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Prolegomena für den Film der Zukunft: Hurlements en faveur de Sade

I. VORGESCHICHTE DER SITUATIONISTISCHEN INTERNATIONALE 1. Ein Porträt des Antikünstlers als junger Mann

3. Prolegomena für den Film der Zukunft: Hurlements en faveur de Sade

In seinem letzten zur Ausstrahlung im Kino bestimmten Film in girum imus nocte et consumimur igni von 1978 zitiert Debord ausführlich zentrale Stellen des gesprochenen Textes seines ersten Beitrags zur Filmgeschichte, Hurlements en faveur de Sade. Währenddessen bleibt die Leinwand jeweils weiß. Besagter Abschnitt von in girum imus nocte mündet in Spielfilmaufnahmen, die eine empörte Zuschauermenge zeigen. Die zornige Meute auf den Rängen eines Pariser Volkstheaters fordert lautstark, den Vorhang über eine unsäglic he Vorstellung fallen zu lassen.190 Debord spielt mit dieser retrospektiven Sequenz auf die Tatsache an, dass er vor mehr als 25 Jahren gezeigt habe, wie man den Film auf eine Abfolge weißer und schwarzer Bildflächen zurechtstutzen kann (Abb.en 21 und 22). Nicht nur verzichtete der Regisseur damals auf filmische Aufnahmen. Um den Affront noch zu verstärken, zeigte sein erster Film weder Bilder noch hatte er einen erkennbaren Schluss.

Nach einer Anspielung auf die unvollständigen Geschichten, die wir als verlorener Haufen zu erleben hatten (um den Ausdruck zu gebrauchen, mit den bei den Armeen des Dreißigjährige n Krieges die Aufklärungstruppen bezeichnet wurden), fand als enttäuschende Apotheose eine 24 Minuten lange schwarze Sequenz statt und brachte diejenigen in Wut, die auf schöne

188 Vgl. das Statement von Maurice Rajsfus aus "Une enfance laïque et républicaine". In: Mension. Wir haben unsere unfertigen Abenteuer gelebt: 92.

189 Vgl. Statement von Rajfus in: Mension. Wir haben unsere unfertigen Abenteuer gelebt: 92.

190 Vgl. Debord. In girum imus nocte et consumimur igni: 46 - 48. Die Spielfilmbilder stammen aus Marcel Carnés Film Kinder des Olymp von 1945. Zu diesem Zusammenhang mehr in Kapitel VII dieser Studie.

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Kühnheiten erpicht sind. Das Spiel geht weiter und wir sind uns jeden Tag sicherer, daß wir es richtig spielen.191

Wie der berühmte russische Regisseur Sergej Eisenstein, an dessen Werk und formale n Erfindungen sich Debord in vieler Hinsicht orientierte, in seinen filmtheoretischen und autobiographischen Schriften ausführt, leitet sich der spezifische Charakter des Films als Kunstform aus der Technik der Montage ab.192 Indem Debord in seinem ersten Film abwechselnd nur weiße-, vom Licht des Filmprojektors angestrahlte-, und schwarze Leinwand zeigt, knüpfte er mit dieser Geste an Eisensteins antithetische Erzähltechnik von Schnitt und Gegenschnitt an, die zum Markenzeichen (s)eines politisch engagierten Filmschaffens wurde.

In einem ikonoklastischen Akt ‚bearbeitete‘ Debord dieses Verfahren, das für Eisenstein von hohem didaktischem Wert war, indem er fast nichts tat. Indem man sprichwörtlich mit beiden Händen in den Hosentaschen ‚filmte‘, entstand ein irreduzibles Grundgerüst als Ausdruck einer grenzverschiebenden Zurückweisung.

21 Weiße Leinwand in Hurlements en faveur de Sade.

Normalerweise stellt das photographische Einzelbild im Film einen Ausschnitt dar. Der photographische Streifen wird durch die Umdrehung der Spule des Projektors in rotierende Bewegung versetzt. Die Chronologie der bewegten Bilder eines Films ist a priori fragwürd ig.

Per se handelt es sich bei dem filmischen Bild um ein dialektisches Bild, welches der Kulturhistoriker und Philosoph Giorgio Agamben das Grundelement der historisc he n Erfahrung schlechthin nennt.193 Mit dem beweglichen Bild, welches dem Kontinuum seiner

191 "Eine große Nachtfete". In: Debord, Guy. Gegen den Film: Filmskripte: 36.

