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Methoden der Biografie- und Erinnerungsarbeit

4.2 Biografie- und Erinnerungsarbeit

4.2.1 Methoden der Biografie- und Erinnerungsarbeit

Es gibt zahlreiche Zugänge zum biografischen Arbeiten. Wer sich auf die Reise in das Innenleben und die Erlebniswelt eines alten Menschen begibt, braucht ausrei-chend Einfühlungsvermögen, Geduld, Zeit für eine möglicherweise lange Ge-schichte und Mut, denn nicht alle LebensgeGe-schichten sind BilderbuchgeGe-schichten (vgl. Specht-Tomann/ Tropper 2011, S. 98).

Die biografische Forschung bedient sich in erster Linie des biografisch-narrativen Interviews, wobei die Nähe zur natürlichen Erzählsituation gesucht wird (vgl.

Fuchs-Heinritz 2009 S. 178).

Die einfachste Form der Biografiearbeit passiert über Befragung nach der eigenen Lebensgeschichte. Betroffene berichten über ihr Leben. Dies wird daher als „Ei-genbiografie“ bezeichnet. „Fremdbiografie“ passiert durch Berichte von Angehö-rigen und Freunden des/r Betroffenen. Befragungen eignen sich dazu, um Eckda-ten wie Geburtsort, Beruf, Eheschließung usw. zu erfahren. Dahinter stecken aber immer individuelle Geschichten mit ihren Gefühlen, die den Menschen formten.

74 Ausschließliche Befragung wird kaum durchgeführt, meist ist Biografiearbeit ge-koppelt an spezifische Themen. Eine themenbezogene Fragestellung bezieht sich auf Erlebnisse im Zusammenhang mit Schule, Berufsausbildung, Kindererzie-hung, Familie, Hochzeit, Freizeitbeschäftigung, Arbeit etc. (vgl. Matolycz 2011, S. 43-44).

Als weitere biografische Materialien dienen Kochbücher, Briefe, Fotoalben, Ta-gebücher, Familienchroniken, geschriebene Lebenserinnerungen, Lieder- und Ge-betsbücher sowie autobiografische Skizzen. Der Weg, diese Materialen zusam-menzutragen, kann zufällig passieren oder auch systematisch geplant sein (vgl.

Fuchs-Heinritz 2009, S. 166).

Bei orientierten Menschen kann eine Befragung auch spielerisch umgesetzt wer-den. Im Gegensatz zu offenen Fragen erweisen sich geschlossene Fragen weniger günstig, da diese nur mit Ja oder Nein zu beantworten sind und einer Konversati-on entgegenstehen. Ausschließliche Befragung wird kaum durchgeführt, meist ist Biografiearbeit gekoppelt mit spezifischen Themen. In jedem Fall gilt es zu be-rücksichtigen, dass Erzähltes vertrauliche und intime Daten enthalten kann, mit denen sensibel umgegangen werden muss. Freies Erzählen ist eine Methode, die praktisch überall und speziell während pflegerischer Tätigkeiten einsetzbar ist.

Durch Betrachten von Gegenständen aus der Vergangenheit können Geschichten entstehen, welche damit in Zusammenhang gebracht werden. So kann beispiels-weise eine alte Puppe Auslöser für eine lange Geschichte aus der Vergangenheit sein (vgl. Matolycz 2011, S. 44-45).

Wenn Vierbeiner im Leben eines Menschen eine Rolle gespielt haben, so können diese in das biografische Arbeiten mit einbezogen werden. Diese können als

„Türöffner“ zur vergangenen Zeit im Umgang mit eigenen Haustieren werden.

Tiere und an Demenz erkrankte Menschen verstehen sich oft ohne Worte über die Körpersprache. Der direkte Kontakt zu Tieren wie Hund und Katze oder Kanin-chen und Vögel lösen häufig Erinnerungen aus und erzeugen möglicherweise ein Gefühl der gegenwärtigen Verantwortung (vgl. Wickel in Hölzle/ Jansen 2011, S.

267).

Ständig wiederkehrende, beinahe zwanghaft ausgeführte Verhaltensweisen sind letztendlich biografisch bedingt. Durch Eruieren von biografischen Daten kann zum Beispiel einem ständigen Umherwandern in der Nacht Abhilfe geschaffen

75 werden, indem einer ehemaligen Zeitungsausträgerin ein Stapel Zeitungen zum Austeilen im Wohnbereich zur Verfügung gestellt wird (vgl. Lind 2011, S. 213).

Sofern demenzkranke Menschen ausreichend unterstützt werden, können im Rahmen des biografischen Arbeitens noch viele Fertigkeiten ans Licht kommen.

Erinnerungen an Lieder, Melodien und Texte, die im Langzeitgedächtnis fest ver-ankert sind, können zu Brücken für gemeinsame Aktivitäten in der Gegenwart werden (vgl. Schweitzer/ Bruce 2010, S. 31).

Da das auditive Zentrum im Gehirn weitgehend frei von demenziellen Verände-rungen bleibt, spielt Musik in der Kommunikation mit Betroffenen eine besondere Rolle. Beliebte Medien wie Musik werden als „Trigger“ eingesetzt (vgl. Wickel in Hölzle/ Jansen 2011, S. 263).

