• Keine Ergebnisse gefunden

Sprachrohr revolutionären Verlangens: Das Zentralbulletin internationale situationniste

III. NUR EIN ETAPPENZIEL: DIE ÜBERWINDUNG DER KUNST 1. Wiederbelebung der frühen Schriften

2. Sprachrohr revolutionären Verlangens: Das Zentralbulletin internationale situationniste

Schon die erste Ausgabe der internationale situationniste setzte sich inhaltlich, gestalterisc h, als auch in ihrer Auflagenhöhe deutlich von ihrem Vorgänger Potlatch ab. Eingebunden in eine kühl und distanzierend wirkende, gleichwohl verführerisch glänzende, leicht spiegelnde, goldfarbene Chromolux-Hülle imitierte das Zentralorgan der S.I. äußerlich den Standard aufwändig produzierter Broschüren der Privatwirtschaft oder finanzkrä ftiger Interessenverbände (Abb. 35).360 Im Rahmen einer festgelegten Form sollte den Empfängern solcher Magazine eine „Ahnung vom Stoff ihrer Geschäfte“ vermittelt werden.361 Vorbilder für die Idee, den Look, Layout und Anspruch könnten beispielsweise die seit den Zwanzige r-, respektive den Dreißiger Jahren existierenden Revue du Nickel sowie die Revue de l’Aluminium gewesen sein.362 Was drucktechnisch realisierbar war, wurde wirkungsästhetisch eingesetzt, um

358 Die verschiedenen Bemühungen mit Neuformationen an die von Karl Marx 1864 gegründete Internationale Arbeiterassoziation anzuknüpfen, blieben zumeist erfolglos. Der französische Historiker Pierre Nora führt an, dass nach der Anprangerung der stalinis tischen Verbrechen auf dem 20. Parteitag der KPdSU 1956, die kommunistische Erinnerung international nachhaltig beschädigt war. Vgl. Nora, Pierre. „Gaullisten und Kommunisten“. In: Nora (Hg.). Erinnerungsorte Frankreichs. München. C. H. Beck, 2005: 220 – 221. Es handelt sich um Einzelbeiträge des siebenbändigen Werks Les lieux de mémoire, das in Frankreich zwischen 1984 und 1992 erschienen war.

359 Die Lettristen und die Situationisten blieben nicht die einzigen, welche der Nachkriegsavantgarde in Frankreich Schwäche und Orientierungslosigkeit attestieren. Der Kunsthistoriker Jean Clair spricht von einer

"verschollenen Generation", die nicht in der Lage war sich dem brutalen Zusammenbruch von Stil und Moral entgegenzustellen. Vgl. Clair, Jean. Die Verantwortung des Künstlers: Avantgarde zwischen Terror und Vernunft. Köln. DuMont, 1998: 105 - 107.

360 Eine farbige Abbildung der ersten Ausgabe von i.s. findet sich in: Ciret, Yan (Hg.). Figures de la négation, Avant-gardes du dépassement de l'art. Kat d.. Ausstellung Musée d'art Moderne Étienne Métropole. Saint-Étienne. Édition Paris-Musées, 2004: 111. Das Gespräch zwischen Yan Ciret und Hans Kochen stellt die Abbildung in den Kontext eines Angriffs auf den Werkcharakter der Kunst und ihre historische Verbindung zur Religion. Der Inhalt der Zeitschrift negiere gründlich, wofür der Goldgrund auf dem Einband kunstgeschichtlich steht. Vgl. Kochen, Hans. "Contre l'image, ceci n'est pas une œuvre, ceci n'est pas un document". In: Figures de la négation: 108 - 111.

361 Vgl. den Dokumentenband zur Ausstellung The Most Dangerous Game: 784.

362 Vgl. hierzu die detaillierte Beschreibung der Objekte 621 - 630 im Dokumentenband: 782 – 786.

143

Solidität aber auch die Selbstdarstellung global funktionierender, bestvernetzter und stets auf der Höhe der Anforderungen der Zeit agierender Branchen zu suggerieren. Wollte man nicht das im Kapitalismus so überlebenswichtige Vertrauen in die assoziierten Unternehmungen und ganze Industriezweige einbüßen, durfte keinesfalls ausgerechnet an den Publikationskoste n gespart werden.