192 Vgl. u.a. den autobiographischen Text "Warum ich Regisseur wurde". Abgedruckt in: Eisenstein, Sergej. Yo:

Ich selbst - Memoiren. Wien. Löcker Verlag, 1984: 56 - 80. Eisenstein beschreibt darin S. 62 ff. die Entwicklung seiner Bildsprache in Analogie zu seinen Erfahrungen als Zeitzeuge einer revolutionären Epoche.

193 Vgl. Agamben, Giorgio. "Difference and Repetition: On Guy Debord’s Films". In: McDonough, Tom (Hg.).

Guy Debord and the Situationist International: Texts and Documents. Cambridge (Mass.), London. The MIT Press, 2004": 314.

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Rotation entrissen ist, geht es, so führt Agamben in einem Aufsatz über die Filme Debords eschatologisch aus, um eine Geschichte der Erlösung. Eine unvollständige Geschichte, die in einer anderen Zeit spielt, muss hier und jetzt komplettiert und so gerettet werden. Jeder Moment und jedes Bild steht mit der Historie insofern in Verbindung, als es die Eintrittstür für einen Messias sein kann, der - gemäß der Erwartung - immer schon beinahe angekommen ist.194 Zur Unterstützung seiner Thesen über das Kino im allgemeinen und die spezifische Stellung der Filme Guy Debords in der Geschichte des Mediums benennt Agamben zwei transzendiere nde Bedingungen, welchen die Montage unterliegt: "repetition and stoppage. Debord [...] exhibited the transcendentals as such [...] There's no need to shoot film anymore, just to repeat and stop.

That's an epoch-making innovation in cinema".195

Die Wiederholung (repetition) ist keineswegs die Wiederkehr des jeweils Identischen. Ihr Zweck und Verdienst ist vielmehr die Rückkehr der Möglichkeit dessen, was einmal war.196 Etwas zu wiederholen bedeutet, es erneuert möglich zu machen. Darin besteht auch das Band zwischen der Wiederholung in der Kunst und der Erinnerung. In der Fähigkeit des Künstlers zur Erinnerung mag man die Kraft erkennen, die das Nichterfüllte in die Erfüllung umkehrt.

"Doesn't cinema always do just that, transform the real into the possible and the possible into the real?"197 Agamben spricht der Arbeit mit Bildern eine historische und quasi-messianische, poetisch zu nennende Bedeutung zu. Indem Debord die Wiederholung bereits mit jedem Element seines Debutfilms in das Zentrum seiner Kompositionstechnik stellt, erzielt er das, was er als Wieder-Mögliches zur Aufführung bringt. Er eröffnet einen Bereich der Ununterscheidbarkeit zwischen dem faktischen Realen und dem möglichen Imaginären.

Das zweite transzendierende Element in Debords Film ist die Unterbrechung (stoppage). Ihr Gebrauch mache deutlich, dass der Film essenziell der Dichtung näherstehe als der Prosa.

The only things that can be done in poetry and not in prose are the caesura and the enjambme nt (that is, the carryover to a following line). The poet can counter a syntactic limit with an acoustic and metrical limit. This limit is not only a pause; it is a noncoincidence, a disjunction between sound and meaning.198

Die Grundelemente, deren sich Debord für Hurlements bedient, betonen die literarisc he Tradition der Filmkunst. In dialektischer Umkehrung der Möglichkeiten, welche er als poetische Kunstform eigentlich bietet, kann die Entwicklungsgeschichte des Films als eine

