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MÉMOIRES: RÜCKBLENDE AUF ZUKÜNFTIGE ABENTEUER

Um zum Wesenskern der Lebenskunst Debords vorzudringen, ist es unvermeidlich die Rückblenden ins Visier zu nehmen, welche auf vielfältige Weise den Charakter fast aller Manifestationen der Situationisten prägen. Eine erste markante Rückblende fand 1958 statt. Zu dem ‚historischen‘ Zeitpunkt, da die L.I. der S.I. Platz gemacht hatte. Die Gründung der S.I.

ermöglichte eine stärkere internationale und kreative Ausrichtung, wie sie für die lettristisc he Gruppierung zuvor lediglich behauptet werden konnte. Vor allem Asger Jorn, das älteste und künstlerisch arrivierteste Mitglied der Situationisten, brachte ein intaktes Gefüge an Beziehungen zu vielen europäischen Künstlern und kulturellen Institutionen, das er in den vorangegangenen Jahren geschickt zu knüpfen verstanden hatte, in die Organisation mit ein.297 Nach einigen gemeinsamen Collage-Arbeiten298 in der Anfangszeit ihrer Freundscha ft entschieden sich der Franzose und der Däne zusammen ein Buch zu gestalten, das den Titel Mémoires erhielt. Diese in geringer Stückzahl Anfang 1959 im Selbstverlag herausgebrachte Summe ihrer Kollaborationen hatte Debord zunächst ausschließlich an die assoziierte n Mitglieder der S.I. verschenkt. Wie der Autor anlässlich der Neuauflage 1993 in seinem Nachwort "Attestations" verlautete, verdankte das Werk seine Berühmtheit vor allem der Tatsache, dass es nur als Potlatch verbreitet wurde: "c’est-à-dire du cadeau somptuaire, qui met l’autre au défi de donner en retour quelque chose de plus extrême."299

Dieses als Gabe dargebrachte Künstlerbuch wurde also zum Zeichen eines geheimen Paktes, den Debord kürzlich mit seinen überwiegend neuen Gefährten geschlossen hatte. Die Arena, welche mit der Publikation bespielt wurde, war noch die Probebühne des internen Zirkels der S.I.. Kraft der überbordenden Welthaltigkeit, will heißen der im Rahmen eines soziokulture lle n Themenspektrums verhandelten zurückliegenden persönlichen Beziehungen, manifestierte sich in und mit dem Artefakt eine Aufbruchsstimmung. In der Logik des Bündnisses stellte Mémoires eine Herausforderung der beschenkten Leser dar, die nicht von der Warnung an die Künstler in der Organisation getrennt werden kann, welche Debord in dem Artikel "Ein Schritt zurück" ausgesprochen hatte. Als Autor von Erinnerungen trat Debord mit dem Anspruch auf,

297 Vgl. zur Funktion Jorns in der S.I. u.a. Schrage, Dieter. "L'art versus dépassement de l'art: ein anhaltender Konflikt - am Beispiel von SPUR". In: Situationistische Internationale 1957 - 1972. Katalog der Ausstellung Museum Moderner Kunst Stiftung Ludwig Wien, 1998: 55.

298 Zu nennen sind hier unbedingt die Arbeiten Guide psychogéographique de Paris: discours sur les passions de l’amour (1957/58) und The Naked City (1957). Gute Abbildungen finden sich in: Husslein-Arco, Agnes (Hg.).

Les Grands Spectacles: 120 Jahre Kunst und Massenkultur. Kat. d. Ausstellung Museum der Moderne Salzburg 18. Juni – 3. Oktober 2005. Ostfildern-Ruit. Hatje Cantz Verlag, 2005: 188 sowie Ford, Simon. The Situationist International: A User’s Guide. London. Black Dog Publishing, 2005: 35.

299 Debord, Guy. "Attestations". In: Debord, Guy E.. Mémoires: Structures portantes d’Asger Jorn. Paris.

Editions Allia, 2004: ohne Seitenangabe.

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die Wahrheit und grundlegenden Erfahrungen der Lettristischen Internationale zu bewahren und zu vermitteln. Jorn, mehr als 15 Jahre älter, bewundert, beliebt und weithin respektiert, stärkte ihm den Rücken. Der Potlatch mahnte eine Form des kollektiven Austauschs an, der jeder spezialisierten, also prä-situationistischen Tätigkeit eine Absage erteilte. Die Gruppe stand kurz davor, ein größeres Theater aufzuführen - aus der internen Kommunikation eine öffentliche Performance zu machen.