Trotz seines kleinen Formats liegt auch das Magazin der Situationisten verblüffend schwer und

‚wertig‘ in der Hand des Lesers. Keinesfalls befindet man die Zeitschrift nach dem ersten materiellen Befund und Durchblättern für zu leicht. In dieser für die damalige Zeit luxuriöse n, gar ikonischen Aufmachung verkörperte die Edition das neue Selbstverständnis und die gewachsene Potenz der Situationischen Internationale. Im Hintergrund schienen Gönner zu wirken, welche ihr Projekt alimentierten. Unterhielt nicht diese mysteriöse Gruppe überall in Europa Büros und Sektionen? Welche Unternehmungen federten das finanziell ab? Geschäftige Emissäre wurden von einem Ort zum anderen gesandt um die Positionen der S.I. zu vertreten.

Angst vor der Revolution ist umso konkreter, wenn sich nicht nur die Geknechteten und Mittellosen einer Gesellschaft (oder ‚Verdammten dieser Erde‘) ihrer Verwirklic hung annehmen, sondern der aufgeklärte und gut betuchte Teil der Bourgeoisie diesen Kampf gegen die Herrschaft der eigenen Klasse unterstützt. So wie weiland der Textilindustrielle Friedrich Engels als Mäzen, kongenialer Mitdenker, Rezensent und Ko-Autor von Marx auftrat.

35 Einband von i.s. Nr. 1. Verlässlich monochrom bis 1969.

In thematischer Hinsicht formulieren sechs kurze, inhaltlich aber auf komplexe Weise verzahnte ältere und neue Texte das programmatische und handlungspraktische Rüstzeug der

144

neuen Avantgarde. Ganz ähnlich wie die Text- und Bildfragmente der Mémoires reagieren die von den Autoren aufgegriffenen Themen der Artikel unablässig miteinander. So ist es wohl angebracht, die Zeitschrift nicht nur als Zentralorgan zu bezeichnen, sondern ihre Funktion darüberhinaus als eine Art Laboratorium zu verstehen, unter dessen Dach einer nicht abreißenden Reaktionskette durch die unterschiedlichen Beteiligten und ins Spiel gebrachten Ideen, Überzeugungen, Inhalte, Temperamente und kommunikativen Codes stets neue Energie hinzugefügt wird.363

Die einleitenden "Editorischen Notizen" verorten die neue kulkturelle Bewegung als Erbe der surrealistischen Intervention in die Kultur. Den Stil der Surrealisten imitiert man in der Tat beträchtlich im Layout und in den Rubriken der Zeitschrift, die sich optisch ebenfalls an der strengen Gestaltung von Bretons zwischen 1924 und 1929 herausgegebenen Revue La Révolution surréaliste orientiert.364 Allerdings wird die Ambition herausgekehrt, sich nicht bruchlos in diese Tradition zu stellen. Bemühung um Abgrenzung bestimmt auch das Verhältnis zu allen zeitgenössischen Jugend- und Protestbewegungen, deren wirtschaftlic hes Verwertungspotential schon bald nach ihrer Formierung als gegenkulturelle Kräfte entdeckt und kulturindustriell ausgeschlachtet wurde.

Langeweile ist die dem altgewordenen Surrealismus, den wütenden und wenig informierte n jungen Männern und dieser Rebellion der behaglich lebenden Jugendlichen gemeinsa me Wirklichkeit, die zwar ohne Perspektive ist, aber weit davon entfernt, ohne Grund zu sein. Die Situationisten werden das Urteil vollstrecken, das die heutige Freizeit gegen sich selbst fällt.365

Das Editorial von i.s. Nr. 1 streicht deutlich die Rolle der Situationisten im Kampf gegen den repressiven Gebrauch der neuen Konditionierungstechniken heraus, deren Mittel sie aber ihrerseits in diesem Konflikt einzusetzen gedenken. Unabhängige wissenschaftlic he Erkenntnisse auf diesem Gebiet hätten bislang im Schaffen der Gegenwartskünstler keine Berücksichtigung gefunden, während sie polizistisch und massenkulturell effektiv zur