194 Vgl. Agamben, Giorgio. "Difference and Repetition”: 314 - 315.

195 Agamben. "Difference and Repetition: On Guy Debord’s Films": 315.

196 Vgl. Agamben. Ebenda: 316.

197 Agamben: 316.

198 Agamben: 317.

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Geschichte der Täuschung und der Täuschungen geschrieben werden, an die sich sein Publikum gewöhnt hat. Der Schriftsteller und spätere französische Kulturminister André Malraux steht mit seiner Äußerung, dass der Film eine Industrie sei, nicht allein. Dem hält der Filmtheoretiker André Bazin, als Herausgeber der Zeitschrift cahiers du cinéma einer der geistigen Väter der 'Nouvelle Vague', in einem Aufsatz bereits 1945 entgegen: "Andererseits ist der Film eine Sprache."199 Zwischen den Polen dieses bereits gut bestellten diskursiven Feldes, das in den folgenden zwei Jahrzehnten massiv von einer Generation junger europäischer Regisseure beackert werden sollte, bewegten sich die Lettristen um Isou und Debord mit ihren Reflexio ne n zum Film. Die Geschichte der Konditionierung eines zum passiven Bilderkonsum erzogenen Publikums ist der eigentliche Ausgangspunkt des ersten Experiments von Debord auf dem Gebiet des Kinos. Durch die ironische Pirouette200 des durch den Entzug der Bilder nicht eingelösten Versprechens seines reißerischen Titels fühlten sich sowohl der Veranstalter als auch die Zuschauer derart herausgefordert, dass eine erste Projektion von Hurlements, die am 30. Juni 1952 im Pariser Musée de l'Homme stattfand, aufgrund von Unmutsbekundungen nach wenigen Minuten abgebrochen werden musste.201 Bei einer zweiten Vorführung im Ciné-Club des Quartier Latin am 13. Oktober sorgte ein so genanntes ‚lettristisches Kommando‘ - Freunde und Bekannte des Filmemachers, die sich ins Publikum mischten - mit leeren Versprechunge n dafür, dass die Zuschauer bis zum für sie enttäuschenden Schluss ausharrten.202

Weder ist in diesem Film Geschrei oder Geheul zu vernehmen, noch thematisiert er in seinem Verlauf expressis verbis den Marquis de Sade.203 Nach einem kurzen Abriss der wichtigste n Daten der Filmgeschichte, in welchem neben Eisensteins Panzerkreuzer Potemkin (1926) und Chaplins Lichter der Großstadt von 1931, gleichrangig das "Geburtsjahr von Guy-Ernest Debord" (1931) und, nach einer klaffenden Lücke von 20 Jahren, Isous Handbuch des Speichels und der Ewigkeit (1951) sowie Geheul für de Sade als vorläufige Höhepunkte des Filmschaffens vorkommen, verkündet eine der Kommentatorenstimmen stattdessen das Ende

199 Bazin, André. "Ontologie des photographischen Bildes". In: Bazin, André. Was ist Film?. Berlin. Alexander Verlag, 2004: 40.

200 Vgl. Coppola, Antoine. Introduction au cinéma de Guy Debord et de l’avant-garde situationniste. Arles.

Sulliver, 2003: 50.

201 Vgl. Ohrt. Phantom Avantgarde: 41. Marcus behauptet, dass jemand nach zwanzig Minuten den Stecker des Projektors gezogen habe. Vgl. Marcus. Lipstick Traces: 344. Unerheblich ob es sich um einen Zuschauer gehandelt hat oder jemanden der für die Vorstellung Verantwortlichen - die Überlieferung des Skandals begründet den Mythos.

202 Vgl. Ohrt. Phantom Avantgarde: 41 - 42.

203 Allerdings gewinnt die Hommage des Titels an Brisanz vor dem Hintergrund, dass die Werke des Marquis bis in die 50er Jahre immer noch weitgehend sehr scharfen Zensurbestimmungen unterlagen. Der Skandal war vorprogrammiert. Wer den Namen de Sade im Titel eines Werkes führt, darf fast zwangsläufig mit einer heftigen Reaktion rechnen. Vgl. Bezzola, Tobia; Pfister, Michael; Zweifel, Stefan (Hg.). Sade Surreal: Der Marquis de Sade und die erotische Fantasie des Surrealismus in Text und Bild. Ostfildern-Ruit. Hatje Cantz Verlag, 2001:

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der herkömmlichen Filmkunst. Isou hatte es zwar vorgedacht, aber nicht vollstreckt: "Es gibt keinen Film. Die Filmkunst ist tot. Es kann keinen Film mehr geben. Fangen wir also, wenn sie wollen, mit der Diskussion an!"204

