• Keine Ergebnisse gefunden

Potlatch: In der Herausforderungslogik der Gabe

I. VORGESCHICHTE DER SITUATIONISTISCHEN INTERNATIONALE 1. Ein Porträt des Antikünstlers als junger Mann

5. Potlatch: In der Herausforderungslogik der Gabe

In und mit Potlatch bezog die zuvor stimmlose Gruppierung um Debord und Wolman die Position eines radikalisierten und politisierten Diskurses, welcher sich im Stil einer verbalisierten Unnachgiebigkeit der nihilistischen Versuchung zu entwinden suchte. Kraft dieser Wandlung formulierten die Internationalen Lettristen sozusagen ein strategisc hes Imaginäres, an dessen Horizont die kollektive "Etablierung einer neuen Zivilisation" stand.230 Potlatch ist der ethnologische Kampfbegriff unter dem die L.I. ihre Radikalität in der Abgrenzung vom zersplitterten und orientierungslosen Rest der Avantgarden gewinnt. Sie verweigert jeglichen Dialog mit den alternden oder ihrer Meinung nach unzulänglic he n Kämpen, welche die Aussöhnung mit der Gesellschaft in einer Eingliederung in ihre Betriebssysteme - wie beispielsweise die Kunst- und Literaturszene - suchen. Entsprechend der Vorlage des Skandals, der Hurlements en faveur de Sade zu einem unverzichtb are n Erfahrungswert gemacht hatte, auf den man sich immer wieder berufen sollte, galt die Öffentlichkeit den Internationalen Lettristen nun als Raum für Konflikte.

Mit Potlatch situierte sich die Avantgarde in einer Zeit der Anbiederung und der Kompromisse nur über Feindseligkeitserklärungen an die Stützen der gegenwärtigen Kultur und der politischen Ordnung. Gleichzeitig stand das Angebot einer Reihe neuer und unverkäuflic her Wünsche und Probleme zur Debatte. Greil Marcus bewertet Potlatch als Medium eines Freiheitsspiels, das versucht Begierden nach einer neuen Lebensweise unters Volk zu bringen, die kein Markt je befriedigen könnte. Der Unmut der Menschen, die sich diesem Spiel anschlössen, würde endlich die Institutionen der Gesellschaft zu Fall bringen, so die großspurig-naive Verkündigung der L.I., deren Kernbotschaft aber gerade in der Übertreibung und Entgrenzung steckt.231

Das, was seit 1952 mit der L.I. entsteht, dient einem Projekt, welches sich wissentlich und willentlich jenseits des Gebiets des Kunstsystems ansiedelt. Von den Peripherien her versucht man mit Ausfällen, die man in die unterschiedlichen kulturellen Szenen unternimmt, das propagierte Ende der Kunst zu beschleunigen. Die L.I. konstituiert sich auf der Grundlage einer Ablehnung jeglicher ästhetischer Intervention zum Selbstzweck. Im Zentrum ihres Programms steht das Verlangen nach der Neuerfindung des Lebens. Entsprechend dieser hochfahre nde n Ambition nutzt man die Situation eines noch weitgehend desorientierten Kulturbetriebs in der

230 Potlatch Nr.1: 9.

231 Vgl. Marcus. Lipstick Traces: 408.

86

traumatisierten französischen Nachkriegsgesellschaft um die Akteure und Eliten der Kultur jener Ära in polemischer Weise zu diskreditieren. Kraft eingeschränkter, jedoch äußerst ökonomisch genutzter Mittel, verschaffen sich die Autoren Gehör, indem sie sich ostentativ von allem distanzieren, was nach gesellschaftlicher Anerkennung riecht.

Potlatch macht seine Beute in der surrealistischen Strömung nach Breton aus. Unisono schmähen seine Autoren die künstlerischen Bemühungen von Chaplin, Aragon, Ionesco, Malraux, Genet, Camus, Sagan und Artaud. Die bekanntesten Figuren des französisc he n Kulturbetriebs wurden auch deshalb zu beliebten Zielscheiben, weil sie berühmt waren und über ein entsprechend devotes Publikum ihrer Vorführungen verfügten.

