• Keine Ergebnisse gefunden

Die vier Stadien der Desorientiertheit

4.3 Validation

4.3.1 Die vier Stadien der Desorientiertheit

Wenn zu bewältigende Lebensaufgaben im Laufe der Jahre nicht erledigt werden oder misslingen, können die von Naomi Feil geschriebenen letzten Lebensphasen eintreten: mangelhafte Orientierung, Zeitverwirrtheit, sich wiederholende Bewe-gungen und das Vegetieren. Es ist eine Kunst der Pflege, das entsprechende Sta-dium zu erkennen und die jeweilige Validationstechnik je nach StaSta-dium daraus abzuleiten (vgl. Maier 2008, S. 65).

Bestimmt werden diese Phasen durch physische und psychische Merkmale. Be-troffene befinden sich die meiste Zeit in der jeweiligen Phase, jedoch ist es mög-lich, diese innerhalb kurzer Zeit auch alle zu durchleben. So kann morgens je-mand vollkommen orientiert sein und nachmittags jedoch beispielsweise sei-ne/ihre Kühe melken wollen (vgl. Feil/ de Klerk-Rubin 2010, S. 67).

Im Folgenden werden diese vier Stadien beschrieben.

Stadium I: Mangelhafte Orientierung

Charakteristisches Merkmal dieses Stadiums der mangelhaften Orientierung ist das Festhalten an gesellschaftlichen Rollen. Sie klammern sich an die Realität.

83 Alte Konflikte werden in verkleideter Form geäußert, indem sie Personen aus der Gegenwart symbolhaft für Konflikte aus der Vergangenheit verwenden. Bei-spielsweise werden Mitbewohner/innen symbolhaft für Konflikte aus der Vergan-genheit verwendet, indem diese beschuldigt werden, die Unterwäsche gestohlen zu haben. Die Mitbewohnerin steht in diesem Fall für die Schwester, auf die sie eifersüchtig war. Das rationale Denken, die Sprache und der Verstand stehen je-doch im Vordergrund. Sie mögen weder Berührungen noch Blickkontakt, sind schroff und anklagend und konfabulieren bei Erinnerungslücken, welche meist bemerkt werden. Im Horten von Dingen drücken sie ihre Angst vor Verlusten aus.

Dies zeigt sich im Hamstern von Zeitungen, Taschentüchern, Zuckersäckchen usw. Sie kennen Datum und Uhrzeit, können lesen, schreiben und rechnen. Die Gesichts- und Körpermuskeln sind angespannt, der Blick ist klar und zielgerichtet.

Sie greifen oft nach Mantel, Stock und Tasche bei geringer Beeinträchtigung der Sinnesorgane (vgl. Feil/ de Klerk-Rubin 2010, S. 70-72).

Stadium II: Zeitverwirrtheit

Zeitverwirrte Menschen verleugnen ihre Verluste bzw. das Nachlassen der Sin-nesorgane und der kognitiven Fähigkeiten nicht mehr und sind realitätsfern. Die zeitliche Orientierung geht verloren, sie wissen nicht um Datum, Stunden, Tage, Jahre und leben nach ihrer „inneren Lebensuhr“. Sie leben verstärkt in der Ver-gangenheit, dies bringt die Einsamkeit und Nutzlosigkeit mit sich. Durch die Zeit-verwirrtheit gehen Selbstkontrolle und Kommunikationsfähigkeit sowie die Fä-higkeit zu sozialem Verhalten verloren. Dadurch werden sie inkontinent. Emotio-nale Gefühle wie Liebe, Hass, Angst, Trauer und Wut verstärken sich. Sie spüren jedoch, wer ehrlich oder unehrlich ist, erinnern sich an angenehme Gefühle aus vergangener Zeit und vergessen jüngste Ereignisse. Das Einhalten von Spielregeln wird unmöglich. Sie verwenden Symbole, um Dinge aus der Vergangenheit zu beleben, denken in Bildern und verwenden persönliche Fürwörter für Autoritäten ihres Lebens. Auf fürsorgliche Berührung und Blickkontakt reagieren Betroffene mit Stressreduktion. Lesen gelingt oft noch, jedoch wird das Schreiben unmög-lich. Sie singen gerne alt bekannte Lieder, können sich aber nur beschränkt kon-zentrieren. Betroffene fordern sofortige Befriedigung ihrer Triebe nach Nahrung, Liebe oder Sex. Körperlich ist die entspannte Muskulatur mit langsamen, graziö-sen, indirekten Bewegungen im Raum auffällig. Schultern sind oft nach vor

ge-84 beugt, der Hals eingezogen, der Gang schlürfend. Ihre Stimme ist flach und sie sprechen sehr langsam. Fragende Gesten entsprechen der Gefühlswelt (vgl. Feil/

de Klerk-Rubin 2010, S. 72-75).

Stadium III: Sich wiederholende Bewegungen

Bewegung ersetzt die Sprache. Nicht validierte Personen, die im Stadium II ihre Gefühle nicht verarbeiten konnten, ersetzen das gesprochene Wort durch typische Bewegungsmuster. Lebenslang eingesperrte Gefühle brechen aus und treten in Form von heftigen Bewegungen hervor. Alte desorientierte Menschen verwenden Symbole und Bewegungen für die Reise in die Vergangenheit. Sie schaffen Ver-gnügen, mindern Langeweile und reduzieren die Angst. Beispielsweise wiegt sich eine alte Frau rhythmisch hin und her und erinnert sich dabei an das Gewiegt wer-den durch die Mutter. Ein Socken kann Symbol für wer-den früher umsorgten Sohn werden, ein Sessel für den starken Vater, die Hand einer alten Frau für das Baby.

Es werden imaginäre Kühe gemolken. Sie verrichten in ihren Bewegungen sym-bolhaft Arbeiten, die sie ihr ganzes Leben lang getan haben. Mit vertrauten Gesten vollziehen sie Pantomimen und ersetzen dadurch fehlende Menschen und Dinge aus der Vergangenheit. Durch rhythmisches Summen, Schnalzen oder Stöhnen werden sie an bedeutende Personen aus ihrer Vergangenheit erinnert. Ihre Finger können permanent trommeln, schlagen, auf und zu knöpfen oder wischen. Durch dieses Verhalten wird die Gegenwart ertragen. Konzentration ist nur kurz mög-lich, sie haben Energie zum Tanzen und Singen von Kinderliedern, jedoch nicht zum Sprechen. Das Denkvermögen ist wie ausgelöscht. Bedürfnisse sollen sofort befriedigt werden, sie sind ungeduldig und können nicht nach Regeln spielen. Sie weinen häufig, schließen die Augen oder blicken nicht zielgerichtet. Die Muskula-tur ist relativ entspannt, sie sind sich ihrer Bewegungen nicht bewusst und sind harn- und stuhlinkontinent (vgl. ebd., S. 75-78).

Stadium IV: Vegetieren

In diesem Stadium hören selbst jegliche Bewegungen auf, sie isolieren sich voll-ständig von der Außenwelt. Die Augen bleiben geschlossen bzw. der Blick ist vollkommen leer. Sie sitzen im Sessel oder liegen im Bett in embryonaler Positi-on, haben kein Körperbewusstsein, Bewegungen sind kaum wahrnehmbar. Das

85 Erkennen von Personen ist unmöglich, der eigene Antrieb reicht gerade noch zum Leben (vgl. Feil/ de Klerk-Rubin 2010, S. 78-79).