• Keine Ergebnisse gefunden

New Babylon oder der Konflikt zwischen unitären Urbanisten und der Künstlerfraktion in der S.I

III. NUR EIN ETAPPENZIEL: DIE ÜBERWINDUNG DER KUNST 1. Wiederbelebung der frühen Schriften

3. New Babylon oder der Konflikt zwischen unitären Urbanisten und der Künstlerfraktion in der S.I

Auf alle von Constant aufgeworfenen Fragen zu den Techniken und Anwendungsgebieten einer ludischen Kunst, erscheint in der sechsten Ausgabe von internationale situationniste im August 1961 das vollständige Programm des sogenannten Unitären Urbanismus. Zuvorderst geriert sich der von Kotanyi und Vaneigem verfasste Text "Elementarprogramm des Büros für einen Unitären Urbanismus"393 als Attacke auf den offiziellen zeitgenössischen Städtebau. Viel deutlicher als hier wurde es seinerzeit kaum formuliert: "Die Entwicklung des städtischen Milieus ist die kapitalistische Dressur des Raums."394 Eine fortschreitende Konditionierung wird durch das "Geschwätz von der Brauchbarkeit erzwungen".395 Als den wichtigsten Erfolg der zeitgenössischen Städteplanung bezeichnen die Situationisten, dass sie die Möglichke ite n einer lebendigen, durch die Spannungen des alltäglichen Lebens geförderten Kritik an dieser Manipulation vergessen macht. Der ganze Raum ist von einem Feind kolonialisiert, der alles Widerständige für seinen Gebrauch gezähmt hat. Ein authentischer Urbanismus hingegen gehe von solchen Zonen aus, wo man sich dieser Besatzung entledigt. Dort beginne das, was die Situationisten "Konstruktion" nennen.396 Die Theorie des Unitären Urbanismus ist der Versuch einer Umdeklarierung der gesamten theoretischen Lüge des Urbanismus, "ihre Entwendung zum Kampf gegen die Entfremdung. Wir müssen ihre Rhytmen umkehren."397 Indem der Unitäre Urbanismus per Definition alle Aspekte des Lebens umfasst, zeigt er sich mit der Idee der Revolution identisch.

Die situationistische Zerstörung der gegenwärtigen Konditionierung ist schon die gleichzeitige Konstruktion der Situation. Sie bedeutet die Befreiung der unerschöpflichen Kräfte, die im versteinerten Alltag eingeschlossen sind. Die gegenwärtige Städteplanung, die als eine Geologie der Lüge auftritt, wird mit dem Unitären Urbanismus vor einer Technik zur Verteidigung der ständig bedrohten Bedingungen der Freiheit weichen, und zwar in dem Moment, in dem die – als solche immer noch nicht vorhandenen – Individuen frei ihre eigene Geschichte konstruieren.398

Hinsichtlich der Konzeption des Unitären Urbanismus als Gesamtsubversion steht die Forderung nach permanenter Transformation an oberster Stelle seines Programms. In seinem

393 Kotanyi, Attila; Vaneigem, Raoul. "Elementarprogramm des Büros für einen neuen Urbanismus". In: i.s. Nr.6 – August 1961: 223 - 225.

394 Kotanyi; Vaneigem. "Elementarprogramm des Büros für einen neuen Urbanismus": 223.

395 „Elementarprogramm“: 223.

396 Vgl. „Elementarprogramm“: 224.

397 „Elementarprogramm“: 225.

398 „Elementarprogramm“: 225.

156

Veto gegen die Festschreibung des Menschen auf eine spezialisierte Rolle richtet sich der Unitäre Urbanismus, der als eine Wissenschaft der Mobilität verstanden werden will, auch gegen die zeitliche Fixierung der Städte.