Schon der Titel des Buches ist paradoxal. Im Alter von 26 Jahren wartete Debord mit Lebenserinnerungen auf, welche normalerweise die Karriere einer Persönlichkeit von Rang krönen. Wie vor ihm bereits Isou, so bürstete auch Debord mit einem solchen Elaborat, das eine 'Frühvollendung' behauptete, die Tradition der Memoirenliteratur gegen den Strich. Er bediente sich bei seiner Abfassung der eigenen Bilanz äußerst frei bei einigen der wichtigsten Vertreter der autobiographischen Gattung. Im dritten und letzten Kapitel seines Buchs, "Septembre 1953", griff er gar eine signifikante Sentenz aus Charles de Gaulles Mémoires de guerre auf, deren drei opulente Bände in den Fünfziger Jahren erschienen: "Je n'étais rien, au départ. À mes côtés, pas l'ombre de force, ni d'une organisation. En France, aucun répondant et aucune notoriété. À l'étranger, ni crédit, ni justification." (M 38)300 Debord rieb sich an der Galionsfigur der französischen Résistance im Stadium ihrer Formierung gegen den Feind. Sich kokett mit de Gaulles Zeugnis zu schmücken, bedeutete, dass er sich nicht scheute, mit dem gerade zum Präsidenten der Republik ernannten General zu wetteifern. Mit seiner eindrucksvo lle n Autobiographie untermauerte de Gaulle den Anspruch auf politische Macht nach der deutschen Besatzungszeit. Debord trat gegen die Verkörperung des Widerstands schlechthin in den Ring.

In dieser Ambition, die keineswegs auf den Erwerb literarischer Meriten beschränkt war, bahnte sich der Konflikt der S.I. mit einer Gesellschafts- und Werteordnung an, welche de Gaulle für eine ganze Dekade in paternalistischer Manier repräsentieren sollte.

Eine anders zu gewichtende Rolle als die Entwendung der Sequenz aus den Erinnerungen des Weltkriegshelden spielen die Verweise Debords auf die unvollständigen Memoiren des Kardinal Retz (1613-1679). Paul de Gondi, so der urkundlich belegte Name von Retz, war die aufrührerische Seele der Fronde. Jener fünfjährige Bürgerkrieg zur Mitte des 17. Jahrhunderts endete nach einer langen Phase der Anarchie und schweren Verwüstungen im Jahre 1653.

Besagter Konflikt gilt als ein historischer Vorläufer der Revolution von 1789. Nach dem Tod

300 Die Angabe der Seitenzahlen in Klammer folgt der Zählung in Boris Donnés ausführlicher Interpretation.

Donné, Boris. (Pour Mémoires): Un essai d’élucidation des 'Mémoires' de Guy Debord. Paris. Editions Allia, 2004. Das Buch Mémoires selbst enthält keine Seitenzahlen. Debord hat 1986 die Herkunft der

Zweckentfremdungen seines Werks entschlüsselt. Vgl. Anhang von Mémoires. "Origines des détournements indiquées, autant que possible, en mars 1986": ohne Seitenangabe.

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des Kardinal Mazarin, dem ärgsten Widersacher von Retz, übernahm Ludwig XIV. im Alter von 22 Jahren die Regierungsgeschäfte und stilisierte seine Person am Hof von Versailles zum Sonnenkönig. Das eigentliche absolutistische Zeitalter begann, an dessen Ende viele adelige Köpfe in Körbe rollten. Debord pries die Chuzpe von Gondi, sein der Intrige gewidmetes Leben als Spiel verstanden zu haben. Er erkannte in Retz insofern einen Situationisten avant la lettre, dessen politische Schachzüge und aufwieglerische Schriften eine Provokation des schwachen Hofes während der Regentschaft Mazarins darstellten. Als Anklang an die Unordnung und Gewalt jener Zeit findet sich ein kurzer Auszug aus den Memoiren von Retz ebenfalls im dritten Kapitel von Debords Buch. Im neuen Kontext ist das entwendete Fragment "dans les feus des injures, des menaces, des exécrations et des blasphèmes" (M 37) dort mit den urbanistisc he n Praktiken der Lettristen und Situationisten verquickt.301 Vermessen an landläufigen Kriterien für 'gute Literatur' wurde die Komposition der Memoiren von Retz von Kritikern und Historikern oft als skandalös gescholten. In der Tat herrscht in diesen Erinnerungen ein ziemliches Durcheinander der Geschehnisse vor. Ihre Darstellung ist so offensichtlic h lückenhaft, dass man dahinter ein Prinzip vermuten darf. Die historischen Gewichte sind derart ungleichmäßig verteilt, dass "immer nur der eine Mann im Mittelpunkt" steht, "selbst dort, wo er gar nicht teilgenommen haben kann".302 Retz glänzt als Held in der eigenen Schilderung von Intrigen und brilliert zudem als Porträtist seiner Gegenspieler. Darin seinem Zeitgenossen La Rochefoucauld ebenbürtig, verfügte er über die Begabung, Handlungsmotive seiner Zeitgenossen psychologisch deuten zu können.303 In den personellen Konflikten der Lettristen und den ersten Ausschlüssen von Mitgliedern der S.I. imitierte Debord die Fähigkeiten seines historischen Vorbilds stilistisch und realiter.

