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„Alphabetisierung im Stadtteil“ einer städtischen Volkshochschule

1. Stadtteilbezogene Alphabetisierung als Lernkultur

Olaf Dörner / Christoph Damm

Lernkulturen im Spannungsfeld von Institutionenkulturen. Das Beispiel

„Alphabetisierung im Stadtteil“ einer städtischen Volkshochschule

Lernkulturen als pädagogisch gestaltete Strukturen sind zunächst eingebettet in soziokulturelle Milieus. Im Zusammenwirken der Milieus konstituiert sich eine Praxis eigener Logik, die in Bezug auf pädagogische Intentionen als gelungen oder nicht gewertet wird. In der Regel wird zumindest im Evaluie-rungsprozess Optimierungspotential identifiziert. Inwieweit gestaltete Lern-kulturen dann auch zu gelingenden NutzungsLern-kulturen werden, ist letztlich das Kriterium für den Erfolg der konzeptionellen Arbeit. Aber auch die konzepti-onelle Arbeit selbst konstituiert eine eigene spannungsreiche Praxis. In be-sonderer Weise bergen Kooperationen zwischen erwachsenenpädagogischen Institutionen und nicht-erwachsenenpädagogischen Institutionen Herausfor-derungen für die beteiligten Akteure. In der Gestaltung von Lernkulturen treffen verschiedene Institutionen-Milieus aufeinander (vergleichbar mit Organisations-Milieus, Nohl 2006: 186 ff.), die eine eigene Kooperationslo-gik hervorbringen. Um diese soll es im Folgenden gehen, auch hinsichtlich der Frage, inwieweit unterschiedliche Institutionen im Bemühen um eine Lernkultur eine eigene Kooperationslogik konstituieren und ferner darum, inwieweit diese zum Gelingen des gemeinsamen Projektes führt. Wir bezie-hen uns auf empirische Ergebnisse der wissenschaftlicbezie-hen Begleitung des stadtteilbezogenen Angebotes für funktionale Analphabet_innen einer Volks-hochschule. Das stadtteilbezogene Angebot ist verbunden mit der Idee einer neuen Lernkultur im städtischen Raum, deren Kern die Zusammenarbeit zwischen der Volkshochschule als klassische Institution der Erwachsenenbil-dung und soziokulturellen Einrichtungen in den Stadtteilen ist.

Zunächst gehen wir auf das Projekt als eine Form stadtteilbezogener Lernkultur (1) ein, beleuchten anschließend institutionenbezogene Orientie-rungen der Kooperationspartner (2), die zur Konstitution einer spezifischen Kooperationspraxis beitragen, und beenden unsere Ausführungen mit einer Überlegung zur modulierten Kooperation (3).

1. Stadtteilbezogene Alphabetisierung als Lernkultur

Lernkulturen werden (nicht nur) in der Erwachsenenbildung gemeinhin als gestaltbare Lehr-Lernsettings verstanden und unter dem Stichwort „Wandel der Lernkulturen“ in der Dualität von traditionellen und neuen Lernkulturen

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debattiert: Traditionell sind dann jene, deren Grundannahmen, Gewissheiten und Aktionsmuster kritisch betrachtet und ggf. widerlegt werden, neu sind jene, die an deren Stelle treten (vgl. etwa Wittpoth; Meyer 2013). Es geht dabei um die Bezweifelung der Koppelung von Lehren und Lernen mit et-waigen Konsequenzen für Diskussionen um Fragen der Wissensaneignung, Entgrenzungen, Entschulungen oder Selbstorganisation bzw. Selbstmanage-ment von Lernen (vgl. etwa Schüßler/Thurnes 2005: 9). In jüngerer Zeit haben Raumkonzepte in der Erwachsenenbildung an Bedeutung gewonnen, wie sie etwa unter dem Thema „Regionale Bildungslandschaften“ (Fischbach 2011) diskutiert werden und ihren bildungspolitischen Ausdruck in Pro-grammen wie „Lernen vor Ort“ oder „Lernende Regionen“ finden (vgl. Bun-desministerium für Bildung und Forschung 2015, 2008). Mit der ursprünglich aus der Sozialen Arbeit stammenden Grundidee sozialraumorientierter Arbeit wird von der Einzelfallorientierung abgerückt und die Lebenswelt der Be-troffenen in den Handlungsfokus gestellt. Unterschiedliche Akteure – Bil-dungseinrichtungen, Gemeinden, Kommunen, Stadteile u.Ä. – sollen mitei-nander kooperieren, um die Lebenslagen der jeweiligen Betroffenen verbes-sern zu können. Vernetzungen über Fachgrenzen hinweg und ehrenamtliches Engagement sind zentrale Merkmale einer sozialraumorientierten Arbeit. Als wesentlich für die erfolgreiche Gestaltung einer Bildungslandschaft gilt Ko-operation: Es sei notwendig, so Fischbach (2011), dass die multiprofessio-nellen Akteure eine „gleiche Sprache“ sprechen, „um gemeinsame Ziele mit einer gewissen Verbindlichkeit zu formulieren und konkrete Handlungs-schritte zu planen“ (Fischbach 2011: 201). Hier möchten wir ansetzen und unser Interesse darauf richten, wie Kooperationen von Erwachsenenbildungs- mit anderen Einrichtungen gestaltet sind und inwieweit sie in welcher Art und Weise eine spezifische Kooperationspraxis konstituieren, die wiederum die Gestaltung von Lernkulturen rahmt. Unsere These ist, dass Erwachsenen-bildungseinrichtungen im Rahmen der Debatte um Lernkulturen auf Bildung im Raum im Sinne ihrer institutionellen Handlungslogik, weniger im Sinne ihrer Programmatik rekurrieren. Oder anders: Der Zugriff auf Debatten um Lernkulturen folgt weniger einer pädagogischen als vielmehr einer institutio-nellen Logik.