Mit der Publikation einiger Modellzeichnungen und Fotos des architektonischen Projekts einer

"hängenden Stadt" von Constant in i.s. Nr. 3 und i.s. Nr. 4 (Abb.en 38 und 39), das wohl auf Anregung Debords New Babylon getauft wurde399, wird der Leser der Zeitschrift mit dem zwiespältigen Verhältnis konfrontiert, das Constant mit dem situationistisc he n Geschichtsprojekt unterhält.

New Babylon sollte sich innerhalb des folgenden Jahrzehnts zu Constants Opus magnum entwickeln.400 Bis heute sind die zahlreichen Modelle, Zeichnungen, Pläne und schriftliche n Manifeste Constants eine der Hauptreverenzen der utopischen Stadtplanung und Architektur, wie sie sich an der Schwelle der Sechziger Jahre angesichts vieler neuer Herausforderungen an den Städtebau, schubhaft zu entwickeln begann.401 In seinem Buch The Situationist City untersucht der Designexperte Simon Sadler die vielfältigen Interdependenzen der Architektur und Stadtplanung in jener Zeit. Anhand einer zusammengetragenen Fülle von Dokumente n untermauert die Studie, wie sehr sich Constant trotz seiner eigenen Überzeugung einer Science-Fiction der Avantgarde zuzugehören, mit seinen nimmermüden Ausführungen des Projekts doch auf der Höhe einer Zeit bewegt, in der das Imaginäre die Verschmelzung mit der Realität nicht länger nur zu versprechen, sondern tatsächlich einzulösen scheint. Sadler zeigt Parallele n zwischen New Babylon und anderen wegweisenden, auf Flexibilität und Veränderbarkeit setzenden Architekturprojekten auf, die fast ausnahmslos von einer ähnlic he n Grundproblematik ausgehen. In Auseinandersetzung mit den drängenden Problemen einer

399 Vgl. Ohrt. Phantom Avantgarde. Ausgangspunkt der Schmähung von Paris als "New Babylon" sind unter anderem Beschreibungen des dekadenten Paris in englischen Touristikführern des 19. Jahrhunderts. Vgl. dazu auch: Steiner, Juri. New Babylon. Aufstieg und Fall der Stadt Paris zwischen Second Empire und 1968.

Dissertation an der Philosophischen Fakultät der Universität Zürich, 2003. Online publiziert : https://opac.nebis.ch/ediss/20030025.pdf

400 Den reich bebilderten und wohl akribischsten Überblick bietet Marc Wigleys Werkmonographie Constant’s New Babylon: The Hyper-Architecture of Desire. Rotterdam. Witte de With, 1998. Der Zeitrahmen seiner Aufarbeitung erstreckt sich von 1952 bis zur Ausstellung des Projekts im Witte de With Center for Contemporary Art in Rotterdam 1998.

401 Verwiesen sei hier auf einen Artikel von Niklas Maak in der Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 26. August 2018, Seite 45: „Zieht doch in die Mall!“. Der Journalist nimmt sich darin des Phänomens der sogenannten ‚Dead Malls‘ an, welche nur der Anfang eines „großen architektonischen Artensterbens“ seien. Vor dem Hintergrund der aktuellen Besorgnis um die Zukunft der Arbeit und den Räumen, nach welchen

Beschäftigung verlangt, konstatiert er eine Aktualität der Denkmodelle und Entwürfe einer "Welt aus

Plattformen". Zu bedenken gibt der Architekturkritiker allerdings, dass die Utopie einer Verwandlung der Arbeit in Spiel von der Realität längst einkassiert ist. Wer als Angestellter der globalen Konzerne wirklich spiele und nicht ständig Ergebnisse in die Maschine einspeise, fliege aus der neu -babylonisch wirkenden Idealwelt der modernen Konzernzentralen ohne Kündigungsschutz und Krankenversicherung ganz schnell wieder raus.