Im transhistorischen Vergleich mit de Gaulle und Retz, welche auf je eigene Weise eine gewichtige Rolle in der Geschichte Frankreichs für sich reklamierten, führte Debord bis dato ein Leben, das sich weitgehend der öffentlichen Präsenz und Wahrnehmung entzog. Wie aus einer Ankündigung auf der Titelseite hervorgeht, bestehen seine Erinnerungen durch und durch aus Zitaten. Im Sinne seiner bedeutungsverkehrenden und aneignenden Ironie bezeichne te Debord die Textfragmente, aus denen er seine Geschichte zusammengestückelt hat, als

"élément préfabriqués"304; ein Begriff, den er aus der Terminologie der funktionalistische n

301 In dem Text "Mit gutem Beispiel voran" preist die Redaktion von Potlatch das Leben und die Erinnerungen von Retz. Allem, was er über sich berichtet, hafte nicht die Niedergeschlagenheit eines Besiegten an, sondern

"die Amüsiertheit des Spielers". Der spielerische Wert des Lebens von Gondi sei bislang noch nicht in einer modernen Perspektive analysiert worden. Potlatch Nr. 26: 206.

302 Boehlich, Walter. "Nachwort". In: Kardinal Retz. Aus den Memoiren. Hamburg. Fischer Bücherei, 1964: 324.

303 Vgl. Boehlich. "Nachwort": 325.

304 Vgl. Debord. Mémoires: Titelseite (ohne Seitenangabe)

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Architektur des Internationalen Stils, welche sich direkt bei ihrem Säulenheiligen Le Corbusier bedient, entlehnte.305 Der systematische Rückgriff auf Zitate, die durch Zerreißen und Knüllung des Ausgangsmaterials, sowie die Verwirrung der Leserichtung modifiziert sind, versteht sich vor dem Hintergrund der Theorie der Zweckentfremdung, wie sie im vorhergehenden Kapitel ausgeführt wurde. Die denkmalstürmerische Praxis des Détournement sollte in den folgende n Jahren zum Zentrum der situationistischen Ästhetik entwickelt werden. In den Mémoires, jenem standortbestimmenden Werk, das die zukünftige Praxis der Situationisten vorwegnahm, hielt sie diesen Platz bereits inne. Ihre strategische Funktion hat die Zweckentfremdung nicht allein darin, dass sich mit ihrer Hilfe die Waffen des Feindes gegen ihn selbst richten lassen. Stets ist sie, wie in den Erinnerungen par excellance demonstriert, auch eine Technik des Verschwindens. Eine Maskerade des Aussagesubjekts, das sich hinter einem multiplen, sich aus der Fülle von Dekonstruktionen zusammenfügenden Ich verbirgt und somit die latente Geständnishaftigkeit der autobiographischen Form, welche identifizierbar und kontrollie rbar machte, unterläuft. Debords Entwendung des Begriffs von Le Corbusier betonte das Besondere gegenüber gleichmacherischer Standardisierung. Der Plünderer von Texten bewertete die gestohlenen und ausgeschlachteten Schätze neu und hielt somit das Freiheitsspiel in Schwung.

Aus dem nur vermeintlich deskriptiven Begriff des in Kreisen der Situationisten verpönten Schweizer Architekten wurde im neuen Kontext ein Kulturkampfbegriff.