Im Folgenden möchten wir den Blick auf das Projekt „Alphabetisierung im Stadtteil“ einer städtischen Volkshochschule richten und zentrale Orien-tierungen der Kooperationspartner darstellen. Das Projekt „Alphabetisierung im Stadtteil“ ist Teil der gemeinsamen nationalen Strategie für Alphabetisie-rung und Grundbildung Erwachsener vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) und der Kultusministerkonferenz (KMK) und wird mit Mitteln aus dem Europäischen Sozialfonds (ESF) gefördert. Konzeptio-nell wird von einer geringen Beteiligung an den Alphabetisierungskursen der

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Volkshochschule ausgegangen1, für die zwei Hauptgründe im Konzeptpapier angeführt werden: Angst vor Stigmatisierung und negative Lernerfahrungen (Schule). Diese Barrieren würden erst dann überwunden werden, wenn „ein-geübte Kompensationsstrategien aufgrund von beruflichen oder privaten Krisen nicht mehr greifen und Bloßstellung droht.“ Damit wird an zentrale empirische Befunde der Forschung zum Analphabetismus angeschlossen (vgl. etwa Egloff 2007), wonach Analphabetismus nicht per se ein Alltags-problem ist, das Betroffene im Rahmen von Erwachsenenbildung bearbeiten.

Für notwendig erachtet werden Angebote, die über herkömmliche Alphabeti-sierungskurse hinausgehen, diese „aufbrechen“ und mit denen die genannten Barrieren – Stigmatisierung und negative Lernerfahrungen – abgebaut wer-den können. Dazu wird „das“ Raumkonzept aufgegriffen: Alphabetisierungs-arbeit soll dem Konzept zufolge räumlich und thematisch stärker an die Le-benswelt der Betroffenen anschließen, Anonymität gewährleisten und nega-tive Assoziationen mit Schule vermeiden.

Kern des Projektes ist die Einrichtung sog. „Schreibstuben“ als nied-rigschwellige Angebote. Hier sollen Betroffene sowohl Unterstützung beim Ausfüllen von Behördenbriefen erhalten als auch Lese- und Schreibfähigkei-ten aufbauen und festigen. Insgesamt wurden vier Schreibstuben in verschie-denen Sozialeinrichtungen und unterschiedlichen Stadtteilen eingerichtet. Die Aktivitäten werden von einer pädagogischen Fachkraft koordiniert, die be-reits viele Jahre als freiberufliche Dozentin Alphabetisierungskurse an der Volkshochschule durchführt. Geleitet wird das Projekt vom Leiter der Volks-hochschule, der zudem den Bereich Grundbildung und Alphabetisierung verantwortet.

Im Rahmen der Evaluationsforschung konzentrieren wir uns primär auf Orientierungen der beteiligten Kooperationsakteure (vgl. zu dokumentari-schen Evaluationsforschung Bohnsack/Nentwig-Gesemann 2010). Im Fol-genden möchten wir fallbezogenen zeigen, inwieweit unterschiedliche Be-deutungen, die der Kooperationsgegenstand für die Interviewten hat, dieses Spannungsfeld (mit) konstituieren. Wir beziehen uns dabei auf Expertenin-terviews (vgl. Dörner 2012) und Gruppendiskussionen (vgl. Schäffer 2012a), die wir mit den Leitungen der beteiligten Einrichtungen geführt bzw. durch-geführt haben. Insgesamt haben wir während des laufenden Projektes neun Interviews und zwei Gruppendiskussionen mit verantwortlichen Akteuren sowie vier teilnehmende Beobachtungen in den Schreibstuben durchgeführt.

Die Auswertung erfolgt mit Hilfe der dokumentarischen Methode (vgl.

Schäffer 2012b), deren Kern die Rekonstruktion von Orientierungen ist.

Durch Kontrastierungen verschiedener Interviews je Einrichtungen werden

1 Mit einer Belegungsdichte von 0,39% liegt die Volkshochschule im bundesweiten Durch-schnitt (lt. VHS-Statistik) (vgl. Dörner/Liebe 2015: 17; Huntemann/Reichart 2014).

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methodologisch abgesicherte institutionsbezogene Orientierungen über die der einzelnen Expert_innen hinaus für eine komparative Analyse der Koope-rationsorientierungen zugänglich gemacht.

2. Ein Kooperationsprojekt, unterschiedliche