festzustellen dass „[t]he ar-chitecture of EMU was designed without any provision for the resolution of a major sovereign debt crisis“ (Drudi, Durré und Mongelli 2012: 896).

Jenseits dieses weitgehenden Konsenses über die strukturellen Mängel der WWU gibt es allerdings unterschiedliche Interpretationen zu den Ursprüngen der Krise und daraus folgend auch variierende Vorschläge zur Lösung der Krise. Die Lesart, die sich zumindest politisch durchsetzte und daher die Ausgestaltung der Krisenreaktion beein-flusste, war die Ansicht, dass die Eurokrise die logischer Konsequenz (fiskal-)politischer Verfehlungen war.

Für Griechenland gab es eine klare entsprechende Diagnose. Seit der Rückkehr des Landes zur Demokratie wechselten sich die beiden staatstragenden Parteien PASOK und ND darin ab, den Staat auf ihre Parteiinteressen hin maßzuschneidern. Als Er-gebnis folgte ein Bündel an Problemen, die Griechenland in eine schwierige Situation brachten: ein vergleichsweise umfangreicher öffentlicher Sektor, diverse Skandale um Korruption und Vetternwirtschaft, eine abgeschlossene Wirtschaft mit hohen Eintritts-hürden und vielen Streiks, und nicht zuletzt eine Entwicklung der öffentlichen Finan-zen, die nicht den europäischen Vorgaben entsprach. Verstärkt wurde dieses Problem auf europäischer Ebene dadurch, dass die festen Budgetregeln, die in Rahmen des SWP festgehalten wurden, nicht stringent verfolgt wurden, der „Sündenfall“ war dabei die Einstellung von Defizitverfahren gegen die europäischen Schwergewichte Deutschland und Frankreich im Jahr 2003, gefolgt von einer Lockerung der SWP-Regeln im Jahr 2005 (Zahariadis 2012: 37–45). In diesem Zusammenhang erscheint die einzig logische Lösung relativ einfach. Einerseits muss sichergestellt sein, dass strukturelle Probleme durch Reformen gelöst werden, also vor allem durch Liberalisierungen auf den Arbeits-und Produktmärkten, geringere Barrieren für den Eintritt neuer Firmen, Maßnahmen zur Steigerung der Produktivität etc., und außerdem ist es zwingend erforderlich, jegli-che Anreize für eine weitere Überschuldung zu unterbinden, auch durch eine Verschär-fung der bestehenden Regeln (Buch 2012: 4–5). Wie sich noch zeigen wird, entsprach

die Ausgestaltung der Krisenreaktion in weiten Teilen genau dieser politischen Emp-fehlung.

Diese allgemein verbreitete Lesart kann jedoch durchaus herausgefordert werden.

Die Schilderung der Entwicklung der Schulden⁶⁸ kann nicht allgemein bestätigt wer-den.⁶⁹ So betrug der öffentliche Schuldenstand der gesamten Eurozone im Jahr 2002 68,0 % des BIP und 2008 70,1 %; den europäischen Staaten also für diese Zeit vor der Krise eine verschwenderische Fiskalpolitik zu unterstellen wäre irreführend. Bei einer näheren Betrachtung ist wie oben erwähnt zu konstatieren, dass Griechenland zwar ei-nen hohen öffentlichen Schuldenstand hatte, dass dieser hohe Stand jedoch schon seit einigen Jahren stabil war. Endgültig fehlgeleitet erscheint dann dieses Argument wenn man sich die Situation in Spanien und Irland, zwei weiteren Krisenstaaten anschaut.

Denn dort lag die Schuldenquote im Jahr 2007 für Spanien bei 26 %, und für Irland sogar nur bei 12 % (Blyth 2014: 99; Polster 2014: 240) Und auch ein negatives Pauschalurteil ge-genüber der griechischen Verwaltung hält einer genaueren Betrachtung nicht stand: der Anteil der gesamten öffentlichen Ausgaben am BIP lag in Griechenland konstant unter dem EU-Durchschnitt, ebenso der Anteil der öffentlich Bediensteten an allen Arbeit-nehmern. Hauptproblem im griechischen öffentlichen Sektor war daher nicht eine ver-meintliche Übergröße, sondern eher grundlegende Probleme im Bezug auf beschränkte Effizienz und ein unkoordinierter Einsatz seiner Ressourcen (Katrougalos 2013: 98).

Diese sozio-ökonomischen Feinheiten vielen jedoch in der Diskussion um die aku-te Krisenreaktion unaku-ter den Tisch. Nicht nur in der politischen Auseinandersetzung, sondern auch an den Märkten, wo die beteiligten Akteure immer weniger dazu fähig oder bereit waren, zwischen staatlichen Risiken, Bankenrisiken und Unternehmensri-siken zu unterscheiden (Malo de Molina 2014: 50). Insgesamt wurde die Tatsache, dass die hohen staatlichen Defizite vor Ausbruch der Eurokrise maßgeblich den öffentlichen Anstrengungen zur Stützung des Finanzsystems geschuldet waren, zusehends ignoriert.

Stattdessen trat eine Lesart in den Vordergrund, welche die Schuld für die Krisenent-wicklung eher einseitig dem staatlichen Sektor und dortigen Verfehlungen im Hinblick auf Fiskal- und Wirtschaftspolitik zuschieb, weshalb die einzige Lösung nur eine Poli-tik der Austerität sein konnte, also eine Verpflichtung zu starken Einschnitten bei den öffentlichen Ausgaben, verbunden mit strukturellen Reformen zur Wiederherstellung wirtschaftlicher Wettbewerbsfähigkeit. Eine postdemokratisch geprägte Analyse könn-te nun versuchen nachzuvollziehen, welche Akkönn-teure dabei mitgewirkt haben, diesen Wettbewerb der Lesarten zu Gunsten der Befürworter von Austerität zu entscheiden, dies soll jedoch nicht Gegenstand dieser Arbeit sein.⁷⁰

⁶⁸ Für eine grundsätzliche Kritik der Fixierung auf starre Regeln im Zusammenhang mit Schulden- und Defizitständen, siehe V. A. Schmidt 2015.

⁶⁹ Dass die Höhe der Staatsverschuldung auch keinen primären Einfluss auf die Einschätzung eines Staates durch die Finanzmärkte hat, wurde bereits in Abschnitt 4.1.1 erklärt.

⁷⁰ Für eine ausführliche Darstellung dieses Ideenwettstreits sei auf Kapitel 6 in Blyth 2014 verwiesen;

eine fallweise Untersuchung dieser diskursiven Wandlung aus marxistischer (also klassengeprägter)

Tabelle 4.1: Auswertung des ersten MoU mit Griechenland Das erste Memorandum of Understanding mit Griechenland Kompetenz Vorgabe Verweis Zielsetzung Σ

ausschließlich 0 3 0 3

geteilt 2 3 3 8

unterstützend 0 1 0 1

außerhalb der K. 7 2 14 23

Σ 9 9 17 35

Stattdessen folgt nun als Einschub eine Darstellung der Ergebnisse der qualitativen