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Regionale Lehr- und Lernkulturen ländlicher Erwachsenenbildung. Ergebnisse einer

4. Diskussion: Zur Ausdifferenzierung regionaler Lehrkulturen

tive prägend, die über die Kurse hinaus Bedeutung einnimmt. So beschreiben Verwaltungskräfte und hauptamtlich pädagogische Mitarbeitende, dass ar-beitssuchende Teilnehmende auch beim Schreiben von Bewerbungen unter-stützt werden. In Organisation F zeigt sich dies in einer kontinuierlichen Weiterentwicklung der bislang frontalorientierten Lehrpraxis. So werden im Kontext von Alphabetisierungskursen Formate der Lernberatung erprobt, um Teilnehmende individueller in ihren Lernprozessen zu begleiten. Mit einer versorgungsorientierten Perspektive werden die Teilnehmenden als Aus-gangspunkte der didaktischen Gestaltung betrachtet, die auch durch sozialpä-dagogisch orientierte Hilfestellungen unterstützt werden.

Die durch die Fallbeispiele G und F aufgezeigte versorgungsorientierte Per-spektive ländlicher Erwachsenenbildung basiert darauf, dass das umgebende Umfeld als sozialer Raum in seiner strukturellen Besonderheit wahrgenom-men wird und andere Institutionen der Region als Partner wahrgenomwahrgenom-men werden. Normativ fundiert wird diese Perspektive durch das Ziel, Teilneh-mende der Region mit Bildung zu versorgen und in ihrer individuellen Ent-wicklung zu unterstützen. Entsprechend sind die Vorstellungen der Gestal-tung von Lehr- und Lernprozessen durch die Prinzipien der AnleiGestal-tung und Hilfestellung gekennzeichnet und sozialpädagogisch angereichert.

4. Diskussion: Zur Ausdifferenzierung regionaler Lehrkulturen

Die Befunde zur Ausdifferenzierung einer markt- und einer versorgungsori-entierten Perspektive ländlicher Erwachsenenbildung werden im Folgenden lehrkulturtheoretisch ausgedeutet und diskutiert.

Unter Berücksichtigung einer systemtheoretischen Perspektive kann (Lehr-)Kultur als eine Beobachtungsleistung zweiter Ordnung verstanden werden, mit deren Hilfe Organisationen Komplexität im Hinblick auf Leh-rentscheidungen reduzieren können, um gemeinsam geteilten Sinn zu gene-rieren (Scheunpflug et al. 2012). Auf diese Weise wird es für Organisationen möglich, Entscheidungen nicht immer neu treffen zu müssen, sondern sie können vielmehr auf einen „Themenvorrat“ (vgl. Luhmann 1995: 579) zu-rückgreifen, der das alltägliche Arbeiten im Hinblick auf das Lehren entlas-tet. Lehrkulturen gründen dabei in erwachsenenpädagogischen Organisatio-nen auf der Verbindung sachlicher, sozialer, zeitlicher und räumlicher Sinn-dimensionen (Luhmann 1984), mit denen jeweils unterschiedliche Facetten des Lehrens betrachtet werden.

Die empirisch herausgearbeiteten Perspektiven ländlicher Erwachsenen-bildung lassen sich zunächst als Ausdruck einer spezifischen Lehrkultur interpretieren, die die relative Besonderheit ländlicher Erwachsenenbildung integriert. Diese ländliche Lehrkultur basiert im Hinblick auf eine sachliche

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Sinndimension auf einer Entscheidung für Bedarfsorientierung. Hinsichtlich der zeitlichen Sinndimension zeichnet sich die Lehrkultur durch eine Orien-tierung an aktuellen Entwicklungen aus. Im Kontext einer sozialen Sinndi-mension wird die Orientierung an den Adressaten der Einrichtung hervorge-hoben. Und schließlich zeigt sich im Hinblick auf die räumliche Sinndimen-sion ein territoriales Raumverständnis, bei dem von einem ontologischen gegebenen Handlungsraum ausgegangen wird (Treml 2000). Mit den jeweils geographisch abgegrenzten Regionen stecken die Organisationen die Reich-weite ihres Handlungsraums ab.

Interessant erscheint nun, dass sich die zwei vorgestellten Perspektiven als Ausdifferenzierungen dieser ländlichen Lehrkultur interpretieren lassen (siehe Tab. 1).

Tab. 1: Ausdifferenzierung ländlicher Lehrkulturen (Quelle: Eigene Erstellung) Sinn-

Bedarfs-orientierung Unterstützung, Stärkung,

Hilfe Innovation,

Kundenwünsche Zeitliche

Sinndimension:

Aktualität Wandel der Bedingungen in der Region

Zeitgeist, Trends

Soziale

Sinndimension

Adressaten-orientierung Teilnehmende als

hilfsbedürftige Individuen Teilnehmende als zufriedenzustellende

Kooperativer Sozialraum Konkurrenzgeprägter Marktraum

Die sachliche Bedarfsorientierung erscheint im Kontext einer versorgungs-orientierten Perspektive an der Idee der Unterstützung, Stärkung, Hilfe und Stabilisation der Region ausgerichtet, während bei der marktorientierten Perspektive Bedarfsorientierungen im Hinblick auf Innovation und Kunden-wünsche gedeutet wird. Bei der Zeitdimension stehen bei der versorgungsori-entierten Perspektive im Hinblick auf die Orientierung an Aktualität zeitliche Wandlungsprozesse der Region im Mittelpunkt, während bei der marktorien-tierten Perspektive eine Orientierung am Zeitgeist und an Trends fokussiert wird. Die adressatenorientierte Ausrichtung der sozialen Sinndimension geht bei der versorgungsorientierten Perspektive mit einem Teilnehmendenbild einher, bei dem diese als hilfsbedürftige Individuen betrachtet werden. Im Kontext einer marktorientierten Perspektive werden Teilnehmende als Kun-den betrachtet. Die räumliche Sinndimension differenziert sich in der versor-gungsorientierten Perspektive im Hinblick auf einen kooperativen

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raum aus und im Hinblick auf eine marktorientierte Perspektive auf einen konkurrenzgeprägten Marktraum.

Abschließend lässt sich die These formulieren, dass diese Ausdifferen-zierung abhängig von der wahrgenommenen Strukturstärke oder Struktur-schwäche einer Region erscheint. So findet sich eine versorgungsorientierte Perspektive ländlicher Lehrkulturen im empirischen Material in Organisatio-nen, die in strukturschwachen, peripheren Regionen situiert sind. Eine markt-orientierte Perspektive ländlicher Lehrkulturen findet sich im Material hinge-gen bei einer Organisation, die in einer strukturstarken zentralen Region situiert ist. Darin deutet sich an, dass die sozioökonomische Verfasstheit von Regionen einen entscheidenden Faktor zur Herausbildung regionaler Lehr-kulturen darstellt. Dies impliziert wiederum, dass hier nicht die Differenz von Stadt und Land handlungsleitend wird, schließlich finden sich markt- und versorgungsorientierte Perspektiven auch bei städtischen Organisationen (vgl. Franz 2016b). Vor diesem Hintergrund bietet es sich für die weitere Analyse von regionalen Lehr- und Lernkulturen an, insbesondere die Struk-turstärke oder Strukturschwäche einer regionalen Bildungslandschaft (siehe z.B. Martin u.a. 2015) als Ausgangspunkt für weitere komparative Analysen zu nutzen.

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Klaus Buddeberg / Wibke Riekmann

Wirkt das Bild von Lernkulturen in der