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Regionale Lehr- und Lernkulturen ländlicher Erwachsenenbildung. Ergebnisse einer

3. Ergebnisse: Fallbeispiele ländlicher Erwachsenenbildung

Mitarbeitenden und der freiberuflichen Kursleitenden durch formulierende und reflektierende Interpretationen rekonstruiert und mit den Perspektiven der Leitungen und Verwaltungskräfte in Beziehung gesetzt. Im Rahmen der Studie konnten durch eine mehrdimensionale Typenbildung (vgl. Nohl 2013) vier organisationale Lehrorientierungen herausgearbeitet werden (vgl. Franz 2016a). Diese entstehen in der Relation von drei Orientierungsdimensionen.

Dies sind die normative Grundlage der Bildungsarbeit, das Verständnis von Lehr- und Lernprozessen im engeren Sinne und die Wahrnehmung des umge-benden Umfelds der Einrichtungen für das Lehren.

Anknüpfend an diese Ergebnisse wird in einer aktuellen Anschlussstudie2 das bestehende empirische Material reanalysiert. Hier wird unter anderem die Frage bearbeitet, ob und inwiefern die Wahrnehmung des umgebenden Raums Einfluss auf das Lehren nimmt. In diesem Beitrag wird daher der Blick explizit auf die Organisationen ländlicher Erwachsenenbildung im Sample gerichtet und danach gefragt, inwieweit sich eine „relative Besonder-heit“ des ländlichen Raums auch in den Lehrorientierungen ländlicher Orga-nisationen niederschlägt.

3. Ergebnisse: Fallbeispiele ländlicher Erwachsenenbildung

In der Reanalyse wurde untersucht, woran sich Organisationen ländlicher Erwachsenenbildung orientieren und welche Lehrkulturen dabei sichtbar werden. Gemeinsam ist ländlichen Organisationen der Erwachsenenbildung im Sample, dass hier die Wahrnehmung des umgebenden Umfeldes eine große Rolle spielt. Der Blick wird nach außen gerichtet und das eigene Lehr-angebot daraufhin angepasst und entfaltet. In dieser Gemeinsamkeit lassen sich im Material zwei unterschiedliche Perspektiven differenzieren. Diese werden im Folgenden anhand von Fallbeispielen beschrieben.

Marktorientierte Perspektive ländlicher Erwachsenenbildung Eine marktorientierte Perspektive ländlicher Erwachsenenbildung lässt sich am Fallbeispiel der Organisation E herausarbeiten. Organisation E ist eine Einrichtung in öffentlicher Trägerschaft und zeichnet sich dadurch aus, dass sie in einer ländlichen, strukturstarken Region in der Peripherie einer

2 Für die Förderung dieses Anschlussprojekts „Formen der Ausdifferenzierung in Organisatio-nen Allgemeiner ErwachseOrganisatio-nenbildung. Zwei qualitativ-rekonstruktive Reanalysen zu kollek-tiven Orientierungen im Hinblick auf Mitarbeiter- und Raumformationen“ (FR 2716/2-2) bedanke ich mich herzlich bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG).

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stadt situiert ist. Sie verfügt über eine zentrale Geschäftsstelle und mehrere Außenstellen, um das inhaltlich breit gefächerte Angebot in der Region be-reitzustellen. Die Lehrorientierung dieser Organisation setzt sich wie folgt zusammen.

- Wahrnehmung des umgebenden Umfelds: Das umgebende Umfeld wird in dieser Einrichtung als Weiterbildungsmarkt wahrgenommen. Dies zeigt sich daran, dass alle Akteure immer wieder ihre eigenen innovativen An-gebote betonen. Dabei blicken sie aus einer vergleichenden Perspektive auf das Umfeld und betrachten die Angebote anderer Einrichtungen in der Re-gion um – wie es die Leitung formuliert – „Benchmarks“ zu setzen. Auch in der Diskussion der Hauptamtlichen wird die eigene Situation im Vergleich zur Bildungssituation in der Stadt beschrieben. Dadurch, dass sie „vor Ort“

wären, hätten sie einen Standortvorteil, da sich gute Angebote schnell herum-sprechen würden. Das „Vor Ort“-Sein wird marktstrategisch interpretiert und der Vergleich mit anderen Einrichtungen zur eigenen Positionierung auf einem Weiterbildungsmarkt genutzt. Durch diese Interpretation werden mög-liche Spezifika hinsichtlich der Teilnehmendenstruktur oder geographische und soziostrukturelle Aspekte im regionalen Umfeld kaum wahrgenommen.