Bereits in der zweiten Nummer der Zeitschrift verkündet die L.I. im Jargon einer Kaderorganisation, die sich um eine innere Säuberung von unliebsamen Elementen bemüht, die individuell begründete "Eliminierung der 'Alten Garde'"232. Unter den ausgeschlossene n sogenannten „Spitzeln“ finden sich, angeführt von Isou („Moralisch retrogrades Individ uum, begrenzte Ambitionen“) und seiner rechten Hand, dem Filmemacher und Maler Maurice Lemaître, die beide wohlgemerkt niemals Mitglieder der Gruppe waren, jene Lettristen, die aufgrund ihrer abweichlerischen Tendenzen, beziehungsweise unzureichenden intellektue lle n Kapazitäten und Tugenden dem Projekt nicht länger zumutbar erscheinen. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, lässt man diese ‚Randfiguren‘, porträtiert durch ein kurzes und beleidigendes Protokoll ihrer Vergehen wider den Gruppenge ist, das den Bruch mit ihnen öffentlich macht und festschreibt, einfach hinter sich.233

Ein von Anfang an häufig geschmähtes prominentes Opfer der kleinen Redaktion ist Le Corbusier, einer der einflussreichsten Architekten der Nachkriegszeit. An der breiten öffentlichen Anerkennung einer sich epigonal verbreitenden Ästhetik kostengünstig reproduzierbarer schachtelartiger Kasernenarchitektur, wie sie für die Konzepte des Wiederaufbaus und des neuen Wohnungsbaus nach den Richtlinien des Internationalen Stils bestimmend war, beißt sich die Kritik der L.I. am Wertekatalog der westlichen Zivilisation zur Mitte des 20. Jahrhunderts fest. Die Texte von Potlatch agitieren die synthetische Allianz von Kapital und protestantischer Askese, als deren markantesten Ausdruck man die funktionalistische Massenwohnarchitektur versteht. Die psychologischen Bedingungen des Rationalismus und Puritanismus der abendländischen Kultur hätten zu einer neurotisc he n Charakterstruktur geführt, deren einzige Lust darin bestehe, Besitzakkumulation überweltlic h zu legalisieren und innerweltlich zu rationalisieren, erläutert Hans Matthäus Bachmeyer in

232 Potlatch Nr.2. “RAUS”: 17

233 vgl. "RAUS" in: Potlatch Nr.2: 17.

87

seiner Einleitung zu Asger Jorns Kunsttheorie-Werk Plädoyer für die Form.234 Die skelettierte Reinheit der architektonischen Form, wie sie pervertiert im Funktionalismus anzutreffen ist, deutet, wie Jorn selbst es in einem Beitrag seines Buches formuliert, auf "die Verachtung des Individualinteresses, das gegenüber den Funktionszusammenhängen zum Störungsfak tor degradiert" wird.235 Die erklärte Opposition der Lettristen zu einer Kultur, die auf Formalisierung des Denkens und Automatisierung des Handelns abzielt, ist dabei durchaus von einem ambivalenten Respekt gegenüber dem Kybernetismus, seiner Befürworter und Träger geprägt. In Kreisen der Internationalen Lettristen ist man sich bewusst, es mit einem immer stärker werdenden Feind zu tun zu haben. Ausgestattet mit ungleich mächtigeren materielle n Mitteln, befindet sich dieser gleichfalls im Stadium seiner Formation und Machtkonzentratio n.

Ausgehend von der Feststellung, dass das Dekor die Handlungen der Menschen beeinflusst, versprechen die anonymen Autoren von Potlatch antithetisch den Bau von leidenschaftlic he n Häusern. Vorbilder für die eigenen Vorstellungen findet man allerdings nur in einer spielerischen Architektur solch exzentrischer Einzelgänger wie dem Postboten Cheval oder König Ludwig II. von Bayern.236 Ganz gegenwartsnah waren diese Beispiele schon nicht mehr.

Die gepriesene Epoche künstlerischen Individualismus scheint bereits in einer Vergangenhe it zu liegen, an die nicht mehr ohne weiteres angeknüpft werden kann.

Der aktuelle Erfolg Le Corbusiers dagegen wird zu einem Synonym für die konzertierte Aktivität eines repressiven Systems, welches vorgibt, um die Bedürfnisse des Menschen zu wissen, damit sie vorrangig auf dem Sektor der allgemeinen Gewährleistung eines Mindeststandards an Komfort gelöst werden können. Dies komme einer Degradierung des Menschen auf seine wirtschaftliche Nutzfunktion und seiner Konditionierung als Konsument gleich.