363 Die namentlich gezeichneten Texte haben Debord, Ivain, Jorn und Bernstein verfasst. Dem ersten Redaktionskomitee gehörten Mohammed Dahou, Pinot-Gallizio und Maurice Wyckaert an. Man verstand die Texte als Produkte einer gemeinsamen Forschungsarbeit. Vgl. i.s. Nr. 1: 6.

364 Zur Gestaltanalyse der surrealistischen Zeitschriften der 20er und 30er Jahre vgl. Durozoi, Gérard. "Die Zeitschriften des Surrealismus: Paris - New York, einmal anders". In: Spies, Werner (Hg.). Die surrealistische Revolution. Ostfildern-Ruit. Hatje Cantz Verlag, 2002: 353 - 361.

365 "Editorische Notizen". i.s. Nr. 1: 10. Die Situationisten wollten weder mit der amerikanischen

Beat-Generation noch mit den Existentialisten verglichen werden. Bereits Isidore Isou hatte begriffen, wie schnell die Distinktionsbemühungen der Jugend als Moden aufgegriffen und vermarktet wu rden. Um wirkliche

Unabhängigkeit zu erlangen, muss die Jugend gegen ihre schiere Nichtexistenz, ihre Einbindung in den Kreislauf von Lohnarbeit und Konsum, revoltieren. Innerhalb weniger Jahre, so schildert es der Popkultur-Historiker Marcus, hatte der jugendorientierte Markt Isous Vorstellung von Jugend als sozialer Klasse übernommen. Die Jugend konsumierte nun ihren eigenen Elan. Es entstand ein völlig neuer Wirtschaftssektor, der Musik, Filme, Kleidung etc. für junge Leute auf den Markt brachte. Vgl. Marcus. Lipstick Traces: 280 - 283.

145

Konditionierung und zur komplexen Umgebungskonstruktion eingesetzt würden.366 In dem bevorstehenden Kampf gehe es nun darum, die durch das 20. Jahrhundert angehäuften Mittel an sich zu reißen, welche den Situationisten die brauchbaren Werkzeuge der künstlerisc he n Schöpfung bedeuten. Folgerichtig wird zum wiederholten Mal der Film in seiner gesamtgesellschaftlichen Wirkung als die führende Kunstform identifiziert. Man denunzie rt seinen falschen Gebrauch als passiv konsumiertes Surrogat für die gegenwärtig möglic h gewordene einheitliche Kunsttätigkeit, wie sie die Situationisten anstreben. Als Lebensersatzmedium führe der Film der reaktionären Macht des Spektakels, welches an dieser Stelle als noch unscharf konturierter Begriff seinen Eingang in die situationistisc he Terminologie findet, stets neue Kräfte zu.367 Das Kino ist zweifellos ein wichtiges Kampfgebiet. Diese Einsicht hatten die Situationisten nicht exklusiv. Die Gruppe trachtete danach, sich spezifisch eines experimentellen Sektors der Filmkunst zu bemächtigen, um den Film gegen die repressive Konditionierung zu mobilisieren. Hinsichtlich solcher Ambitio n lassen sich zwei Anwendungen des Films unterscheiden: seine Verwendung als Propagandaform in der vorsituationistischen Übergangsperiode sowie seine direkte Anwendung als wesentliches Bestandteil in einer realisierten Situation.

Durch seine aktuelle Bedeutung im Leben jedes Menschen ist der Film mit der Architektur zu vergleichen. Grundkonsens ist, dass man die progressiven Aspekte beider Kunstformen nutzen-, sie der Organisation der Umgebung zugänglich machen muss. Die Konstruktion der Umgebung wiederum ist die Frucht einer kollektiven Auffassung des Spielbegriffs, wie ihn bereits die Lettristen bei Johan Huizinga vorformuliert fanden. Die gemeinsame Ausarbeitung der Spielbedingungen sieht vor, mit dem bornierten Raum und der bornierten Zeit des gesamten Lebens, mit seiner rationalen und zweckmäßigen Ausrichtung radikal zu brechen.