157

gesteigerten gesellschaftlichen und individuellen Mobilität und dem maroden bis ruinösen Zustand der alten europäischen Städte nach dem Zweiten Weltkrieg gibt es vielfältige Lösungsansätze.402

38 Constant-Zeichnung in i.s. ‚Prinzip einer bedeckten Stadt‘.

Das Werk Constants soll an dieser Stelle sowohl in seiner Qualität als utopisches architektonisches Entwurfsszenario, vor allem aber als ein Schlüsselprojekt in der Historie der S.I. interessieren. Divergierende Vorstellungen über das richtige Verhältnis von Theorie und künstlerischer Praxis innerhalb der S.I. lassen sich anhand der Auseinandersetzung um New Babylon exemplifizieren. Constant bekundete ein unvermindertes Interesse daran, seine Modelle und Notizen zu New Babylon auch außerhalb des Rahmens einer konzertierte n Gruppenstrategie ausgestellt und veröffentlicht zu wissen. Dies kommt rückblickend einer situationistischen Ursünde gleich; zumal wenn seine Motive nicht klar voneinander geschieden werden können.

Die Auseinandersetzung, wie sie in i.s. öffentlich nachvollziehbar gemacht wird, bezeichnet eine Grenze, von der ausgehend die Entwicklung sowohl der organisatorisc he n Gruppenstruktur, als auch des Zusammenhangs von Theorie und Praxis in der S.I. eine nicht ganz unerwartete Wendung nehmen. Sie führt von der Kunst weg; wie es der Kampflinie Debords entsprach. Es wäre allerdings zu leichtfertig von einem Bruch in der Geschichte der Organisation zu sprechen. Kaufmann bezeichnet das Werk Constants entsprechend plausibe l als ein "Scharnier, das der SI erlaubt, die Schritte zurück mit denen nach vorn in Übereinstimmung zu bringen"403.

402 Sadler betont die Ähnlichkeiten mit den Entwürfen Peter Smithsons für eine "Cluster City". Eine

Weiterentwicklung dieses Konzepts stellt der Entwurf von Alison und Peter Smithson für ein Bebauungsprojekt der Innenstadt von Berlin aus dem Jahr 1958 dar. Deutlich ist auf einer Entwurfszeichnung ein ausgedehntes Netz von Bürgersteigen zu erkennen, das sich auf einer über das normale Straßenniveau erhöhten Ebene hinzieht. Vgl. Sadler, Simon. The Situationist City: Abbildungen 3 und 5, S. 118.

403 Kaufmann. Guy Debord: 190.

158

39 Zeichnung eines Verbindungssektors in einer bedeckten Stsdt. In i.s. Nr. 3, Dezember 1959.

New Babylon verdankte seine Existenz und seinen Namen dem in der "Theorie der Zweckentfremdung" formulierten Willen zur umwertenden Erinnerung. Sowohl der Turmbau zu Babel, als auch die Tradition der Vorstellung vom antiken Babylon mit seinen Lüsten und Ausschweifungen bilden als mythische Überlieferungen die Folie der situationistisc he n Rememorierungs- und Dekonstruktionsarbeit. Die Hybris des Menschen zeigt sich symbolisie rt in der Errichtung eines Turms, der die göttliche Schöpfung in seinen Schatten stellen sollte.

Das Strafgericht Gottes, wie es das alttestamentarische 1. Buch Mose schildert, vollzog sich keineswegs in der Zernichtung des Bauwerks selbst, sondern in der Verwirrung der Sprache als Zerstörung der Basis jeder Verständigung und Auslöschung des Zeichens für die Einheit der Menschheit mit sich selbst und mit Gott.404 Als Anfang der Utopie in der Architektur ist in der allegorischen Überlieferung dieses Mythos die Möglichkeit des menschlichen Scheiterns in die Unfertigkeit des megalomanen Bauvorhabens warnend einbeschrieben.405 Das Projekt lässt sich nicht realisieren, da die Menschen einander nicht mehr verstanden und von Gott über die ganze Erde verstreut wurden.

In der Überlieferung fungiert Babylon desweiteren als mystische Hauptstadt der Ungläubige n.