Nur wenige Sätze später wird die Leinwand durch Abschalten des Projektors erstmals für zwei Minuten verdunkelt. Während dieser Zeit verstummt auch der Kommentar. Mit diesem abrupten Wechsel zwischen Ton und Stille, sowie weißer und schwarzer Leinwand ist die schematische formale Ästhetik des Films von Debord hinlänglich beschrieben. Ein zeitweilig ins Dunkel des Kinosaals getauchtes Publikum wird durch diese radikale Geste zum Teil der Inszenierung Debords. Mittels der zusammenhanglos verlesenen Textfragmente des Soundtracks trachtet der Regisseur danach, eine Reihe von Metaphern für seine Zwecke fruchtbar zu machen, die ihm den eingangs beanspruchten Platz in der Filmgeschichte sichern sollten und gleichzeitig auf die offene Geschichte des Films nach dem Ende des Films verweisen. Die Zuschauer fühlen sich im Rahmen dieser Unternehmung wie die düpierten Opfer eines signifikanten Doppelungseffekts. Der Film reflektiert über sein Publikum, das wiederum animiert wird, die Zeit der Stille nach der Unterbrechung eines disparaten, polytextuellen erzählerischen Kontinuums, mit der Reflexion über seine eigene Rolle in diesem bildentziehenden Verhaltensexperiment auszufüllen. Durch die Reduktion der filmerisc he n Mittel führt Debord einen Schnitteffekt herbei, dessen sich mit zunehmender Dauer des Films und zunehmender Länge der schwarzen Sequenzen potenzierende Drastik darin besteht, dass er sich dem gewohnten kontinuierlichen Fluss kleinbürgerlicher Alltagserfahrungen - der Information, des Verkehrs, der Arbeits- und Ferienzeiten, der Gesten und Rituale des Wirtschaftslebens etcetera - unversöhnlich entgegenstellt. Die Reaktion eines im Kinosaal versammelten Publikums, das sich um die Erfüllung seines auf Zerstreuung durch Konsum reduzierten Glücksbegriffes geprellt sieht, wird zum Gegenstand seiner eigenen Erfahru ng gemacht. Es geht um ein Bewusstsein des 'Zusammen-Seins', um eine spezifische Form der Interaktion der Kinobesucher, welche zugleich verbunden sind in der durch den Film absorbierten Aufmerksamkeit und doch getrennt bleiben in ihrer Unfähigkeit und Unwilligke it zur Kommunikation, die ihnen der Regisseur besserwisserisch und grausam genau herauspräpariert, unterstellt.205

Debords entscheidende Weiterentwicklung einer Partizipation des Publikums an der Vertonung der vorenthaltenen Bilder besteht darin, den Zuschauer mit einem negativen sozialen

204 Debord. Gegen den Film: 24.

205 Vgl. hierzu Coppola. Introduction au cinéma de Guy Debord: 52.

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Bewusstsein seiner Rolle als passiver Konsument zu konfrontieren.206 Ihm wird genomme n, was er, in der Logik des Kinos als Opiat für die Massen, erwartet und verlangt. Simultan wird er auch noch aufgefordert sich im Prozess der Selbsterkenntnis vernehmbar zu exponieren und mehr oder weniger artikuliert Stellung zu beziehen. Im Ergebnis, das für Debord von vornherein festzustehen schien, stehen die Überforderung und die Empörung des Zuschauers dem gewaltigen Anspruch des Regisseurs gegenüber. Das empörte Geheul geprellter Zuschauer schallt als onomatopoetischer Triumphgesang der Versuchsleitung entgegen. Kollektives Buhen wird zum Applaus umgewertet. Der Filmwissenschaftler Antoine Coppola klassifizie rt die intentionale Tendenz Debords, den Zuschauerraum in ein Wechselbad von Hell und Dunkel zu tauchen, als soziopolitische Erweiterung der Demystifikation der Leinwand.207

Debords Geste gipfelt, wie bereits in dem oben zu lesenden Zitat anklingt, zum Ende der Vorführung in einer 24 Minuten dauernden Sequenz von Dunkelheit und Stille. Mit diesem monumentalen Schlag einer Verkehrung der Bilddauer208 und absoluten Reduzierung der filmischen Mittel zugunsten einer Erweiterung des Filmbegriffs auf die Totalität des 'Dispositivs Kino', verabschiedet Debord die lettristische Phase der Zerstörung der etablierte n Kultur. Von Isou zum auto-messianischen Getrommel gesteigert, trug dieser Angriff auf die Seh- und Lebensgewohnheiten im Keim bereits die Züge einer Revolte in sich, die noch jedesmal zum Konformismus eines passiv konsumierbaren Spektakels wurde, wie es auf der Tonspur von Hurlements en faveur de Sade heißt.209 Die Reverenz, welche Debord mit seinem Film Isou ganz offensichtlich nochmals erwies, bedeutete gleichzeitig die Verabschiedung von

206 Eisensteins Filme dagegen sollten Propaganda für die Sache der Revolution betreiben; das Wir-Gefühl des Proletariats stärken und so zur klassenkämpferischen Aktivität verleiten.