Der einzige beim Spiel erdenkliche Erfolg ist der unmittelbare Erfolg seiner Umgebung und die ständige Verstärkung seiner Macht. Genau zu der Zeit, wo das Spiel sich bei seiner jetzige n Koexistenz mit den Überbleibseln der Verfallsphase nicht ganz vom Aspekt der Konkurrenz freimachen kann, muss es mindestens darauf hinzielen, günstige Bedingungen für das richtige Leben zu schaffen. In diesem Sinne ist es immer noch Kampf und Darstellung - Kampf für ein der Begierde angemessenes Leben und konkrete Darstellung eines solchen Lebens.368

Die Bemühung der Situationisten, so schließt das Editorial, besteht gerade darin, ludisch die zukünftigen Möglichkeiten einer Intervention in die Kultur vorzubereiten. Der Begriff des 'Nur-Spielens' schließt keineswegs die Möglichkeit aus, die entsprechenden Tätigkeiten mit

366 Vgl. "Editirische Notizen" In: i.s. Nr.1: 12.

367 Vgl. "Editorische Notizen" in: i.s. Nr.1: 13.

368 "Editorische Notizen". Ebenda: 15.

146

äußerstem Ernst durchzuführen. Der Beruf des Situationisten versteht sich also in der Ausübung eines Spiels mit ernster Absicht.369 Die Verknüpfung von Spiel und Darstellung verdeutlic ht wie obsolet die traditionellen Kunstgattungen geworden sind. Jede spezialisierte Tätigkeit soll in einem großen Spiel aufgehen, das sich über seine Zeugnisse und Spuren, welche die Spielzüge nachvollziehbar machen, selbst zur Darstellung bringt. Alle Werke, die zum Einsatz kommen sowie jegliche Unternehmung der Teilnehmer müssen als integrative Elemente in der höheren Organisation dieses Spiels begriffen werden.

Die regelmäßige Veröffentlichung von i.s. ab 1958 ist ein katalysierender Faktor in der Vorbereitung der weiteren Spielzüge. Als Medium einer stets selbstreflexiven Kommunika tio n und Vehikel zur Animation fordert die Zeitschrift ihre Leser dazu auf, sich in dieses Unternehmen einzubringen. In den ersten Ausgaben wird die inhaltlich und stilistisc h aufgebaute Distanz zum Leser mehrfach durch direkte Apelle aufgebrochen. Exemplarisc h dafür steht der Aufruf am Ende der ersten Ausgabe von i.s., sich an den zukünftigen Aktivitä te n der Situationisten zu beteiligen:

"JUNGE LEUTE

wenn ihr irgendwie zum Spiel und zur Selbstüberwindung fähig seid Ohne besondere Vorkenntnisse

Klug oder schön

Ihr könnt mit der Geschichte gehen MIT DEN SITUATIONISTEN

Nicht anrufen! Schreiben oder vorsprechen Bei: rue de la Montagne-Geneviève,

Paris 5"370

Das Layout des Zentralorgans der Situationisten entspricht den in ihren Texten theoretisch fundierten Techniken der Zweckentfremdung. Auch in dieser Hinsicht dem historisc he n Vorläufer La Révolution surréaliste vergleichbar, geht die Bebilderung des Magazins über eine bloße Illustration der Artikel hinaus. Zusammen mit den Theoremen und Thesen der Redakteure ergeben sich so eine Reihe überraschender und irritierender Verbindungen. Auf den

369 Vgl. "Editorische Notizen": 15.

370 i.s. Nr. 1: 37.