Eine Art teuflisches Pendant zur Heiligen Stadt Jerusalem. Folgenschwerer Gegenstand mittelalterlicher Weihsagungen war, dass dereinst ein christlicher Kaiser kommen werde, um Babylon zu erobern und von den Heiden zu befreien. Dieser verheißene endzeitliche Herrscher sei der auferstandene Constans, dem es gelte in den Kreuzzug zu folgen.406 Mag die

404 Vgl. Kolter, Susanne H.. Die gestörte Form: zur Tradition und Bedeutung eines architektonischen Topos.

Weimar. VDG, 2002: 79.

405 Debord zeigt eine Fotografie des berühmten Gemäldes von Breughel in seinem Film Die Gesellschaft des Spektakels von 1973. Vgl. Debord, Guy. Complete Cinematic Works: 69 - 70, Abb. S. 106.

406 Vgl. Cohn, Norman. Die Sehnsucht nach dem Millenium: Apokalyptiker, Chiliasten und Propheten im Mittelalter. Freiburg, Basel, Wien. Herder Verlag, 1998: 75 - 76. König Ludwig von Frankreich machte sich diese Weihsagungen zunutze, als es darum ging, das abendländische Christentum für den Zweiten Kreuzzug zu motivieren.

159

Namensähnlichkeit zwischen dem Fürsten und dem Niederländer zufällig sein, so ist doch der erlösende Anspruch verblüffend ähnlich.

In der langen Traditionskette des polemischen Gebrauchs des Namens der Stadt als Synonym für ein zu erwartendes gerechtes Strafgericht muss an die Verunglimpfung der Pariser Kommune von 1871 als neues Babylon erinnert werden. Tendenziös ging es der Allianz der Gegner einer bürgerlichen Selbstverwaltung der Stadt darum, über die Identifikation der Staatsmacht mit Gott, jenes sich nun auch politisch allmählich modernisierende Paris an der Schwelle der Gründung der Dritten Republik als einen sündhaften Pfuhl des Lasters und der anarchistischen Verwirrung zu schmähen. Die gewaltsame Niederwerfung der Kommune, der widerständischen Arbeiter, die sich vor allem in den materiell armen nordöstlic he n Stadtvierteln verschanzt hatten, kann so in der polemischen Verkürzung der politischen Gründe als Tribunal legitimiert werden.407 Offensichtlich kannten Debord und Constant den sowjetischen Stummfilm der Regisseure Grigorij Kosinev und Leonid Trauberg, Nowyi Wawilon (1926-1929).408 "Nouvelle Babylon", so heißt im Film ein riesiges Pariser Warenhaus, dessen Architektur, Funktionsweisen und Betriebsamkeit Sinnbilder der Herrschaft der bourgeoisen Klasse über das Proletariat sind. Das folgt Szenarien naturalistischer Romane des 19. Jahrhunderts; etwa bei Emile Zola. Künstlich wird die Begeisterung für den vaterländisc he n Krieg Frankreichs gegen die deutsche Armee durch Sonderangebote geschürt. Mit billige n Konsumanreizen soll die dräuende soziale Frage überdeckt- und die Kontrolle über die Bevölkerung bewahrt werden. Ziel der Bourgeoisie ist es durch den wirtschaftlichen Profit gestärkt aus dem politischen Konflikt hervorzugehen.409 Eine junge und wissbegierige Verkäuferin von Modeartikeln durchschaut nach und nach den kalkulierten Schwindel und reift im Verlauf der Fabelführung zu einer wildgelockten heroischen Anführerin der unterdrückte n Arbeiterklasse heran, die nun ein Machtbewusstsein zu entwickeln beginnt. In klassenkämpferischen Topoi schildert das Werk die Erhebung und Niederschlagung des Pariser Proletariats. Die Feststimmung der Barrikadenbauer, welche aus Pflastersteinen und Konsumartikeln Schutzwälle aufwerfen, endet in einem Blutbad. Vom französischen Militär, das sich in Versailles auf die Seite der besitzenden Klasse gestellt hat, werden die Kommunarden gnadenlos niedergemetzelt. Das letzte Bild des Films zeigt eine Kreideschrift

407 Zu Ehren des Blutgerichts erichtete man auf dem Montmartre die Kirche "Sacre Coeur", die sich –

weitgehend losgelöst von ihrem ursprünglichen Erinnerungsgehalt - zu einem magnetischen Anziehungspunkt für Touristenströme entwickelte.

