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Stadt der kurzen Wege – Leitbild, Zielvorstellung, Vision

Im Dokument 06/2018 (Seite 66-78)

1 Teil A Einführung

3.1 Stadt der kurzen Wege – Leitbild, Zielvorstellung, Vision

In der Geschichte der Stadt lösten sich unterschiedliche Leitbilder ab, in denen sich die

Fragestellungen und Problemlagen sowie Antworten der jeweiligen Epoche widerspiegelten. Im Ergebnis können heute in den Städten unterschiedliche Leitbilder „abgelesen“ werden. Waren es zur Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert insbesondere Fragen der Wohnqualität und

Gesundheitsschäden als Konsequenz der Industrialisierung, so dominierten zu Beginn der 21.

Jahrhunderts Fragen des globalen Erhalts der natürlichen Lebensgrundlagen angesichts einer rapide wachsenden Weltbevölkerung. Die zunächst abstrakte Zielvorstellung einer nachhaltigen

Stadtentwicklung wurde Mitte der 1990er-Jahre klarer gefasst (z.B. Wüstenrot Stiftung 1993). Im nationalen Aktionsplan zur nachhaltigen Siedlungsentwicklung der Bundesregierung für die HABITAT II Konferenz wurden die Begriffe Dichte, Mischung und Polyzentralität als Leitlinien der zukünftigen Raumentwicklung genannt. Damit wurde auch ein Gegenmodell zur flächen- und ressourcenintensiven Sub- bzw. Desurbanisierung entworfen. Durch die Nachverdichtung von städtischen Quartieren, ebenso wie Funktions- und Nutzungsmischung sollten Voraussetzungen für eine „Stadt der kurzen Wege“ geschaffen werden. Ebenso wurden die Prinzipien in das

Raumordnungsgesetz 1998 als Grundsätze (§ 2 Abs. 2 ROG i.d.F. vom 15. Dezember 1997) aufgenommen:

▸ „Die Siedlungstätigkeit ist räumlich zu konzentrieren und auf ein System leistungsfähiger Zentraler Orte auszurichten.“ (Nr. 2)

▸ „Verdichtete Räume sind als Wohn-, Produktions- und Dienstleistungsschwerpunkte zu sichern.“ (Nr. 5)

▸ „Die Siedlungsentwicklung ist durch Zuordnung und Mischung der unterschiedlichen Raumnutzungen so zu gestalten, dass die Verkehrsbelastung verringert und zusätzlicher Verkehr vermieden wird.“ (Nr. 12)

Im Rahmen der (grundlegenden) Novelle 2008 wurde der Katalog der Grundsätze neu strukturiert.

Dabei wurde das Zentrale-Orte-Konzept bekräftigt und es wurde der Grundsatz (Nr. 3) aufgenommen, dass die räumlichen Voraussetzungen für die Erhaltung der Innenstädte und örtlichen Zentren als zentrale Versorgungsbereiche zu schaffen sind. Im Grundsatz Nr. 6 wird der Aspekt der

Verminderung der Neuinanspruchnahme von Fläche für Siedlung und Verkehr besonders betont.

Dafür sind Nr. 5 und 12 weggefallen.

Die „Stadt der kurzen Wege“ ist bis heute ein Leitbild der Stadtentwicklung, in dem es das

Bewusstsein für bestimmte Fragestellungen und Problemlagen repräsentiert. (Beckmann, Klaus J.

u.a. 2011, 19) Sie zeichnet sich aus durch eine kompakte Siedlungsgestaltung, durchmischte Funktionen, eine wohnungsnahe Ausstattung mit Versorgungs-, Dienstleistungs-, Freizeit- und

63 Erholungsangeboten sowie die Nähe von Wohnen und Arbeiten bzw. Ausbilden. Die „Stadt der kurzen Wege“ soll zu einer Erhöhung der Lebensqualität führen und damit die Stadt als Wohn- und Aufenthaltsort attraktiver machen und gleichzeitig drängende Umweltprobleme lindern helfen.