147

Seiten der Premierennummer finden sich fünf Fotos von leichtbekleideten attraktiven Frauen leitmotivisch zwischen die Textblöcke montiert. Diese softpornographischen 'Bikini-Mädc he n' sind kombiniert mit einer Abbildung einer Baseballspielerin in voller Montur und Aktion, welche dem Leser eine Vergeudung von Energie im falschen Spiel bedeuten soll.371 Der Sportfotografie wiederum ist eine in Planquadrate gerasterte Luftaufnahme des linken Seine -Ufers von Paris gegenübergestellt; dem labyrinthischen Zentrum der situationistisc he n Erkundungen im Gewirr der Straßen und Gassen, die Le Corbusier einst als 'Eselswege' und mit vergleichbaren ätzenden Metaphern geschmäht hatte.372 Die Idee des Plans einer solchen sogenannten "Experimentalzone"373 wird noch im selben Artikel durch die Einfügung jener Karte eines Schulatlanten ergänzt, die alle möglichen geologischen Formationen der Erdoberfläche in einer Zusammenschau zeigt.374 Dem Formenreichtum auf der gefaltete n Erdkruste korrespondiert die Fülle menschlicher Leidenschaften, deren eher spirituelle denn materielle Hinterlassenschaften es in den Sedimenten einer alten Hauptstadt aufzuspüren gilt.

Davon handelt Chtcheglovs "Formular", welches die Grenzen zwischen phantastisc her Literatur und soziologischer Analyse neu vermisst und überschreitet.

Eine dritte eingefügte Karte zeigt die Parzellierung des Pariser Kernstadtbereichs in seine zwanzig Arrondissements. Besagte schematische Darstellung empirischer Forschungen wurde der Studie des Soziologen Chombart de Lauwe, Paris und das Pariser Stadtgebiet, entnomme n.

Auf dem Plan sind die Wegstrecken einer im 16. Bezirk wohnenden Studentin verzeichnet, die binnen eines Jahres von ihr zurückgelegt wurden (Abb. 36). Mit wenigen Ausnahme n beschränken sie sich auf die unmittelbar angrenzenden Nachbarbezirke im noblen Westen der französischen Hauptstadt. Die Wege zwischen ihrer Wohnung, der Universität sowie der Wohnung ihres Klavierlehrers beschreiben ein kompaktes gleichschenkliges Dreieck von geringer Flächenausdehnung. Das Schaubild ist ein Beleg für die vorgebrachten Thesen der S.I., wie die jeweilige Tätigkeit eines Menschen, determiniert durch seine klassenspezifisc he Abkunft, seine Lebensumstände konditioniert und reproduziert.

371 Sport, als dem Berufsleben komplementäres, getrenntes und konditioniertes Freizeitvergügen, war in Kreisen der Situationisten verpönt. Baseball, der amerikanische Volkssport um den sich so viele Erfolgsmythen ranken und der in Europa unpopulär ist, ist insofern ein gutes Ziel für die Polemik der S.I..

372 Als Vertreter einer Ingenieursästhetik beliebte es Le Corbusier von unzeitgemäßen Stadtanlagen und in Bildern von Befall und Krankheit zu sprechen. Die Polemik Le Corbusiers wird mit Gegen -Polemik beantwortet.

So entsteht durch Reibung Energie, sowie ein Aufschaukelungskreislauf bewusster Provokationen.

373 In i.s. Nr. 3 wird eine Luftaufnahme des Stadtzentrums von Amsterdam als "Experimentalzone für das Umherschweifen" bezeichnet. Vgl. i.s. Nr. 3: 90.

374 Vgl. i.s. Nr. 1: 25. Die gleiche Karte findet sich in Mémoires eingangs des dritten Kapitels: M 29.

148

36 Infographik von Chombart de Lauwe in i.s. Nr. 1.

Implizit steht die Langeweile zur Debatte, die sich in einem derartig eingeschränkten Leben breitmacht. In der zweiten Ausgabe von i.s., die im Dezember 1958 erscheint, wird selbige Skizze als "Beispiel für eine moderne Poesie" bezeichnet, "die lebhafte Gefühlswirkunge n verursachen kann, in diesem Fall wohl die Entrüstung dagegen, dass es möglich ist, so zu leben".375 Die Verbildlichung solcher Theorien kann dem Fortschritt der Experimente der Situationisten durchaus nützlich sein.376