- Normative Fundierung: Dieser marktorientierte Blick zeigt sich auch im Hinblick auf die normative Fundierung der Lehrorientierung. Während im Leitbild die Perspektive offen für alle zu sein expliziert wird, zeigt sich in den Gesprächen mit den Akteuren, dass diese sich nicht an einer partizipatori-schen, sondern eher an einer formalen normativen Grundlage orientieren. So betonen Leitungen und Verwaltungskräfte, dass es Ziel der Einrichtung sei, innovativ zu sein, Trends zu erkennen und zu setzen. Dies zeigt sich bei-spielsweise in der Diskussion mit den hauptamtlich pädagogischen Mitarbei-tenden.

Dw (.) also da sieht man einfach wie die Themen also wir sind irgendwie mehr so Vorreiter. hab ich so den Eindruck; ich muss immer gucken also was is jetzt hier neu, wo geht ne Entwicklung hin, dass ich halt was biete was die sonst noch nich kriegen […]

Aw aber ich glaub des können wer alle hier bestätigen weil wir alle schon sehr lange hier sind und des spiegelt den Wandel der Gesellschaft wieder;

Dw Ŋmhm […]

Em wir sind als Einrichtung viel mehr in der Lage schnell zu reagieren; grade die staatlichen behördlichen (.) Gremien des dauert ja ätzend lange bis da mal was in Bewegung kommt, da sind wir viel schneller

Organisation E, HPM Z. 901-926, Passage: Vorreiter

In dieser Passage zeigt sich, dass die Gruppe die Einrichtung als Vorreiter versteht, die Angebote an neue Entwicklungen, die hier im Sinne von Trends

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verstanden werden, schnell anpassen kann. Deutlich wird, dass es nicht da-rum geht, normativ für die Region bedeutsame Themen zu setzen, sondern darum, auf der Höhe der Zeit zu agieren und den Markt zu bedienen. Daher wird hier der Wandel der Gesellschaft marktstrategisch interpretiert.

- Lehr- und Lernprozesse: Entsprechend werden in dieser Einrichtung Lehr- und Lernprozesse als selbstverständlicher, aber im Vergleich zur Pla-nung von innovativen Angeboten nachgeordneter Bereich gefasst. Danach gefragt, wie ein gelungenes Seminar aussehen sollte, betont die Leitung, dass die Teilnehmenden vor allem Spaß haben sollten. Es geht darum, zufriedene Kunden zu gewinnen und zu halten. In der Diskussion mit den hauptamtlich pädagogischen Mitarbeitenden wird hervorgehoben, dass die Frage, wie ge-lehrt werden solle, erst nach der Frage beantwortet werden könne, um was es eigentlich gehen solle und ob es in der Region bei den potenziellen Teilneh-menden Anklang finden würde. Erst danach würden sie sich überlegen, wie ein Lehrangebot gestaltet werden könne. Dabei wird in der Diskussion eine Hierarchisierung zwischen makrodidaktischer Programmplanung und mikro-didaktischer Lehrpraxis deutlich: Lehren wird als Selbstverständlichkeit im Modus der Aus- und Durchführung betrachtet, während die Planung von Angeboten in den Vordergrund gerückt wird.

Die am Beispiel des Falles der Organisation E herausgearbeitete marktorien-tierte Perspektive zeichnet sich zusammenfassend dadurch aus, dass das umgebende Umfeld als Markt betrachtet wird und es normativ und didaktisch darum geht, zeitgemäße und innovative Angebote bereitzustellen, mit denen die Wünsche der Kunden befriedigt werden. Mit dieser Perspektive werden regionale Strukturbedingungen oder die Hintergründe der Teilnehmenden für diese Organisation kaum beobachtbar.

Versorgungsorientierte Perspektive ländlicher Erwachsenenbildung

Eine zweite Perspektive ländlicher Erwachsenenbildung lässt sich als versor-gungsorientiert beschreiben und kann anhand der Organisationen F und G herausgearbeitet werden. Beide Organisationen stehen in öffentlicher Träger-schaft. Sie sind für die Bildungsarbeit in einer großen geographischen Fläche zuständig und jeweils in einer ländlichen, strukturschwachen Region situiert.