Sehr schnell zeigten jedoch empirische Befunde, dass eine verdichtete und durchmischte

Stadtstruktur allein nicht ausreicht, sondern dass ebenfalls Maßnahmen im Verkehrsbereich erfolgen müssen, wie z.B. das örtliche Wegenetz an den Bedürfnissen des Umweltverbundes im Nahverkehr (Zufußgehen, Radfahren, Bus und Bahn) auszurichten. Kritisiert wurde zudem die dem Leitbild innewohnende Annahme eines einfachen Zusammenhangs von Siedlungsdichte und

Verkehrsreduktion. Eine verdichtete und durchmischte Siedlungsstruktur ist jedoch lediglich eine notwendige, aber nicht hinreichende Voraussetzung für die gelebte „Stadt der kurzen Wege“. Die Handlungsmotive und Präferenzen sind vielfältig und entziehen sich einer leichten Steuerbarkeit.

(Beckmann, Klaus J. u.a. 2011, 28 f.)

3.2 Urbanität

Der Begriff „urban“ wird häufig zur Beschreibung von städtischen Eigenschaften verwendet und steht für Quirligkeit, Vielfalt, Dichte – kurz die schönen Seiten von Stadtquartieren. Hingegen füllt die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Frage, was Urbanität ist, in Bibliotheken einige Regalmeter und hat keinesfalls eindeutige Aussagen parat. Es gibt vielmehr Hinweise auf

notwendige, aber einzeln genommen nicht hinreichende Voraussetzungen von Urbanität. So führt Walter Siebel (1994) am Beispiel des Ruhrgebiets aus, dass Urbanität nicht per se der

großstädtischen Siedlungsform anhaftet und auch Vielzahl und Vielfalt kultureller Einrichtungen noch keine Urbanität garantieren. Des Weiteren fügt er die Antworten der Stadtforschung zu einem Urbanitäts-Mosaik zusammen: Von Wirth (1938) kommt die Anbindung der Urbanität an die Größe, die Dichte und die Heterogenität der Bevölkerung. Von Simmel (2006) der Hinweis auf den Markt und die gesellschaftliche Arbeitsteilung, für deren Differenzierung wiederum die Größe und Dichte der Bevölkerung eine wesentliche Bedingung darstellen. Salin (1960) bindet Urbanität an die

Emanzipation des Bürgertums und Bahrdt (1977) an die Ausprägung der Polarität von Öffentlichkeit und Privatheit. Doch entsteht die Urbanität einer Stadt im Zeitverlauf und nicht durch Addition verschiedener Eigenschaften. „Jede Gesellschaft, jede Epoche formt sich ihre eigene Urbanität. Die Urbanität Wiens im 19. Jahrhundert war anders gefärbt als die New Yorks im 20. und als die Berlins im 21. Jahrhundert sein wird.“ (Siebel 1994, 61:15) Als Eigenschaften der skizzierten Neuen Urbanität werden „Präsenz von Geschichte“ und „Ein neues Zeitregime“ benannt. Die weiteren Punkte: „Ein anderes Verhältnis zur Natur“ und „Die Qualität des öffentlichen Raums“ weisen einen direkten Bezug zum Thema des Forschungsvorhabens auf.

3.3 Quartier

Es existieren unterschiedliche Auffassungen über Definition, Ausdehnung und Ausstattung von Quartieren. Die Fachpopularität des Begriffs begründet Schnur (2010) mit

▸ dem Wunsch der Vermeidung administrativer Bezeichnungen wie Bezirk, Ortsteil, Stadtteil oder Distrikt,

▸ der Nutzung als Alternative zum unübersetzbaren (raumarmen) Begriff „Community“

(„Gemeinde“, „Gemeinschaft“) und

▸ der Differenzierung des „Nachbarschafts“-Begriffs (Lehnübersetzung des amerikanischen

„Neighborhood“).

Er bietet folgende Definition an: „Ein Quartier ist ein kontextuell eingebetteter, durch externe und interne Handlungen sozial konstruierter, jedoch unscharf konturierter Mittelpunkt-Ort alltäglicher

64 Lebenswelten und individueller sozialer Sphären, deren Schnittmengen sich im

räumlich-identifikatorischen Zusammenhang eines überschaubaren Wohnumfelds abbilden.“ (Schnur 2008) Es bleibt aber das Problem bestehen, dass ein Quartier – als überschaubares, räumlich begrenztes soziales Bezugssystem– durch die Alltagspraxis der Bewohnenden strukturiert wird und damit viele unterschiedliche Quartiersinterpretationen vorhanden sein müssten. In städtisch-planerischen und auch statistischen Kontexten wird dagegen von abgrenzbaren Räumen ausgegangen. In den

untersuchten Fallstudienquartieren musste mit diesem Dilemma umgegangen werden, das heißt es wurde auf die „ortsüblichen“ Abgrenzungen zurückgegriffen.