Eine in fettgedruckten Balken gesetzte Notiz zu Beginn der zweiten Nummer von i.s. hebt als das Thema der fotografischen Bebilderung das alltägliche Leben zur Zeit des Auftretens der situationistischen Bewegung hervor.377 Abbildungen, die Sujets der Freizeitindustrie zeigen, werden in dieser Folgenummer einigen Porträtfotos der wortführenden Situationiste n kontrastiert. Das Foto eines mit erstaunlicher Körperbeherrschung und in selbstvergesse ner Trance gleich mehrere Hula-Hoop-Reifen schwingenden Teenagers ist mit einem Zitat de Sades unterlegt. Das Bonmot des Marquis konterkariert die drillartig perfektionerte Ausübung eines Hobbys insofern, als es die Praktizierung jeder Religion und ihrer Wahnbilder als absurde und falsche Mythen denunziert, "an die sogar die Kinder nicht mehr glauben"378. Die Bildpropaganda eines durch die mit immensen Zuwachsraten immer mächtigere Freizeitindustrie beworbenen modischen Spiels, dessen Ziel - als Umdrehung eines Kunststoff-Reifens um die Hüften - ebenfalls die Revolution ist, gerät kontextuell zum Zeichen einer kulturellen Leere, die der fetischistischen Ersatzreligion bedarf. Es entsteht so ein Kreislauf der einander ablösenden euphorisch gefeierten Enttäuschungen. Ausgangs der Fünfziger Jahre schreibt Aldous Huxley in dem Essay Wiedersehen mit der Schönen neuen Welt, einer Revisio n

375 Debord, Guy. "Theorie des Umherschweifens" in: I.S. Nr. 2 Dezember 1958: 59

376 Vgl. Debord. "Theorie des Umherschweifens" in: I.S. Nr. 2: 59.

377 Vgl. i.s. Nr. 2 – Dezember 1958: 40.

378 Vgl. "Editorische Notizen" in: i.s. Nr. 2: 45.

149

seines weltberühmten Zukunftsromans Brave New World von 1932, dass die Jenseitswelten der Religion und der Freizeit einander ähneln. Auch ein klassisch gebildeter und zudem tief religiöser Geisteswissenschaftler wie Marshall McLuhan hatte das in seiner Bemühung

‚Amerika‘ zu verstehen, anhand der Ikonographie der Werbung umfassend untersuc ht.

McLuhans Buch The Mechanical Bride erschien erstmals 1951.379 Mit der Ablenkung, die sie bieten, können diese absolut gegenwärtigen Jenseitswelten zu einer Bedrohung der Freiheit werden.380 Einer Gesellschaft, deren Angehörige große Teile ihrer Zeit in den belanglose n Fluchtwelten des Sports und der Musicals, der Mythologie und metaphysischen Phantasie verbringen, dürfte es schwer fallen, den Eingriffen derjenigen zu widerstehen, die diese Gesellschaft manipulieren wollen.381 Jenes Klischeebild einer vergnüglichen Freizeitaktivität, die über den Erwerb eines Modeartikels unauflöslich mit der blinden Zustimmung zu einer konsumistischen Weltanschauung verbunden ist, findet seinen Konterpart in den konzentrierte n und nachdenklichen Mienen der Situationisten, wie sie mit wachen Augen auf ihre Gegenwart blicken. In ebenfalls insgesamt fünf Porträtfotos stellt sich den Lesern der Zeitschrift eine Abordnung wahrhaftiger Lebemenschen der Epoche vor. Diese neue Generation tritt ans Licht einer vorerst noch kleinen Öffentlichkeit. Besagte Abbilder sind mit Zitaten jener Säulenheiligen der Subversion versehen, die Debord zum Teil auch in den Mémoires auf die Bühne schickt. Apercus von Bossuet, Retz, Dumas und Fontanelle tragen zur Charakterisierung der Situationisten als mutige Abenteurer bei. Aphoristisch zugespitzt werden die Zitate in ihrem neuen Kontext zu selbstbewussten Parolen im Mund junger Charismatiker. Ein Foto Debords auf der letzten Seite der Ausgabe zeigt ihn mit Zigarre in der Hand und lässig über die Schulter geworfenem Düffelmantel (Abb. 37). Wie wenn er gerade im Aufbruch zu einem unaufschiebbaren Termin begriffen wäre. Aufmerksam und freudig gespannt blickt er mit hinter den Gläsern seiner Nickelbrille prüfend zusammengekniffenen Augen auf etwas, das unweigerlich auf ihn zuzukommen scheint. Direkt unter dem ‚brechtisch‘ anmutende n Oberkörperporträt steht ein Aphorismus von La Rochefoucauld zu lesen: " 'Oft werden wir dadurch gehindert, einem einzigen Laster zu frönen, weil wir mehrere davon haben.' "382