Muss Debord in diesem Buch in den aufs Papier geklebten Textschnipseln gesucht werden, so sind die Mémoires ebenso das Werk von Jorn, der bis zu seinem Tod 1973 die Geschicke der S.I. als heimlicher Förderer mitlenken sollte. Wie um seine zukünftige eher zurückgenomme ne Rolle zu vermitteln, sowie den Einfluss seiner damals weithin für enigmatisch gehaltene n Formlehre auf das Denken der Situationisten zu unterstreichen, zeichnete Jorn für die sogenannten "structures portantes" verantwortlich. Jene stützenden Formen bestärken die Assoziation, dass Mémoires auch entlang den Parametern der 'vandalistischen' Theorien Jorns gelesen werden kann.306 In Pour la Forme, dem krypto-wissenschaftlichen Hauptwerk Jorns, welches ebenfalls im Selbstverlag der S.I. erschienen war, finden sich eine ganze Reihe von Beispielen für ähnliche amorphe malerische Formen, die sich einer zeitgenössischen Tendenz

305 Vgl. Le Corbusiers Ausführungen zum Serienbau mittels vorfabrizierter Elemente. Die Revolution in den Methoden der Baukunst sieht Le Corbusier als Schlüssel zur Verhinderung politischer Revolution. „Baukunst oder Revolution“ heißt der entsprechende Leitsatz. In: Conrads, Ulrich; Neitzke, Peter (Hg.). Le Corbusier 1922:

Ausblick auf eine Architektur. Berlin, Basel. Birkhäuser, 2008: 24 – 25. Die französische Neuauflage von Vers une Architecture erschien 1958 mit einem Vorwort Le Corbusiers, in welchem er die Anfeindungen, denen er fortwährend ausgesetzt war, erwähnt. Wenn Debord und die Situationisten gegen ihn pöbelten, spielten sie also nicht eigentlich gegen die Regeln, sondern ein dem Architekten in dieser Form wohlbekanntes Spiel.

306 Das Kapitel "Zauber und Mechanik" in Jorns Buch trägt den Untertitel "Die Bedeutung des Vandalismus in der Geschichte der Kunst". Vgl. Jorn, Asger. Plädoyer für die Form: 95 - 126.

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zum konzeptuellen Minimalismus in der bildenden Kunst und dem Rationalismus der Architektur, deren Lehre auf das Alltagsleben übertragen werden sollte, widersetzen.307 Es ist nicht gewöhnlich seine Erinnerungen in Form von zweckentfremdeten Fragmenten zu collagieren. Noch erstaunlicher ist es, sie den Trägerstrukturen eines erfahreneren Kameraden anzuvertrauen, die paradoxerweise den Eindruck von Fragilität befördern. Die Strukturen Jorns sind zunächst einmal als ein Gerüst der Infragestellung jeder Sicherheit und Statik des Textes zu deuten. Allerdings geben diese Strukturen eine relative Stabilität, welche zuminde st gewährleistet, dass ein wendiger Leser seinen Weg durch diesen literarisc he n Hindernisparcours findet.

Die Vorlage für die Druckfassung von Mémoires besteht aus circa 400 auf Papier geklebten gekürzten, zerschnittenen, zerknüllten Textfragmenten heterogener Provenienz. Das derart zugerichtete Quellenmaterial, dessen Sichtung und Auswertung weitgehend einer Studie von Boris Donnézu verdanken ist, stammt zum Teil von klassischen literarischen Texten, aber auch aus Groschenromanen, Abenteuergeschichten, wissenschaftlichen Abhandlunge n, französischen Schulbüchern, Zeitungen und Magazinen. Debord hat das Textmaterial mit einer Vielzahl von Abbildungen angereichert, die ebenfalls ihrem ursprünglichen Zusammenha ng entrissen wurden. Mit Fotos, Comicbildern, Gravuren, Karikaturen, Schaubildern, Landkarten und Stadtplänen. Die collagierten Seiten sind mit präzise gesetzten und dennoch wild variierte n Farbklecksen, Pfeilen, Schraffuren und Strichgittern überzogen, die ein inhaltlic hes Bezugsgeflecht der wüst verstreuten Text- und Bildfragmente generieren. Die Wahrnehmungsmodalität dieser disparaten Struktur, wie sie sich aus der Kombination der Elemente ergibt, wechselt zwischen Karte und Plan, individueller Erinnerungslandschaft und halb-offiziellen privaten Denkmalverzeichnis.

