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Die lettristische Kunstauffassung von Isidore Isou

I. VORGESCHICHTE DER SITUATIONISTISCHEN INTERNATIONALE 1. Ein Porträt des Antikünstlers als junger Mann

2. Die lettristische Kunstauffassung von Isidore Isou

Lettristische Poesie, wie sie in den frühen Fünfziger Jahren in den Bars und Cafés von Saint Germain de Près zur Aufführung kam, richtete sich als performatives Ereignis gegen die als bedrückend und bevormundend empfundene Vermittlung von Literatur und Kunst in dieser Zeit. Zensur und Verbote waren probate Mittel neue Ausdrucksformen und unterminiere nde Themen wie sexualisierte und explizite Inhalte zurückzudrängen und das Publikum zu schonen.

Öffentliche Auftritte junger, zumeist vom offiziellen Literaturbetrieb ignorierter Dichter, die in der provokanten Manier der Züricher und Berliner Dadaisten agierten, kamen im jeweilige n Kleinmilieu einem Befreiungsschlag gegen die Konventionen der herrschenden Kultur gleich.

Im Zentrum des Lettrismus steht die Erfindung einer onomatopoetischen Technik, deren historischen Stellenwert es theoretisch abzusichern galt.176 Lautmalerische Gedichte und sogenannte Metagraphien, Graphiken, die häufig in Form von Bilderrätseln vom Willen zur Zerstörung der Sprache zeugten, entstanden im Zuge von Experimenten, welche in der Absicht unternommen wurden, die Sprache auf ihr kleinstes Element, den Buchstaben, zu schrump fe n.

Dieser wurde als hyroglyphisches Zeichen eines vorliterarischen Sounds dargestellt (Abb.

18).177

174 Greil Marcus interpretiert das Porträt in ION als Aussage Debords, dass der Lettrismus für ihn bereits Vergangenheit, eine Erinnerung ist. Was Debord vor sich hat, sagt das Foto, "ist eine Zukunft". Vgl. Marcus.

Lipstick Traces: 341.

175 Vgl. Kaufmann. Guy Debord: 34.

176 Vgl. die Darstellung bei Ohrt. Phantom Avantgarde: 15 - 20.

177 Abbildungen von verschiedenen Metagraphien der wichtigsten Vertreter dieser Kunst (neben Isou, vor allem Maurice Lemaître und Gabriel Pomerand) finden sich in: Sabatier, Roland. Le Lettrisme: les creations et les createurs. Nice. Z’éditions, 2000: 98 - 106 sowie u.a. bei Ohrt. Phantom Avantgarde: 28 – 29. Desgleichen in den Büchern von Laurent Chollet. Les Situationnistes: L’utopie incarnée: 13 und L’insurrection situationniste:

24 – 25. Verwiesen sei in diesem Zusammenhang auch auf den Salle 33 des Centre Pompidou in Paris, in welchem seit 2016 das Schaffen der frühen Lettristen gezeigt wird. Sowie auf die über 180 Werke und eine Vielzahl an Traktaten, Manifesten und Bücher umfassende Berliner Privatsammlung von Elke und Arno Morenz, die ebenfalls seit einigen Jahren öffentlich und zu Studienzwecken zugänglich ist. Danke an dieser Stelle!

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18 Gabriel Pomerand. Einband seines hypergraphischen Romans, 1950.

Während der ägyptischen Expedition Napoleons fand man 1799 den sogenannten Stein von Rosette, auf den sich viele Werke der Lettristen bezogen. Seit 1836 steht inmitten der Place de la Concorde der monumentale Obelisk von Luxor. Etwa 1.600 auf seiner Oberfläche angebrachte Schriftzeichen berichten von den ruhmreichen Taten des Pharao Ramses des Zweiten. Einige der frühen DaDa-Heroen lebten nach dem Zweiten Weltkrieg in Paris und traten hie und da noch öffentlich auf. Hauptstädter waren bezüglich der Konfrontation mit jeweils neuartigen Chiffren also einigermaßen vorgebildet und nicht so leicht in Aufregung zu versetzen oder gar aus der Fasson zu bringen.

Bereits Mitte der Vierziger Jahre hatte Isidore Isou die Grundidee zu seiner bildhaften Dichtung abgehandelt, die 1947 im renommierten Verlag Gallimard erschienen war. Konzentriert lässt sich die Lehre der Introduction à une nouvelle poésie et à une nouvelle musique als Prozess von Zerstörungen und Reduktionen der Poesie resümieren, deren Geschichte mit Charles Baudelaire zur Mitte des 19. Jahrhunderts an einen kritischen Punkt gekommen war. Synonym für die einzelnen Phasen einer gleichzeitig von Skepsis und einem zerstörerischen Elan getragenen Weiterentwicklung der künstlerischen Sprache seit Baudelaire, setzt Isou die berühmten Dichternamen Verlaine, Rimbaud, Mallarmé, Tristan Tzara und zuletzt Breton. Der Dekonstruktionsprozess der lyrischen Sprache vollzog sich durch eine Verlagerung auf ihren jeweils nächstkleineren Baustein; von der Strophe über den Vers zum Wort, von dort ins Innere der Worte. In der Gegenwart befinde sich die Poesie erneut an einer Wendemarke, die zum Zerbrechen der Worte und ihrer anekdotischen Bedeutung geführt habe. Wie immer, wenn man am Anfang steht, sei eine gewisse Ärmlichkeit der ersten Realisierungen unvermeidbar, verlautete Isou apologetisch.178 Ein trichterförmiges Schema (Abb. 19), das sich als Schaubild