207 Vgl. Coppola. Introduction au cinéma de Guy Debord: 53. Der Künstler Asger Jorn bezeichnete den Film einfach als eine "geistige Ohrfeige". Vgl. Ohrt. Phantom Avantgarde: 41. Im Bereich der bildenden Kunst ist die Bildlosigkeit von Hurlements mit Yves Kleins Ausstellung "Le Vide" von 1958 vergleichbar, die sein Publikum ebenfalls in einen objektfreien Reflexionsraum einlädt, um es dort mit seinen eigenen Erwartungen an eine Kunstausstellung zu konfrontieren. Recht aktuell rekurriert Daniel Kehlmann in seiner Adaption des

Eulenspiegel-Stoffes auf die komplexe Herausforderung einer weißen Landwand wie folgt: Zunächst hatte das leere Bild, welches Tyll dem König geschenkt hat, dem Herrscher viel Freude gemacht. Zunehmend wich der Spaß, den er an den verunsicherten Reaktionen seiner Besucher hatte aber dem eigenen Unbehagen, selbst das Opfer einer gewissermaßen magischen Inszenierung zu sein. Über den tatsächlichen Sinn und Gehalt des Stücks weißer Leinwand macht sich bald kollektives Schweigen breit, da keiner der Betrachter es wagt, sich mit vorschnellen Äußerungen der eigenen Dummheit oder niederen Herkunft zu überführen. „Natürlich war da kein Bild, es war ein Scherz des Narren gewesen, aber jetzt, wo die Leinwand dort hing, hatte sie ihre eigene Macht entfaltet, und der König hatte mit Schrecken gemerkt, dass er sie weder abhängen no ch irgendetwas darüber sagen konnte – weder konnte er behaupten, dass er ein Gemälde sah, wo kein Gemälde war, denn einen sichereren Weg, sich als Hohlkopf auszuweisen, gab es nicht, noch konnte er aussprechen, dass die Leinwand weiß war, denn wenn die anderen glaubten, dass dort ein verzaubertes Bild hing, dessen Macht die Niederen und Dummen entlarvte, so reichte das schon, ihn vollends zu blamieren. Nicht einmal zu seiner armen, lieben, beschränkten Frau konnte er davon sprechen. Es war vertrackt. Das alles hatte ihm der Narr angetan.“

Kehlmann, Daniel. Tyll. Hamburg. Rowohlt, 2017: 288.

208 Der Zuschauer bekommt nicht, wie durch die Trägheit des Auges zu einem Kontinuum verschmolzen, 24 Bilder in einer Sekunde zu sehen, sondern (k)ein Bild 24 Minuten lang.

209 Vgl. Debord. Hurlements in: Debord. Gegen den Film: 25.

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der lettristischen Dada-Parodie. Diese hatte sich überlebt und diente nurmehr als kurze Vorgeschichte der Position, die Debord selbst einzunehmen bereitstand.

Der Bruch mit Isou vollzog sich zeitlich und ästhetisch nachvollziehbar zwischen dem ersten abgedruckten Skript von Hurlements in ION, welches noch zerkratztes Bildmaterial und lautmalerische Tonsequenzen vorsieht,210 und der endgültigen bildlosen Fassung des Films, dessen Skript erstmals 1955 in der siebten Nummer der belgischen surrealistischen Zeitschrift Les Lèvres Nues abgedruckt wurde.211 Dazwischen lagen einige skandalöse Vorführungen in den Pariser Ciné-Clubs. Die Eliminierung aller lautmalerischen Sequenzen von der Tonspur negiert demonstrativ jede weitere Daseinsberechtigung der von der Entwicklung überholten lettristischen Poesie. Sie wird als ein weiterer in eine Sackgasse mündender Weg der Gegenwartsavantgarde dem Vergessen, beziehungsweise der ehrenden, disfunktio na l gewordenen Erinnerung an bloße Vorläufer anheimgegeben. Das ist fast noch demütigender.

Lettristische Kunst gab es auch weiterhin. Sie konnte gesammelt und ausgestellt werden. Isou lebte bis 2007. Maurice Lemaître verstarb im Frühsommer 2018. Beide blieben als Künstler überaus produktiv. Debord kappte aber seine persönlichen Verbindungen zu den meisten Protagonisten der Kunstrichtung rigoros.