3.4 Dichte

„In der Stadtforschung und Stadtplanung fungiert die 'Dichte' als eines der wichtigsten Maße für die Beschreibung der baulichen Physis einer Stadt. Im Vergleich zu anderen Maßen – genannt seien beispielhaft die 'Nutzungsmischung', die 'Polyzentralität' oder die 'Kompaktheit' – erscheint die 'Dichte' auf den ersten Blick als objektiv ermittelbar und gut verständlich. Bei näherer Betrachtung handelt es sich jedoch um ein Konzept, das sich einer einfachen empirischen Ermittlung weitgehend entzieht. Bis heute gibt es kein international anerkanntes Dichtemaß und Dichteangaben für

verschiedene Länder, Regionen und Städte sind in der Regel nicht oder nur eingeschränkt vergleichbar.“ (Fina u. a. 2014)

„Dichte“ wird in der Regel operationalisiert als Verhältnismaß von Objekten (Einwohner,

Wohneinheiten, Geschoßflächen) auf einer Bezugsfläche. Grundsätzlich kann zwischen baulichen Dichten (räumliche Verteilung von Baumassen) und Nutzungsdichten (Intensität der menschlichen Nutzung besiedelter bzw. bebauter Flächen) unterschieden werden, während die ersten statisch sind und die zweiten aus demographischen, ökonomischen und sozialen Gründen dynamischen

Veränderungen unterliegen. Eine hohe bauliche Dichte muss deshalb nicht unbedingt mit einer hohen Nutzungsintensität verbunden sein, wenn beispielsweise wenige Einwohner große

Wohnflächen beanspruchen oder Gewerbeflächen eine geringe Arbeitsplatzdichte aufweisen. Die Diskussion um die “richtige“ oder die „angemessene“ Dichte von Stadtquartieren ist so alt wie die Disziplin der Stadtplanung selbst und sie wird schon immer kontrovers geführt (vgl. unter anderem Westphal 2008; Roskamm 2012).

Eine a priori „angemessene Dichtezahl“ existiert daher nicht: Verschiedene Stadtstrukturen weisen unterschiedliche Dichten auf – und während höhere Dichten einen verringerten Erschließungs- und Verkehrsaufwand mit sich bringen sowie eine effizientere Ver- und Entsorgung ermöglichen, müssen ökologische Grenzen der Verdichtung wie Lärm- und Luftbelastungen oder die Anforderungen im Hinblick auf die Anpassung an die Folgen des Klimawandels bedacht werden. (vgl. Feldtkeller: 2001:

62; Hutter et al. 2004: 8; Pahl-Weber et al. 2000: 16; Sieverts 1997: 86 nach Westphal 2008: 40 f.) Durch entsprechende Minderungs-, Ausgleichs- oder Kompensationsmaßnahmen können

Widersprüche und Konflikte sowohl in ökologischer (im Sinne der Eingriffs-/ Ausgleichsregelungen), als auch in wirtschaftlicher Hinsicht (technische Lösungen, zeitliche oder quantitative

Begrenzungen, Ausgleichs- und Kompensationslösungen) ausgeräumt werden.

Eine verbreitete Annahme besteht in der Vorstellung, dass bauliche Dichte soziale Konflikte sowie Umweltprobleme befördert. „Diese Vorstellung ist heute so verbreitet, dass Dichte ein […] [z.T.]

schlechtes Image hat.“ (Riege et al. 2002: 116) Tatsächlich beruhen soziale Konflikte aber auf vielfältigen Ursachen, unter anderem der räumlichen und sozialen Segregation mit daraus resultierenden „benachteiligten Quartieren“ (vgl. Friedrichs et al. 2009: 9 ff., 29 ff.).

Unbestritten ist Dichte eine Voraussetzung für urbane Lebensweisen, in dem sie eine Vielzahl und Vielfalt an Möglichkeiten, Angeboten und Gelegenheiten der Nutzung und Interaktion schafft (vgl.