In der Komplizität einer Freundschaft, die dem Verbündeten viele Freiheiten einräumte, erreichten die Kollaborationen Debords und Jorns in Mémoires einen vorläufigen Höhepunkt.

Zieht man die inhaltliche und formale Kontingenz aller ihrer gemeinsamen Collagen in Betracht, so manifestierte sich in diesen spielerisch-experimentellen Arbeiten, dass sie des Bandes der Freundschaft bedurften, um die spezifischen Fähigkeiten des jeweils Anderen im Dienst an einer gemeinsamen Aufgabe ins rechte Licht zu rücken.

307 Diese Beispiele stammen u.a. aus den Werken von Pollock, Miro, Alechinsky, Arp und Dubuffet. Vg l. Jorn.

Plädoyer für die Form: 20, 117, 132, 164, 175. McKenzie Wark würdigt Jorns theoretische Schriften als Entwurf einer Situologie. Die Konstruktion einer Situation sei nicht nur eine politische und ästhetische Bewegung, sondern ein geometrisches Vorgehen in Raum und Zeit, welches sich von der euklidischen Geometrie des zweidimensionalen Bildraums als Modell verabschiede. Seine Situologie ist sozusagen der Entwurf von aneinander gereihten Momenten, die einander kongruent, aber niemals völlig gleich und regelhaft wiederholbar sind. Vgl. Wark, McKenzie. 50 Years of Recuperation of the Situationist International. New York. Princeton Architectural Press, 2013: 16.

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27 Diskurs über die Leidenschaften der Liebe, 1957.

Drehten sich ihre bisherigen Gemeinschaftsarbeiten Discours sur les Passions de l'Amour aus dem Mai 1957 (Abb. 27), kurz darauf gefolgt von The Naked City, thematisch vor allem um die Möglichkeiten flanierender und sezierender Eingriffe in das städtische Gefüge von Paris, so war das Gebiet von Mémoires weitaus größer abgesteckt. In einer durch akribische Sammeltätigkeit vorbereiteten Anstrengung amalgamierte das Buch all jene Themen, die für die momentane Existenz und den Fortbestand der S.I. von Bedeutung sein sollten. Das dringende Bedürfnis Debords, an diesem Punkt auf die eigene Vorgeschichte zurückzublicke n, zeigte sich deutlich von der filmischen Technik der Rückblende inspiriert. Debord nahm in seinem Buch Anleihen bei der stilbildenden Erzähltechnik und Ästhetik des "film noir", des besonders in Frankreich beliebtesten Filmgenres jener Jahre, die dazu beitrugen, seine eigene Person zu kriminalisieren und zu skandalisieren.308 Die Arbeit The Naked City entlieh ihren Titel bei dem gleichnamigen erfolgreichen und preisgekrönten semidokumentarischen Film noir aus dem Jahr 1948, der ‚on location‘ an den Schauplätzen in New York City gedreht wurde.

Der US-amerikanische Regisseur Jules Dassin, welcher aufgrund seiner kommunistisc he n Vergangenheit dann in der McCarthy-Ära unter anderem von seinem Kollegen Elia Kazan denunziert wurde und infolge nach Europa emigrierte, verzichtete gänzlich auf Studioaufnahmen. Wenn auch offenkundige soziale Gegensätze im New Yorker Alltagslebe n unter dem Druck der Produzenten dem Schnitt zum Opfer fielen, so ist doch das facettenre ic he Setting für die Zeit ungewöhnlich authentisch. Der soziale Hintergrund fiktiver Charaktere und ihrer lasterhaften Verstrickungen wirkte umso glaubhafter. An solche Vorbilder lehnte sich Debord an. Sein Leben, wie er es wenige Jahre zuvor geführt hat, ist der Gegenstand von Erinnerungen, die gleichzeitig eine Bestandsaufnahme des spezifischen delinquenten Wissens darstellen, über das die Mitglieder der S.I. zukünftig als Rüstzeug verfügen sollten.

308 Über den ganzen Text verteilt finden sich Fragmente eines Kriminalro mans, in dem der aukto riale Erzähler aus seiner Vergangenheit und den Konflikten mit dem Gesetz berichtet.