Die inhaltlichen Angebote sind breit gefächert. In Organisation G werden zudem längerfristige berufliche Qualifizierungen angeboten.

- Wahrnehmung des Umfelds: Anders als in Organisation E wird von den Organisationen F und G das umgebende Umfeld als sozialer Raum verstan-den. Dies zeigt sich in der Art und Weise, wie die Region beobachtet wird.

Das regionale Umfeld wird insbesondere von Organisation G vor dem

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tergrund sozialer und demographischer Entwicklungen betrachtet. So sei die Region durch eine hohe Arbeitslosenquote sowie durch Abwanderungsbewe-gungen jüngerer Generationen gekennzeichnet. In dieser Situation nehmen die einzelnen Akteure die als schwierig eingeschätzten sozioökonomischen Hintergründe der Teilnehmenden differenziert wahr. Für die eigene Bil-dungsarbeit bedeutet dies ganz selbstverständlich mit anderen Institutionen der Region – wie Vereinen, Kommunen, Betrieben, Arbeitsagenturen – zu-sammenzuarbeiten, um so für die Teilnehmenden ein Versorgungsnetz be-reitzustellen.

Bm naja und wenn mans wenn mans insgesamt sieht, Bildungsveranstaltungen entstehen eigentlich nur eh auf entsprechenden Bedarfen, (.)das sind zum einen hier jetzt was die Aw gesagt zum einen (.) die Bedarfe in den Vereinen und Gruppen, beziehungsweise auch die Interessenlagen, die dort ne Rolle spielen, wie und wo so ne Veranstaltung durchgeführt wird, zum anderen spielen Interessen von Institutionen ne Rolle, sprich also jobcenter oder Agentur für Arbeit; die dann ma sagen hier könntet ihr nich schnell ma ne Bildungsmaßnahme in dem und dem Bereich aufbauen; wo mer sagen, (.)die sollen das und das lernen, sollen praktisch meinetwegen (.) äh mit nem äh verstärkten öh Selbstbewusstsein rausgehen, mit (.) kommunikativen Fähigkeiten, die meistens (.) ein Vermittlungshemmnis darstellen heutzutage, bei den Leuten die jetzt noch im Hartz 4 sind, des muss ma wirklich so sagen;

dort ham wers ja nich me:hr (.) wie vor 5 6 7 Jahren mit Leuten zu tun, die (.) äh sag mer ma ein Hemmnis hatten, sondern heute ham wir ja multiple (.) Vermittlungshemmnisse, (.) äh wo man sagen muss da kommt zum Alkohol vielleicht dann noch ä:h das Analphabetentum dazu, äh des wär jetz der Extremstfall; ne, also; aber ham wer auch schon gehabt.

Aw Ŋham wer auch schon

Bm Ŋham wer auch schon gehabt (.)

Organisation G, HPM Z. 312-314, Passage: Bedarf

Die Mitarbeitenden heben hier hervor, sich an regionalen Bedarfen zu orien-tieren. Während die allgemeine Bildungsarbeit in Kooperation mit Vereinen stattfindet, geht es bei der beruflichen Bildung um die konkrete Anfrage von Vermittlungsagenturen. Implizit wird dabei deutlich, dass diese Bedarfsori-entierungen als Möglichkeit der Stärkung sozialer Kohäsion gesehen werden.

Dies wird mitunter auch damit zum Ausdruck gebracht, wenn davon gespro-chen wird, auch schwer vermittelbare Personen ein Stück „weiter zu brin-gen“.

Andere regionale Akteure werden als Partner betrachtet, mit denen sozi-ale Strukturen der Region aufrechterhalten werden können. In Organisation F

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wird diese partnerschaftliche Perspektive auch als Chance für organisationale Lernprozesse gedeutet.