178 Vgl. Schilderung bei Ohrt. Phantom Avantgarde: 19.

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auf Seite 21 in Isous Introduction abgedruckt findet, veranschaulicht diesen Progressionsgedanken einer Selbstauflösung des Materials und der Form, die unvermeid lic h mit dem Namen Isou die historische Engstelle der Entwicklung der technischen Sensibilität in der Poesie erreicht.179 Der Kunsthistoriker Roberto Ohrt interpretiert den Anspruch Isous auf Exemplarität in enger Verbindung zu dessen Motivation, die Kunst seiner Sprache vorwiege nd an einer frühzeitigen Materialsammlung für die eigene Laudatio zu beweisen.180 Isou selbst machte keinen Hehl daraus, dass er nach literarischem Ruhm strebte. Sein gesamtes Auftreten und die kalkulierten Skandale zeugen davon.

19 Trichterschema von Isidore Isou, 1947 bei Gallimard.

Ungeachtet seiner Anwandlungen verstand es der Literat und Lebemann immerhin, seine Theorie einer sich phasenhaft vollziehenden Autodestruktion der Dichtung auf die Gebiete des Theaters und des Kinos zu transformieren. Aus dieser, zumindest in seinem unmittelb are n künstlerischen Umfeld für zutreffend gehaltenen Deutung, leitete er die Legitimation einer vorübergehenden Führungsrolle unter den selbsternannten Zerstörungskünstlern ab, als welche man die Lettristen verschubladen mag.

Mit seinem Film Traité de Bave legte Isou dann 1951 das Manifest des lettristischen Films vor.

„C’est la première fois qu’on présente un manifest du cinéma dans le cinéma."181 In der Rolle des seherisch begabten Propheten, der einen Ausblick auf die Kunst der Zukunft wagt, formuliert er seine künstlerischen Absichten wie folgt: "La rupture entre les paroles et la photo

179 Isou, Isidore. Introduction à une nouvelle poésie et à une nouvelle musiqu e. Paris. Gallimard, 1947: 21. In Phantom Avantgarde finden sich drei Entwicklungsschemata aus Isous Introduction abgedruckt. Alle

Stammbäume gipfeln in der literarischen Tätigkeit von Isou, der mit der Reduktion der dichterischen Sprache auf den Buchstaben den Weg in die Zukunft der Poesie eröffnet. Vgl. Ohrt. Phantom Avantgarde: 21.

180 Vgl. Ohrt. Phantom Avantgarde: 23.

181 Isou, Isidore. Traité de Bave et d’Éternité: 23.

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formera ce que j’appelle LE CINÉMA DISCRÉPANT."182 Wenn man die neue Sensibilität der lettristischen Poesie auf den Film übertragen will, muss man das Material, aus dem dieser besteht, zerstören.

La photo du cinéma doit donc entrer dans sa phase infernale, dans sa phase du Mal! [...] Il ne s‘agit pas de faire un film et de jouer avec un procédé valable pour soi seul, mais de savoir comment le cinéma peut se dépasser, ouvrier un chemin neuf au film pour qu’il aille plus loin.

Il ne s’agit pas seulement d’apporter quelque chose de neuf dans un film, mais d’ouvrier une voie neuve au cinéma.183

Als erste Realisation des Begriffs eines "diskrepanten Films" enthielt Traité de Bave Szenen aus dem Alltagsleben im Quartier Latin, Fotos von Isou und anderen Lettristen (Abb. 20), deren Gesichter zumeist unkenntlich gemacht sind, sowie eine Fülle zerkratzten Filmmaterials in disparater Folge.184 Kinobilder in ihrer infernalischen Phase schmerzhafter Auflösung – wenn man das obige Zitat frei übersetzen kann.

20 Isou kopfüber in Traité de Bave. Darunter Gil Wolman.

Diese disharmonisch gereihten Sequenzen sollten vom Publikum in den Zusammenhang einer sich vollziehenden absoluten Revolte gestellt werden. Der Hang einer nonkonformistisc he n Jugend zum Skandal und zu kulturellen Störaktionen muss als Versuch bewertet werden, sich

182 Isou. Traité de Bave: 18.

183 Isou. Ebenda: 22.

184 Vgl. Abbildungsmaterial im Anhang "Documents" von Isou. Traité de Bave: 83 - 102.

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lautstark und tabulos vom gesellschaftlichen Status-quo der verzagten und lähmende n Nachkriegsjahre zu distanzieren.