Feldtkeller 2001: 34 ff. nach Westphal 2008: 83). Indes kommen nur wenige in den Genuss, denn

65

„wenn man [für die Region Köln/Bonn] eine Geschossflächenzahl von 1 oder 1,5 als Schwellenwert einer urbanen Dichte annimmt, dann wird deutlich, dass lediglich 20 Prozent – wenn man die Geschossflächenzahl auf 1,5 anhebt sind es gerade mal 12,5 Prozent – der Menschen in solchen Gebieten leben.“ (Siedentop 2016) Und: Eine dichte Bauweise allein erzeugt noch keine soziale und funktionale Überlagerung und damit Urbanität in der Stadt. „Die altbekannte Formel 'Urbanität durch Dichte' greift zu kurz. Die Idee der kompakten Stadt muss komplexer angelegt sein als die weitverbreitete Beschränkung der Diskussion auf Struktur und Masse künftiger Baukörper.“ (Wentz 2000: 10) Vielmehr muss die Überlagerung und Verflechtung von Nutzungen ebenso wie von sozialen Milieus mitgedacht werden.

In der Untersuchung der Fallstudien tauchten alle angesprochenen Probleme mit der Bewertung der

„Dichte“ auf. Sicher war nur, dass die Quartiere – gesamtstädtisch gesehen – jeweils besonders hohe bauliche Dichten und Nutzungsdichten aufwiesen.

3.5 Mischung

6

Ein angesichts der Materialfülle und der immer wiederkehrenden Aufmerksamkeit für die

„Mischung“ erstaunlicher Befund: Es existiert so gut wie keine genauere Definition des Gegenstands.

Es wird meist von einem impliziten, hegemonial geteilten Verständnis von funktionaler und sozialer Mischung ausgegangen, die entweder keine Konkretisierung zulässt oder diese nicht erfordert.

Verwiesen wird aber immer wieder auf die konstituierenden Elemente der Betrachtung von Mischungskonstellationen:

▸ Mischungsgegenstand – soziale und/oder funktionale Mischung

▸ Mischungskomponenten – sozial (z.B. Einkommensgruppen, ethnische Zugehörigkeit, soziale Schichten, Bildungsniveaus), funktional (z.B. Wohnungen, Produktion, Gewerbe, Handwerk, soziale Infrastruktur, bürgerschaftliche Einrichtungen, öffentliche Einrichtungen,

Dienstleistung mit geringem Kundenkontakt sowie solche mit intensivem Kundenkontakt, Einzelhandel für den täglichen Bedarf sowie für den periodischen Bedarf, Kultur und Freizeit, Gaststätten und Beherbergungsbetriebe)

▸ Mischungskörnigkeit – vertikale Mischung im Gebäude, auf Ebene von Parzellen oder Gebäudeblöcken

▸ Mischungsbereich – Größe des betrachteten Quartiers oder Stadtteils

Zudem gibt es Überlegungen zu qualitativen Bewertungen von Mischung und Vielfalt, die sich unter anderem auf den Unterschied zwischen baulichen Mischungen („additive“ Mischungen) und gelebten Mischungen (Verflechtungen) beziehen. Denn die baulichen Voraussetzungen für eine Mischung – selbst wenn sie genutzt werden – müssen nicht zwangsläufig zu einer gelebten Mischung führen (vgl. Abbildung 2).

6 Der folgende Text basiert auf den Arbeiten zu einer Studie für das Ministerium für Bauen‚ Wohnen, Stadtentwicklung und Verkehr des Landes Nordrhein-Westfalen. (zur Nedden u. a. 2015)

66 Abbildung 2: Mischung als Nebeneinander oder Miteinander

Quelle: Eigene Darstellung nach BBR 2000: 20

In einer flüchtigen Betrachtung kann der Eindruck entstehen, dass die „Charta von Athen“ eine Art Wendepunkt in der Betrachtung des Miteinanders städtischer Nutzungen darstellt – vorher war Mischung Alltagspraxis, hinterher wurde eine Trennung angestrebt. Ab den 1970er-Jahren wurde dann die Kritik an den Ergebnissen der Funktionstrennung lauter und eine Rückkehr zur

Nutzungsmischung gefordert, die sich allerdings bis heute nicht stringent durchsetzen lässt. Dieses stark vereinfachte Bild lässt aus, dass sich Bestrebungen zur Funktionstrennung als „longue durée“

durch viele Jahrhunderte zogen. Auslöser dafür waren Nutzungskonflikte und Belastungen, die im Falle der Gerber und Färber (die frühe Chemieindustrie) bereits im alten Rom bis ins Mittelalter zur Ansiedlung in gesonderten Quartieren führten. Erhebliche Dynamik erfuhr die Debatte dann während der Industrialisierung – Hauptanliegen war die Schaffung gesünderer Wohnverhältnisse.