379 McLuhan, Marshall. The Mechanical Bride: Folklore of the Industrial Man. Berkeley. Gingko Press, 2001.

Faksimile der Originalausgabe von 1951. In den Sechziger Jahren folgten in rascherer Reihenfolge die Bücher, welche McLuhans Ruf als ‚Guru‘ der Medientheorie zementierten. Die Zusammenfassung seiner Aphorismen im Paperback The medium is the massage verkaufte sich 1967 millionenfach. Die Dimension des Interesses und des Erfolgs exemplifiziert das Begehren einer Generation, sich die eigene Lebensrealität anschaulich erklären zu lassen.

380 Vgl. Huxley, Aldous. Wiedersehen mit der Schönen neuen Welt. München, Zürich. Piper, 1992: 283.

381 Vgl. Huxley. Wiedersehen: 283. Huxley umreißt hier das Problem in einer ähnlichen Weise wie z.B. auch Horkheimer und Adorno in ihrem Essay zur Kulturindustrie, der erstmals 1947 erschienen war.

382 i.s. Nr. 2: 75. Debord zitiert mit La Rochefoucauld einen Skeptiker, der jeden Antrieb des Menschen aus der Eigenliebe (amour-propre) erklärt. Die von La Rochefoucauld negativ ausgelegte Verpflichtung zur Tat – "die Selbstsucht spricht alle Sprachen und spielt alle Rollen, selbst die der Selbstlosigkeit" - wird durch Debord

150

37 Porträtfoto Debords in i.s. Nr. 2.

Die Artikel von i.s. Nr. 2 werden gerahmt durch weitere Fotos von Jorn und Debord, die so prominent als Autoritäten in den Vordergrund treten; allerdings ohne in der S.I. einen alleinige n Führungsanspruch geltend zu machen. Ein Science-Fiction-Comicbild am Ende der

"Editorischen Notizen" handelt sowohl von der Gruppenhierarchie, als auch von der als humorig kaschierten Ernsthaftigkeit und Realitätsbezogenheit eines größenwahnsinnig erscheinenden Unternehmens. Als Zielvorgabe fassen die Situationisten nicht weniger ins Visier als die Umgestaltung der bestehenden Welt auf allen Ebenen. Der Tenor ihrer Texte oszilliert zwischen utopischen Vorstellungen und rationalen Vorgehensweisen, die existente n Gegebenheiten dieser Welt zu nutzen, "wo es anscheinend die nötigen Bedingungen gibt", wie der Admiral einer Sternenflotte in der einmontierten Comicsequenz seinen versamme lte n

"Editorischen Notizen" handelt sowohl von der Gruppenhierarchie, als auch von der als humorig kaschierten Ernsthaftigkeit und Realitätsbezogenheit eines größenwahnsinnig erscheinenden Unternehmens. Als Zielvorgabe fassen die Situationisten nicht weniger ins Visier als die Umgestaltung der bestehenden Welt auf allen Ebenen. Der Tenor ihrer Texte oszilliert zwischen utopischen Vorstellungen und rationalen Vorgehensweisen, die existente n Gegebenheiten dieser Welt zu nutzen, "wo es anscheinend die nötigen Bedingungen gibt", wie der Admiral einer Sternenflotte in der einmontierten Comicsequenz seinen versamme lte n