Der prophetische Impetus einer Forderung, die gleich zu Beginn des Films erhoben wird, trachtet danach, den Surrealismus Bretons, der am Ende seiner Erzählung Nadja (1928) die Schönheit als "konvulsiv" definierte,212 mit demselben Streich gleich mitzuerledigen. So stellt sich Debord erklärtermaßen an die Spitze einer neuen Bewegung, welcher sowohl die Kunst in ihrer Warenförmigkeit als auch die heuchlerische, noch dazu pathetische Pseudokritik suspekt und unbrauchbar geworden ist. Eine der Kommentatorenstimmen in Hurlements verkündet selbstbewusst: "Les arts futurs seront des bouleversements de situations, ou rien." (Deutsche Übersetzung: "Die Kunst der Zukunft wird eine Situationsumwälzung sein oder sie wird nichts sein.")213 Zu Beginn seiner Karriere desavouierte Debord den alten König der Pariser Avantgarde, der augenscheinlich nur noch das eigene Erbe verwalten mochte, und verscheuchte einen eitlen Prinzen von dem Platz, der offenbar einem konsequenteren Neuerer gebührt e, welcher die Kunst überwinden wollte. Der Ausblick auf die Zukunft eines Projekts, das mit

210 Das vollständige Skript der ersten Fassung in ION findet sich abgedruckt in: Debord, Guy. Œuvres. Paris.

Quarto Gallimard, 2006: 48 - 58.

211 Vgl. Les Lèvres Nues No. 7, Decembre 1955: 18 – 23. Dieser Fassung entspricht das Skript in dem Bändchen Contre le cinéma, das 1964 von Asger Jorns Institut für vergleichenden Vandalismus herausgegeben wurde. Alle Zitate im Text stammen aus der deutschen Übersetzung dieser Schrift. Guy Debord. Gegen den Film:

Filmskripte. Hamburg. Edition Nautilus Verlag Lutz Schulenburg, 1978. Alle Filmskripte Debords finden sich im französischen Original abgedruckt in: Debord, Guy. Œuvres. Paris. Éditions Gallimard, 2006.

212 Vgl. Breton, André. Nadja. Frankfurt am Main. Suhrkamp Verlag, 2002: 139.

213 Debord. Gegen den Film: 24.

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Hurlements beginnt, ist gewagt. Allerdings steht eine wissenschaftliche Umsetzung der prophetischen Forderung noch aus, in die Elemente der Psychologie, der Statistik, des Urbanismus und der Ethik eingehen sollen. "Ces elements devront concourir à un but absolument nouveau: une création consciente de situations." (Deutsche Übersetzung: "Diese Elemente sollen einem absolut neuen Zweck dienen - der bewußten Konstruktion von Situationen.")214

Als filmisches Manifest stellt Hurlements ein Programm und einen Stil vor, an die sich Debord zukünftig halten sollte. Von Anfang an geht es darum, sich an der äußersten Grenze einer kontemplativ konsumierten Kunst anzusiedeln. Von dieser mit dem ersten Film erprobten Stellung ausgehend, gilt es von der Passivität zur Diskussion überzugehen.215 Der sich mit dem Film abzeichnenden situationistischen Position, die fundamental performativ ist, unterstellt Kaufmann, dass es sich um eine "Unsituierbarkeitserklärung" Debords handelt.216 Der gesprochene Kommentar des Films liefert unterschiedliche Zeugnisse des Verschwindens vom Diebstahl bis hin zum Selbstmord eines Radiostarlets, das 1950 ins Wasser der Isère stieg. Diese Fragmente sind in enger Relation zu dem unsteten Leben des jungen Debord und vieler seiner gleichgesinnten Kameraden in Paris zu betrachten. Beispielhaft identifiziert sich der junge Debord vor allem mit dem verschollenen Boxer-Poeten Arthur Craven, einem Deserteur aus

Als filmisches Manifest stellt Hurlements ein Programm und einen Stil vor, an die sich Debord zukünftig halten sollte. Von Anfang an geht es darum, sich an der äußersten Grenze einer kontemplativ konsumierten Kunst anzusiedeln. Von dieser mit dem ersten Film erprobten Stellung ausgehend, gilt es von der Passivität zur Diskussion überzugehen.215 Der sich mit dem Film abzeichnenden situationistischen Position, die fundamental performativ ist, unterstellt Kaufmann, dass es sich um eine "Unsituierbarkeitserklärung" Debords handelt.216 Der gesprochene Kommentar des Films liefert unterschiedliche Zeugnisse des Verschwindens vom Diebstahl bis hin zum Selbstmord eines Radiostarlets, das 1950 ins Wasser der Isère stieg. Diese Fragmente sind in enger Relation zu dem unsteten Leben des jungen Debord und vieler seiner gleichgesinnten Kameraden in Paris zu betrachten. Beispielhaft identifiziert sich der junge Debord vor allem mit dem verschollenen Boxer-Poeten Arthur Craven, einem Deserteur aus