Die Ende des 19. Jahrhunderts in vielen Städten eingeführten Zonen- oder Staffelbauordnungen ermöglichten die Gliederung der Stadt in Zonen unterschiedlicher Nutzungsintensität – die Regelungen betrafen allerdings vor allem das Maß der Nutzung (vgl. Albers 1997: 295 ff.). Die ab dieser Zeit entwickelten Stadtkonzepte7 definierten vor allem das Verhältnis zwischen

Wohnstandorten und (industriellen) Arbeitsstätten.

Auf dem CIAM-Kongress 1933 wurde die Trennung von Wohnvierteln und Industriegebieten gefordert. Gleichzeitig ging es aber um kurze Wege zwischen Arbeits- und Wohnstätten, die Sicherung von Standorten für das eng mit dem Leben der Stadt verbundene Handwerk sowie gute Verbindungen des Geschäftsviertels mit Wohnen, Industrie und Handwerk – wer also den Ruf nach einer radikalen Funktionstrennung erwartet, sucht hier vergeblich. Die „Übersetzung“ der Charta in ein städtebauliches Programm des „Funktionalismus“ wurde von starken Interessengruppen betrieben. Daran knüpften die Leitbilder8 der Nachkriegszeit an: „Wohngebiete sollten von

Störungen durch das Arbeiten freigehalten werden, und Arbeitsstättengebiete sollten zum Wohnen durch Grünbereiche oder zumindest durch gemischte Nutzungen eine erforderliche Distanz halten.“

(Reinborn 1996, 213) Mit Albers((1997, 298) muss man konstatieren, dass die Planungspraxis von wirtschaftlichen Mechanismen (Boden- und Mietpreise) und Veränderungen sozialer

Verhaltensweisen flankiert wurde.

7 Beispielsweise Theodor Fritschs „Die Stadt der Zukunft“ 1896; Ebenezer Howards Gartenstadtkonzept „To-Morrow. A Peaceful Path to Real Reform“ 1898; Tony Garniers „Cité industrielle“ 1917; sowie die Bandstadtmodelle von Arturo Soria y Matas 1882, N. A. Miljutin 1930 und Ludwig Hilberseimer 1928.

8 1957: „Gegliederte und aufgelockerte Stadt“ von Johannes Göderitz, Roland Rainer und Hubert Hoffmann – Die Prinzipien standen Pate bei der Konzeption des Bundesbaugesetzes (1960) und der Baunutzungsverordnung (1962).

Bauliche Mischung Gelebte Mischung

Baulich-strukturelle Ebene



Verhaltensebene

Stadt des engen Nebeneinanders



Stadt der kurzen Wege

Nutzungsgelegenheiten/Kontaktgelegenheiten



Individuelle Nutzung der einzelnen Möglichkeiten

Funktionsvielfalt



Nutzungsverflechtung

Soziale Vielfalt



Austauschbeziehungen

Baulich-funktionales Angebot



Individuelle Nachfrage

67 Das Paradigma der räumlich-funktional differenzierten Stadt hatte damit Auswirkungen auf

Stadterweiterungen, aber ebenso auf die bestehende Stadt. Im Zuge des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wandels setzte in vielen Städten ein langsamer Bedeutungs- und Funktionsverlust von Innenstädten sowie von Stadt- und Ortsteilzentren ein. Während Nutzungen wie Produktion und Logistik schon seit Beginn des Automobilzeitalters ihre Zentrumsaffinität verloren, sank in

Deutschland seit den 1950er-Jahren die Bedeutung der Innenstädte durch die Entstehung neuer Wohnquartiere am Stadtrand sowie seit den 1960er-Jahren durch die Entwicklung von großflächigen Einkaufszentren auf „der grünen Wiese“. Es dauerte nicht lange, bis das intensive städtische Leben der Vorkriegszeit vermisst wurde und eine Reihe von Veröffentlichungen bzw. Streitschriften diesen Verlust anprangerte: z.B. „The Death and Life of Great American Cities“ (Jacobs 1969) „Die

gemordete Stadt“ (Siedler 1978) und „Die Unwirtlichkeit unserer Städte“ (Mitscherlich 1965).