Bw ähm also von daher es is ne riesige Bandbreite, es is ne Anforderung aus dem Umfeld heraus die auch tatsächlich bedient wird, nich nich 100prozentig, klar geht nich, [..]und immer auch mit mit ähm Bildungspartnern im Kreis dann ähm wieder wieder was Neues auzuprobieren Aw Ŋzu kooperierenŋ

Bw ja; (4) mhm

Aw und auch nich nur mit Bildungspartnern vor Ort sondern eben auch mit mit Partnereinrichtungen; also da einfach n kollegialen Austausch auch zu Bw Ŋja; jaŋ

Aw gucken ähm was is da kömmer mitnander ähm miteinander arbeiten; was Cw Ŋkömmer da was (.) was zusammen machenŋ

Bw Ŋmhmŋ Aw können wir voneinander lernen

Bw Ŋmhmŋ

Organisation F, HPM, Z. 1273-1292, Passage: Abschluss

- Normative Fundierung: Mit Blick auf die normative Fundierung der Lehrorientierung zeigt sich, dass in Organisation F der eigene Bildungsauf-trag thematisiert wird, mit dem Bildungsangebot in die Fläche zu wirken und die Region zu versorgen. Damit verbunden ist – wie insbesondere bei Orga-nisation G sichtbar wird – die Orientierung, durch Bildungsarbeit die Sozial-struktur der Region zu stärken und die Teilnehmenden zu unterstützen, wie im Interview mit der Leitung deutlich wird. Diese spricht davon, dass insbe-sondere der soziale Zusammenhalt in der Region gestärkt werden müsse, da es kaum noch informelle Treffpunkte (wie den Einkaufsladen, das Lokal oder den Bäcker) gäbe. Daher nehme die Bildungsarbeit die Funktion ein, eine Sozialstruktur bereitzustellen. In den berufsqualifizierenden Angeboten wird sich normativ zudem an der Vermittlung zentraler Beschäftigungskompeten-zen wie Team- und Arbeitsfähigkeit orientiert. Zusammenfassend zeigt sich im Gegensatz zur marktorientierten Perspektive ländlicher Erwachsenenbil-dung, dass Bildungsarbeit ausgehend von der Unterstützung von Teilneh-menden her gedacht wird.

- Lehr- und Lernprozesse: Entsprechend orientieren sich diese Organisa-tionen in der Gestaltung von Lehr- und Lernprozessen vorwiegend daran, Teilnehmenden Hilfestellungen und Anleitungen im Hinblick auf die jeweili-gen Lerngejeweili-genstände zu geben. In Organisation G zeigt sich dies in zwei Hinsichten. Auf der einen Seite sind die didaktischen Vorstellungen vom Prinzip der Anleitung geprägt, das sich durch ein Wechselspiel von Erklä-rung, Vormachen und Übung auszeichnet. Auf der anderen Seite wirkt auf die erwachsenenpädagogische Arbeit eine sozialpädagogische

Hilfsperspek-60 Julia Franz

tive prägend, die über die Kurse hinaus Bedeutung einnimmt. So beschreiben Verwaltungskräfte und hauptamtlich pädagogische Mitarbeitende, dass ar-beitssuchende Teilnehmende auch beim Schreiben von Bewerbungen unter-stützt werden. In Organisation F zeigt sich dies in einer kontinuierlichen Weiterentwicklung der bislang frontalorientierten Lehrpraxis. So werden im Kontext von Alphabetisierungskursen Formate der Lernberatung erprobt, um Teilnehmende individueller in ihren Lernprozessen zu begleiten. Mit einer versorgungsorientierten Perspektive werden die Teilnehmenden als Aus-gangspunkte der didaktischen Gestaltung betrachtet, die auch durch sozialpä-dagogisch orientierte Hilfestellungen unterstützt werden.

Die durch die Fallbeispiele G und F aufgezeigte versorgungsorientierte Per-spektive ländlicher Erwachsenenbildung basiert darauf, dass das umgebende Umfeld als sozialer Raum in seiner strukturellen Besonderheit wahrgenom-men wird und andere Institutionen der Region als Partner wahrgenomwahrgenom-men werden. Normativ fundiert wird diese Perspektive durch das Ziel, Teilneh-mende der Region mit Bildung zu versorgen und in ihrer individuellen Ent-wicklung zu unterstützen. Entsprechend sind die Vorstellungen der Gestal-tung von Lehr- und Lernprozessen durch die Prinzipien der AnleiGestal-tung und Hilfestellung gekennzeichnet und sozialpädagogisch angereichert.

4. Diskussion: Zur Ausdifferenzierung regionaler