Trigger sind Auslöser von mentalen Ereignissen aufgrund eines starken Rei-zes, der für den Betroffenen Bedeutung hat […] (Wickel in Hölzle/ Jansen 2011, S. 263).

Trigger weisen einen hohen Aufforderungscharakter auf. Auditive Reize können wesentlich länger erkannt werden als visuelle Reize. Das Nachahmen von Melo-dien und das Fortführen von eingeleiteten Liedtexten bestätigen den Erfolg. Das Hören eines bestimmten Musikstückes kann Menschen in Erinnerungen zurück-führen, welche in früherer emotionaler Situation gehört wurde. Es ist vorteilhaft, den Zusammenhang zwischen Demenz, Biografiearbeit und Musik zu nützten.

Empirische Studien beschreiben den positiven Effekt von Musikhören und die Auswirkung auf Unruhezustände (vgl. ebd., S. 263-264).

Das Anschauen von Fotoalben, Büchern, Schulbüchern, Poesiealben, Zeitungs-ausschnitte, aber auch Gewürze, bekannte Düfte, Aromaöle, Tabak und verschie-dene Stoffe aus unterschiedlichen Materialien dienen zur Einbeziehung aller Sin-ne. Wo es möglich ist, können Ausgänge in alt bekannte Kaffeehäuser, Museen, aber auch Kochnachmittage organisiert werden. Ein Erinnerungskoffer mit Uten-silien wie Kinderspielzeug, Kosmetikartikel, Haushaltsgegenstände, Schulartikeln kann Erinnerungen wieder klar ans Tageslicht rücken (vgl. Maier 2008, S.48-49).

Bewusst werden Demenzkranke im mittleren Stadium gedanklich in Lebenszu-sammenhänge, welche durch biografisches Arbeiten erkannt werden, zurückge-führt. Das Tragen persönlicher Utensilien wie Schlüsselbund, Geldbörse, Handta-sche, Brille etc. trägt zum Sicherheitsgefühl des/der Betroffenen bei. Berufliche Materialen können z.B. demenzkranken Männern Beschäftigung vermitteln,

in-76 dem z.B. Schreibmaschine, Aktenordner etc. bereitgestellt werden. Dadurch kann die vertraute Berufswelt wieder erlebt werden. Puppen und Kuscheltiere werden von demenzkranken Frauen im mittleren Stadium wie ihre eigenen Kinder gehegt und gepflegt und führen sie in das Dasein als Mutter zurück (vgl. Lind 2011, S.

212).

Stets soll vor Augen gehalten werden, dass die verbale Ausdrucksweise eines de-menten Menschen nach und nach versagt. Daher muss mit Fragen vorsichtig um-gegangen werden. Im Speziellen ist die Frage nach dem „Warum“ oft kontrapro-duktiv. Nur durch behutsames Herantasten an Fakten ist es möglich, etwas in Er-fahrung zu bringen, indem ruhig und behutsam mit deutlicher Sprache in einfa-chen, kurzen Sätzen gesprochen wird. Das Sprachrepertoire soll dem Betroffenen angepasst werden. Nicht Verstandenes hinterlässt oft Ratlosigkeit. Nach der jün-geren Vergangenheit zu fragen, ergibt wenig Sinn. So ist es nicht verwunderlich, dass Betroffene sich an die Großeltern besser erinnern als an die eigenen Enkel-kinder. Den Blickkontakt zu pflegen und die betroffenen Menschen von vorne anzusprechen ist deshalb wichtig, da Stimmen von der Seite oder von hinten nicht zugeordnet werden können. Vorsicht ist geboten bei belastenden und tabuisierten Themen wie Scheidung, Zerwürfnissen mit geliebten Menschen, Konflikten un-terschiedlichster Art. Viele leiden heute noch an posttraumatischen Belastungen, welche nie verarbeitet werden konnten und in den Stadien der Demenz wieder aufbrechen können. Mit Panikattacken kann beispielsweise jemand auf das Ertö-nen von FeuerwehrsireErtö-nen reagieren, die mit Kriegserlebnissen in Zusammenhang gebracht werden. Auch im Alter ist eine therapeutisch orientierte Aufarbeitung von Wichtigkeit, um ein Leben in Frieden abschließen zu können (vgl. Wickel in Hölzle/ Jansen 2011, S. 261-262).

Biografisch gestaltete Lebensräume in Altenwohn- und Pflegeheimen tragen we-sentlich zum Wohlbefinden eines an Demenz erkrankten Menschen bei. Mit etwas Phantasie lässt sich eine Ecke oder auch Räume einrichten, die nach anno dazumal gestaltet werden, wo genannte Erinnerungsstücke zum gemütlichen Verweilen oder auch Einkaufen anregen. Erinnerungen pflegen und so zu biografischen Ma-terial zu kommen kann auch bei demenzkranken Menschen in Einzelsitzungen oder Gruppen erfolgen. Dabei ist zu beachten, dass gebildete Gruppen je nach Schweregrad der Demenz homogen gestaltet werden. Durch die Aktivierung posi-tiver Erinnerungen soll die Lebenszufriedenheit Betroffener gefördert werden.

77 Durch Erkennen von früheren Vorlieben und Hobbies eröffnen sich Möglichkei-ten der Beschäftigung von demenzkranken Menschen. Es fördert eine entspannte Atmosphäre, der gegenseitige Umgang gestaltet sich stressfreier (vgl. Maier 2008, S. 47-49).