Gelesen und rezipiert wurden und werden die Werke als Anklage an die Stadtplanung;9 selten werden sie dagegen als Spiegel von Investoreninteressen und bodenrechtlichen Verhältnissen aufgefasst. Doch vor allem Letztere sorgten für eine rasche „Übersetzung“ der Kritik in Form der Stadtvorstellung „Urbanität durch Dichte“. Es wurde aber vor allem die (rentierliche) dichtere Wohnbebauung umgesetzt; weniger die Verflechtung mit anderen Nutzungen. Dass bei den großflächigen „Stadtsanierungsmaßnahmen“ Gründerzeitquartiere abgerissen wurden, löste eine bald nicht mehr zu überhörende und zu übersehende Gegenbewegung aus – und führte zu einer Veränderung der Sicht auf den alten Baubestand und zur Auflage von Programmen zu dessen Erneuerung. Mit dieser Umwertung des Bestandes ging auch einher, dass sich die Sicht auf Nutzungsmischung und Nutzungskonflikte änderte (bzw. ändern musste). Prinzipien einer nutzungsgemischten Stadt avancierten Schritt für Schritt zur Schlüsselstrategie für die „Stadt der kurzen Wege“ und die „Europäische Stadt“. (Aring, Schmitz, und Wiegandt, o. J.; Feldtkeller 1998) Mittlerweile ist in vielen Städten ein Wiedererstarken der Zentren (Re-Urbanisierungstrend) zu beobachten, was sich unter anderem in einem Anstieg der Attraktivität für Wohnnutzungen, aber auch in der „Rückkehr“ des Handels in Form innerstädtischer Einkaufszentren zeigt. Diese

Renaissance der Städte verläuft parallel zu der tief greifenden Veränderung der Arbeitsgesellschaft.

Neue Formen der Kultur- und Wissensproduktion führen zu einer „Verflüssigung der traditionellen Trennung von Arbeiten, Wohnen und Freizeit“. (Häußermann, Läpple, und Siebel 2008) Die neuen Arbeitsstrukturen sind zunehmend angewiesen auf urbane Räume mit einer „hohen ökonomischen, sozialen und kulturellen Diversität und einer baulich räumlichen Vielfalt“. (ebd.: 365) Von

Bedeutung sind in diesem Zusammenhang auch die Bestrebungen der öffentlichen Hand, durch planungsrechtliche Konzepte bzw. Vorgaben die Innenentwicklung von Städten stärker zu fördern (z.B. Städtebauförderungsprogramm „Aktive Stadt- und Ortsteilzentren“). Es zeigt sich vielerorts, dass es in den letzten Jahren nicht einfacher geworden ist, die idealisierte kleinteilige Mischung von Wohnen, Gewerbe, Handel umzusetzen. Damit bleibt der Ausgangsbefund des

ExWoSt-Forschungsvorhabens „Nutzungsmischung im Städtebau“ (BBR 2000: 9) nach wie vor bestehen:

„Zwar gibt es in vielen deutschen Städten Mischungsprojekte, sie stellen aber Ausnahmen gegenüber reinen Gewerbe- und Wohngebieten dar.“ Auch in den durchaus nutzungsgemischten

Fallstudienquartieren zeigte sich der Vollzug des Trennungsprozesses von Gewerbe und Wohnen.

3.6 Umweltqualität

Umweltqualität beschreibt den Zustand der der umweltbezogenen Schutzgüter, wie z.B. Boden, Wasser, Luft, Klima, Landschaft und menschliche Gesundheit im Hinblick auf verschiedene Indikatoren und im Vergleich mit Bewertungsmaßstäben. Während für objektive Merkmale der Umweltqualität, wie z.B. für die Konzentration von Luftschadstoffen oder Lärmbelastung anerkannte

9 So schrieb die Welt zum 50. Jahrestag des Erscheinens: „Das Standardwerk zu den Sünden der Stadtplanung, ‚Die gemordete Stadt‘ von Wolf Jobst Siedler, hat nichts von Aktualität verloren.“ (13.03.14)

68 Messmethoden und Bewertungsregeln in der Form von Normen, Richt- und Grenzwerten zur

Verfügung stehen, gibt es zur Wahrnehmung der Umweltqualität durch die Bevölkerung und deren Auswirkungen auf die Lebensqualität nur wenige Informationen. Diese Wahrnehmung ist subjektiv und somit kann die Umweltqualität eines Raums sehr unterschiedlich und individuell bewertet werden. Bei der subjektiven Bewertung der Umweltqualität eines Gebietes besteht ein enger Zusammenhang mit der Einschätzung der Aufenthaltsqualität (siehe unten).