Den lettristischen "Ur-Skandal" von Notre Dame, bei dem sich einige junge Männer als Priester verkleidet hatten, um anlässlich der Ostermesse 1950 den versammelten Gläubigen von der Kanzel der wichtigsten Pariser Kirche herab den Tod Gottes zu verkünden, eint mit den poetischen Performances, wie sie in den Kaschemmen des Rive Gauche zur Aufführung kamen, die Ablehnungshaltung. Sich als Teil einer zutiefst in ihren Selbstverständnissen erschütterte n und gespaltenen französischen Gesellschaft willenlos einzureihen, kam kategorisch nicht in Frage. Die agonisierende Fadheit der religiösen Gebete und die Anbetung alter Heroen der französischen Kunst waren zusammengehörende Zeichen einer betrügerischen Ablenkung, welche Restaurationsbestrebungen kaschierte. Der Tod Gottes wurde in Notre Dame verkündet,

"auf daß endlich der Mensch lebe".185 Es galt mit teilweise kalauerhaft anmutenden Frechheite n Konfusion zu schüren, indem man sich auf die verbliebenen, noch irgendwie positiv konnotierten und Hoffnung spendenden Symbole stürzte. Die halb spaßhaft geäußerten Absichten des Lettristen Ivan Chtcheglov, den Eiffelturm in die Luft sprengen zu wollen, weil dessen nächtliches Lichtspektakel seinen Schlaf störe, sowie die insistierende Dreistigkeit bei den Festspielen von Cannes auf einer Vorführung des eigenen Films zu beharren um im darauffolgenden Jahr mit weiteren Antifilm-Projekten zu drohen, stießen in das gleiche Horn.186 An all diesen Orten ging es vor allem darum, als Folge der kalkulierten Verunsicherung, Wut, Tumult und Diskussion zu erzeugen. Den Vorführsaal eines Kinos dachte sich Isou konsequent als ein ideales Forum dafür, mit seinen theoretischen Ausführungen ein zuvor unbeteiligtes Publikum in die bislang als Spezialistendiskurs geführte Debatte um die Kunst miteinzubeziehen. "C’est la première fois qu’on introduit le Ciné-club dans le cinéma, c’est-à-dire qu’on préfère la réflexion ou les débats du cinéma sur le cinéma au cinéma ordinaire en tant que tel."187

Die filmerische Produktion Isous erschöpfte sich seinerzeit in einem ersten und einzigen Film.

Zum einen mangelte es an Phantasie, zum anderen erforderte die Filmherstellung eine bedeutende Investition, nicht gerechnet die Arbeit im Labor und im Studio. Seine Getreuen

185 Der vollständige Wortlaut dieser Anti-Predigt findet sich abgedruckt in: Mension, Jean-Michel. Wir haben unsere unfertigen Abenteuer gelebt: 31 - 33.

186 Greil Marcus berichtet in seinem Buch ausführlich über die frühen Skandale der Lettristen. Vgl. Marcus.

Lipstick Traces: 289 - 325. Für unseren Zusammenhang ist es wichtig, dass diese Aktionen aus Wut über das fehlende historische Bewusstsein der tragenden Eliten in Staat und Kirche entstanden. In Paris waren die Existenzialisten schon zu einer Touristenattraktion geworden. Gegen eine solche Kultur begehrte man mittels Verweigerungen und kalkulierten Tabubrüchen auf.

187 Isou. Traité de Bave: 23.

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fingen an, Isidore Isou den Rücken zuzukehren, und versuchten, den Meister hinter sich zu lassen, denn wie kann man die Mittelmäßigkeit bewundern?188

Gil Wolman, ein anderer Künstler, der sich den lettristischen Skandalen verbunden fühlte, hatte 1951 seinen Film L’Anticoncept auf einen Heißluftballon projiziert. François Dufrêne, der später unter anderem als Plakatabrisskünstler im Umfeld von Raymond Hains und Jacques Villeglé einige Bekanntheit erlangen sollte, sparte sich gleich einen großen Teil der Mühe und der Materialkosten. Für sein filmisches Experiment Die Posaunen des Jüngsten Gerichts beschränkte er sich auf ein Tonband, das die Traumbilder, die der Lettrist vorgeblich gerne gezeigt hätte, kommentierte.189 Der Film ohne Film war ein Leitbild rotzig-respektloser Bestrebungen, den Film in seiner Warenförmigkeit zu agitieren. Das konnte plötzlic h

‚gelingen‘, ohne sich mit den Ausführungen allzu viel Arbeit gemacht- oder andere allzu sehr ins Kontor schlagende Investitionen getätigt zu haben. Solange die Erzeugnisse billig waren, unfertig oder sinnfrei wirkten, verfielen ihre Macher nicht dem Ruch, bourgeois zu sein.