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Wie bereits angedeutet, besteht das Buch aus drei Teilen oder Kapiteln, welche unterschiedlic he Momente des Lebens der Lettristen in Saint Germain des Près jeweils genauer unter die Lupe nehmen. Die signifikante Beschränkung auf die kurzen Zeiträume, welche den Kapiteln ihren Namen geben - "Juin 1952", "Décembre 1952" und "Septembre 1953" - suggeriert, dass es sich nicht um eine komplette Bilanz handeln kann, sondern einen Zusammenschnitt darstellt. Gerade die Brüche und Rupturen, die Leerstellen und die Unvollständigkeit der Erinnerungen sind also von Interesse.

[...] wenn Debord 1958 auf die eigene Vergangenheit zurückkommt, auf die ersten Schritte der enfants perdus, dann gewiss nicht, um ein neues Licht auf sie zu werfen, um sie präsent zu machen. Im Gegenteil, es ist, als wolle er sie noch weiter entfernen, sie einer unwiderlegbare n, absoluten Vergangenheit überantworten, die nur die kennen werden, die sie erlebt haben und von der die anderen nur die Ruinen wahrnehmen, die Fragmente, die aus einer obskuren Katastrophe niedergegangenen Blöcke, die fast verwischten Spuren abenteuerlicher Schritte.

Es gibt nichts Vergeßlicheres, als diese Mémoiren. Sie oszillieren zwischen Evokation und Revokation.309

Die Jahre von Saint Germain de Près werden also zum Leben erweckt, um ihr Verschwinde n vor Augen zu führen. Unaufhörlich blitzen die Erfahrungen von Debord und seinen Gefährten in den unvollständigen Zitaten und den zurechtgeschnittenen Fotos, den alten Grafiken und Stadtplan-Ausrissen von Paris auf. Den Kommentaren in Hurlements en faveur de Sade vergleichbar, fungieren alle diese Fragmente als Souvenirs an eine Epoche, die Debord zur Wiege seiner Legende erkoren hat. Erklärtermaßen war das die beste Zeit, die man gehabt haben konnte.

Dieses 'Goldene Zeitalter' entsprach der Zeit der L.I. bis zur Gründung von Potlatch. Gerade die Verweigerungshaltung der ersten Jahre machte die kurze Episode in Debords Augen so bedeutsam. All jene Leute, die einen Anteil an dieser Art zu leben genommen hatten, konnten nur negativ definiert werden. Sie hatten keinen Beruf, sie studierten nicht und übten auch keine Kunst aus, wie Debord es Ende der Achtziger Jahre in seinem Panegyrikus beschrieb.310 Das völlig Neue daran war etwas Unbestimmtes, das naturgemäß kaum Spuren hinterlassen hatte.

Zentrales Anliegen der Mémoires ist es, knappe fünf Jahre nach dieser Zeit von dem imme nse n Verlangen nach dem Verloren-Gehen, das all diese Leute umtrieb, Zeugnis abzulege n.

Kaufmann nennt die Erinnerungen Debords treffend ein "Anti-Buch zur Werklosigkeit"311. Das 'Goldene Zeitalter' hat nur ein knappes Jahr gedauert. Die Mémoires sehen sich als seine

309 Kaufmann. Guy Debord: 57.

310 Debord. Panegyrikus: 31.

311 Kaufmann. Guy Debord: 62.

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unmögliche Bilanz. Schon auf den ersten Seiten werfen einige Zitate die Frage nach dem unvermeidlichen Verschwinden dessen auf, was die Erinnerung festzuhalten sucht. Die Reflexion dieses Prozesses zeigt sich stellvertretend für weitere Belegstellen in dem vierzeiligen Fragment am Fuß der dritten Seite: "les sollicitations d'un passé qui ne peut revivre que dans le souvenir. Ou dans une 'répétition' ou, quoi qu'on fasse, il se dégradera" (M 3).

Solche und ähnliche Textfetzen verweisen sowohl auf die mnestische Qualität des Buchprojekts selbst, als auch auf eine Epoche, die unwiederbringlich verloren scheint. Deren Wiederholung sich auch in der Form des Erinnerungsmediums 'Buch' als Auflösungserscheinung präsentiert.

Solche und ähnliche Textfetzen verweisen sowohl auf die mnestische Qualität des Buchprojekts selbst, als auch auf eine Epoche, die unwiederbringlich verloren scheint. Deren Wiederholung sich auch in der Form des Erinnerungsmediums 'Buch' als Auflösungserscheinung präsentiert.