408 Die internationale Fassung des Films lief im Verleih des British Film Institute (BFI) unter dem Titel New Babylon.

409 Die geschilderte Situation wird so als historischer Vorläufer der Oktober-Revolution verständlich. Lenin nutzte die allgemeine Mobilisierung im Ersten Weltkrieg und transformierte sie in revolutionären Elan gegen die alten Mächte des zaristischen Russlands.

160

auf dem regennassen Pflaster der Stadt. Die Parole "Vive la Commune", welche wie das Blut der Aufständischen langsam vom Regen weggewaschen wird, fordert dazu auf, die Toten, ihre Forderungen, Kämpfe und Opfer nicht zu vergessen und ihnen nachzueifern.

Mit New Babylon knüpfen die Situationisten bildpolitisch und rhetorisch an die Selbstermächtigung des Pariser Proletariats zur Zeit der Kommune an. Im Licht der Entwendung des negativ besetzten Begriffs möchte Constant der Stadtidee, die man ausgangs des ersten Nachkriegsjahrzehnts - angesichts der von den Situationisten analysierten Malaise - abermals für gefährdet hält, wieder zu einem gemeinschaftlichen Charakter verhelfe n.

Constants Beschreibungen und Modelle versuchen die widerstreitenden menschlic he n Ambitionen und Bedürfnisse einander harmonisierend zu konfrontieren.

Im Gegensatz zum urbanistischen Common Sense ausgangs der Fünfziger Jahre, der die Stadt dem Individualverkehr opferte, welcher die übrigen tradierten kommunikativen Ströme unterbrach, überlässt Constants Prinzip einer "bedeckten Stadt" den Boden ganz dem funktionalen Transport. Das wahre Leben begibt sich - durchaus in Auseinandersetzung mit den Ideen Le Corbusiers zur begrünten und parzellierten Stadt, zu denen Constant eine Alternative formulieren wollte -410 ein Stockwerk höher. Es soll sich dort in der Unendlichke it von miteinander verbundenen Räumen und aufgehängten Kollektivwohnungen entfalten. In einem Entwurfsszenario, welches nicht zuletzt die Kerkeranlagen im graphischen Werk Piranesis paraphrasiert, gleichen die architektonischen Strukturen Constants gewaltige n Labyrinthen, in deren verwirrender Abfolge von Kabinetten man abenteuerlich verloren gehen kann. Constants Vorstellung von einem nomadisierenden Menschen ist der diametra le Gegenentwurf zum „Modulor“ des Le Corbusier, welcher sich wiederholende, gleichförmige, sozusagen a-historische Tätigkeiten verrichtet, über die zu reflektieren und zu berichten obsolet ist.411

Diese als Korrelat der Fülle ihrer Beschreibungen in grandiosen Ausmaßen dimensionerte Stadtanlage, unterteilt sich in ein eher bedürfnisorientiertes erstes Stockwerk, sowie eine Abfolge von weiteren Etagen. In ihrer Verbindung durch ein irrgartenartiges System von Treppen und Fahrstühlen, in Kombination mit weiteren modernen Transportmitteln, die den Abtransport und den Austausch mit anderen Zonen und Vierteln dieser Megastruktur gewährleisten, sind die höhergelegenen Ebenen dem Ausleben der Leidenschaften in einer angedeuteten, stellenweise auch präzise ausformulierten, potenziell unbegrenzte n

410 Vgl. Constant. "Eine andere Stadt für ein anderes Leben" in: i.s. Nr. 3 Dezember 1959: 112 - 115.

411 Was nicht bedeutet, dass nicht auch gleichförmige alltägliche Verrichtungen und monotone berufliche Tätigkeit zum Gegenstand von Kunst und Poesie werden können. Faszinierende Beispiele dafür gibt es in ausreichender Zahl.