„Kriterien für die Bewertung der Umweltqualität lassen sich auf unterschiedliche Weise gewinnen:

Sie können aus umweltpolitischen Leitbildern, rechtlichen Normen (z.B. Grenzwert) und politischen Willenserklärungen (z.B. Umweltziele) abgeleitet werden. Daneben können unter anderem

Umweltindikatoren (z.B. Bioindikatoren) oder das Ökosozialprodukt (Ökoinlandsprodukt) über die Umweltqualität Auskunft geben.“ (Springer Fachmedien Wiesbaden 2013: 412) Solche und andere Umweltindikatoren dienen der Bewertung des Zustandes der Umwelt oder bestimmter Aspekte dieses Zustandes (z.B. Luft- oder Gewässerqualität) in Form einer Maßzahl, in einem bestimmten Bereich zu einer bestimmten Zeit. „Berechnet man diese Zahl nach einer einheitlichen Regel für mehrere

Regionen oder Zeiträume, so können damit Vergleiche von Umweltzuständen vorgenommen werden“.

Des Weiteren lassen sich Kriterien zur Bestimmung von Umweltqualität aus kommunalen Umweltqualitätszielkonzepten entwickeln, die einerseits die oben genannten Vorgaben berücksichtigen und andererseits lokale Ziele definieren. Eine Sonderform von

Umweltqualitätszielkonzepten stellen beispielsweise Kommunale Klimaschutzkonzepte und Klimaanpassungskonzepte dar, die derzeit intensiv diskutiert und vielerorts im Hinblick auf die Weiterentwicklung des Siedlungsbestandes mit öffentlicher Förderung entwickelt werden.

3.7 Aufenthaltsqualität

„Die Bezeichnung Aufenthalt beinhaltet eine einladende Zugänglichkeit, das zweckfreie Verweilen, eine Entschleunigung von funktionalen Zwängen und auch das Motiv der Neugierde und des Beobachtens, das eine psychische Begründung für das Verweilen liefert.“ (Riege 2002: 109) In der Literatur lässt sich keine einheitliche Definition von Aufenthaltsqualität finden; vielmehr beruht die Bewertung der Aufenthaltsqualität in hohem Maß auf subjektivem Empfinden. Im Rahmen des Forschungsprojektes wird „Aufenthaltsqualität“ im Kontext öffentlicher Räume betrachtet. Kriterien, an denen sich deren Aufenthaltsqualität messen lässt sind unter anderem folgende (nicht

abschließend):

▸ gestalterische Vielfalt, Komplexität und Ästhetik

▸ Freiraum- und Grünraumausstattung, Wasser(-flächen)

▸ Beschattung bzw. Belichtung

▸ Ruhe, Lärmabschirmung

▸ Belüftung, Windschutz

▸ Nutzungsvielfalt und Erlebnispotenziale, z.B. kulturelle Angebote

▸ kommunikative Qualitäten

Öffentliche Räume müssen in diesem Sinne Qualitäten, Gestaltungen, Möglichkeiten, (Umwelt-) Bedingungen etc. aufweisen, die sie für den Aufenthalt qualifizieren (vgl. Feldtkeller 2002: 109).

Der Begriff des Freiraums im Sinne dieses Vorhabens orientiert sich an der Definition von Stadtgrün (BMUB 2015: 7): „Stadtgrün umfasst alle Formen grüner Freiräume und begrünter Gebäude. Zu den Grünflächen zählen Parkanlagen, Friedhöfe, Kleingärten, Brachflächen, Spielbereiche und

Spielplätze, Sportflächen, Straßengrün und Straßenbäume, Siedlungsgrün, Grünflächen an öffentlichen Gebäuden, Naturschutzflächen, Wald und weitere Freiräume, die zur Gliederung und Gestaltung der Stadt entwickelt, erhalten und gepflegt werden müssen. Auch private Gärten und

69 landwirtschaftliche Nutzflächen sind ein wesentlicher Teil des Grüns in den Städten. Auch das

Bauwerksgrün mit Fassaden- und Dachgrün, Innenraumbegrünung sowie Pflanzen an und auf Infrastruktureinrichtungen gehören dazu. Alle diese Formen des städtischen Grüns werden auch als 'Grüne Infrastruktur' bezeichnet, da sie – vergleichbar mit der 'Grauen Infrastruktur' - zahlreiche wirtschaftliche, soziale und ökologische Leistungen erbringen.“

Im Dokument 06/2018 (Seite 66-78)