161

Variationsbreite gewidmet. Constant trägt mit seinen Modellen einer Vorstellung vom spielenden Menschen als agressives, raumgreifendes Wesen Rechnung, das sich in einer solchen Stadtanlage zwanglos austoben kann. Somit ein Ventil für seine latent zerstörerisc he n Leidenschaften hat, welche kürzlich zu den apokalyptischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts geführt hatten. Lange lebten und wohnten viele Menschen in Europa noch in ausgebombten, notdürftig instandgesetzten Häusern. Modelleinheiten wie die sogenannten "Spatiovoren"

(Abb. 40)verleihen der Vorstellung von einem entwurzelten, nomadischen Leben der 'Neu-Babylonier' Ausdruck. Schließlich wird die Architektur selbst, die mit geöffnete n Plexiglasmaul mitten im Gelände steht, zum symbolischen Verschlinger des umgebende n Raums.412 Die Einwohner, wie sie sich Constant vorstellt, wandern frei umher und gestalten dabei die jeweilige Umgebung nach ihrem Willen um. "Liberated from work, no longer tied to fixed places of habitation, relieved of the opressions of the family structure, the citizens of this new community would be free to abandon themselves to the dérive and the play spirit."413

40 Zeichnung sogenannter ‚Spatiovoren‘.

Durch die Verwendung leichter Baustoffe sollte gewährleistet werden, dass sich die Umgebungen von New Babylon regelmäßig durch Gruppen sogenannter "Berufssituationiste n", die wie requisitenschiebende Regisseure agieren, verändern lassen.414 Von Anfang an nutzte Constant Abfallmaterialien des Warenkonsums, wie zum Beispiel Plexiglas und

412 Vgl. dazu die Abbildungen bei Wigley. Constant’s New Babylon: 112, 114.

413 Andreotti, Libero. "Architecture and Play". In: McDonough, Tom (Hg.). Guy Debord and the Situationist International: Texts and Documents. Cambridge, London. The MIT Press, 2004: 233.

414 Von Anfang an kamen Materialien wie Plexiglas, Aluminium, rostfreier Stahl und Holz zum Einsatz.

Constants früher Entwurf für ein Zigeunerlager in Alba von 1956 bedient sich der Form und Machart eines Fahradrads. Zur Nabe hin nach oben gewölbt, überspannen Speichen den Raum ähnlich den Verstrebungen einer Zeltkonstruktion, die allerdings ohne blickdichtes Zeltdach auskommt. Die Kreisform der ‚Felge‘ ist

aufgebrochen und dient als breiter Zugang zu einem Areal, welches Offenheit, Vorläufigkeit und Mobilität gewährleistet und symbolisiert. Vgl. Abb.en bei Wigley. Constant’s New Babylon: 80 – 81.

162

Fahradspeichen für seine Architekturmodelle, wie um anzudeuten, dass sich von den Produktinnovationen einer industriellen Konkurrenzwirtschaft ein vernünftigerer Gebrauch machen ließe. Détournement ist also nicht nur eine Form des intellektuellen Recyclings. Der angehäufte Müll der Wegwerfgesellschaft kann in neuer Funktion und kollektiver Nutzung in den Verwertungskreislauf rücküberführt werden. Das wirkte sicherlich modellhaft bis in die Gegenwart nach, weil es zu einem frühen Zeitpunkt Nachhaltigkeit thematisierte.

Eine "Beschreibung der gelben Zone", die in i.s. Nr. 4 eine Art erstes fiktives Protokoll der Bewegungsmöglichkeiten in einer bedeckten Stadt formuliert, betont anhand von Plänen und Fotografien der Modelle eines solchen Distrikts den kommunikativen Charakter eines architektonischen Komplexes, mit dem Constant die "alte Macht des baukunstmäß ige n Durcheinanders [...] weiterentwickeln" will.415 Constant propagiert den Nutzen von sogenannten Labyrinthhäusern, die durch längeres Verweilen in ihren den unterschiedlichste n Spielen gewidmeten Räumen, eine heilsame Gehirnwäsche bewirken. Eventuell entstehende Gewohnheiten würden durch die starken psychologischen Einflüsse, denen das Individuum in solchen Umgebungen ausgesetzt ist, ausgelöscht.416 Repetitive Verhaltensweisen, wie in einer auf Passivität und Verbrauch ausgerichteten Konsumkultur, sollten am besten gar nicht erst entstehen. Mit Absicht erinnert die Gesamtgestalt der baulichen Anlage, wie sie Constant ab den späten 50er Jahren entwarf, an den sozietären Palast des Philosophen und Ökonoms Victor Considerant (1808 - 1893). Dessen Wohnsitze wiederum gehen eindeutig auf die Ideen von Charles Fourier zurück. Das Titelblatt der Zeitschrift L'Avenir, von welchem Constant eine Kopie in seinem Archiv aufbewahrte,417 bildet das Idealmodell eines sogenannte n

"Phalansteriums" ab, das sich als Signet für ein freies und leidenschaftliches Leben, forma l erkennbar an der Schlossanlage von Versailles orientiert (Abb. 41).

Dermaßen entwurfshistorisch eingeordnet, muss die Innovation von Constant darin gesehen werden, dass er in seinen Szenarien für Baueinheiten und einzelne Sektorengruppen von New Babylon die zangenartig ausgreifende Grundstruktur des herrschaftlichen Baukomple xes, welcher von den sozialutopistischen Architekten des beginnenden Industriezeitalters nur leicht modifiziert wurde, wesentlich konsequenter aufbricht und multipliziert.418

415 Constant. "Beschreibung der gelben Zone" in: i.s. Nr.4 Juni 1960: 140.

416 Vgl. Constant. "Beschreibung der gelben Zone": 141.

417 Vgl. Sadler. The Situationist City: 119.

418 Eine ausführliche Dokumentation der einzelnen Entwurfsstadien von "New Babylon" bietet Wigley, Mark.

Constant's New Babylon: The Hyper-Architecture of Desire. Zu den Entwürfen und Theorien Constants von 1957 bis 1961 vgl. S. 79 - 135.

163

41 Titel der gleichnamigen Zeitschrift. Zangen- und riegelartige Struktur der Architektur. Versaillitis?

Bereits frühe Fotografien seiner Modelle aus der Vogelperspektive, wie sie in i.s. Nr. 3 und Nr.

4 reproduziert sind, zeigen eine zigfache Verwinkelung der verschiedenen Sektoren, die sich rhizomatisch in alle Himmelsrichtungen verzweigen.419 Der alte Antagonismus zwische n Versailles und Paris, zwischen dem freien Landleben der Aristokratie auf Kosten des Volkes und dem wiederholt gegen die Unterdrückung opponierenden politischen Freiheitsdrang der Stadtbevölkerung scheint kompositorisch vor allem dort aufgelöst zu sein, wo die Entwürfe von

4 reproduziert sind, zeigen eine zigfache Verwinkelung der verschiedenen Sektoren, die sich rhizomatisch in alle Himmelsrichtungen verzweigen.419 Der alte Antagonismus zwische n Versailles und Paris, zwischen dem freien Landleben der Aristokratie auf Kosten des Volkes und dem wiederholt gegen die Unterdrückung opponierenden politischen Freiheitsdrang der Stadtbevölkerung scheint kompositorisch vor allem dort aufgelöst zu sein, wo die Entwürfe von