In dieser Zeit [...] gibt es eine besonders widerwärtige Person, in der eindeutig mehr vom Bulle n steckt als im Durchschnitt. Sie baut Wohnzellen, eine Hauptstadt für die Nepalesen, vertikale Ghettos, Leichenschauhäuser für eine Epoche, die diese gut gebrauchen kann, und sie baut Kirchen. Der Modulor-Protestant, Sing-Sing-Le-Corbusier, der Kleckser neo-kubistisc her Schinken, bringt die "Wohnmaschine" auf Touren, zur größten Ehre des Gottes, der die Rabenäser und die Corbusiers nach seinem Bilde schuf.237

234 Vgl. Bachmayer, Hans Matthäus. "Einleitung: Calvinistische Logik versus imaginäres Bauhaus". In: Jorn, Asger. Plädoyer für die Form: Entwurf einer Methodologie der Kunst. München. Klaus Boer Verlag, 1990: 12.

235 Vgl. Bachmayer. "Einleitung". In: Jorn. Plädoyer für die Form: 15.

236 Vgl. Conord, André-Frank. "Elendsquartiere im Bau" in: Potlatch Nr.2: 21 sowie "Nächster Planet" in:

Potlatch Nr.4: 27 - 28. Das Begleitheft der Berliner Ausstellung The Most Dangerous Game von 2018 zeigt zum Abschluss ein Foto Debords während eines Besuchs des Palais idéal, welches der Facteur Cheval ursprünglich in jahrzehntelanger Arbeit als sein Grabmal erschaffen hatte.

237 Lettristische Internationale. "Die Wolkenkratzer von unten besehen" in: Potlatch Nr. 5: 31.

88

Zeitgenössischer Urbanismus Le Corbusierscher Provenienz dient einer polizistisc he n Funktion. Internationale Lettristen betrachten die Entwicklungspolitik und den Städtebau der Nachkriegszeit in einer Traditionslinie mit dem Präfekten Haussmann, der von Napoleon III.

mit nahezu unbegrenzten Machtkompetenzen ausgestattet wurde, um die "Neuerschaffung von Paris" durchzuführen. Die Ziele solcher Maßnahmen sind schnell ausgemacht. Es geht um die Abschaffung der Straße als Ort der Kommunikation und um die Etablierung des Gefängnisses als Wohnmodell.

Sein Programm: ein Leben, das endgültig in voneinander abgeschottete Inseln aufgeteilt ist, in überwachte Gesellschaften; das Ende aller Möglichkeiten zum Aufstand und zur Begegnung;

automatische Resignation. [...] Mit Le Cobusier werden Spiel und Erkenntnis, die wir von einer wirklich umwälzenden Architektur täglicher Befremdung erwarten dürfen, dem Müllschlucker geopfert, der allerdings nie für die obligate Bibel benutzt wird, wie sie in amerikanischen Hotels ausliegt.238

Übereinstimmung herrscht innerhalb der lettristischen Gruppe auch darüber, dass das wirklic he Leben nur jenseits solcher elitär verordneten Raumstrukturierungsmodelle zu gewinnen ist.

Unter dem Vorwand eines fortschrittlichen technologischen Aufbruchs aus der Misere der Nachkriegszeit drohen die Bande der Kommunikation und der Erinnerung vollends zerschnitte n zu werden. Eine gesellschaftliche Segregation, wie sie für die Massenkultur der Moderne typisch ist, findet in den demographischen Maßnahmen der 50er Jahre ihre als fatal empfunde ne Fortsetzung. Die von den Lettristen formulierte Weigerung im Inneren des Systems zu kämpfen, zieht in Konsequenz die Frage nach dem bloßen Überleben im Kompromiss oder der Zerstörung jenes Systems nach sich, welches für sie lediglich inakzeptable Realitäte n anzubieten hat.239

Der Minimalkonsens einer Gruppierung, deren Mitglieder sich darauf geeinigt haben, alle persönlichen Ambitionen zurückzustellen, besteht darin, die Mittel zur Annäherung an eine noch zu konstruierende leidenschaftliche Lebensform ausfindig zu machen. Die Erforschung neuer Verhaltensweisen ist für die Lettristen ein Spiel, das humorvoll verbrämt, jedoch mit äußerster Härte und Intransigenz durchgeführt werden muss. Im Zentrum dieses "großen Spiels", welches die Ambition zur Umwälzung des Alltagslebens als Ziel ausgibt, steht die

"Konstruktion von Situationen". Im gegenwärtigen Stadium meint dieser Begriff noch die Synthese einer Kritik des Verhaltens mit urbanistischen Techniken, welche die städtischen Umgebungen und deren kommunikative Beziehungen erkunden und thematisieren. Allerd ings

238 Potlatch Nr. 5: 32.

239 Vgl. Potlatch Nr. 4: 25.

89

hatte der Begriff der Situation schon für die L.I. die Implikation von Volksaufstand und Erhebung. Man knüpft so an Karl Marx an, der in seiner kritischen Begutachtung der Revolution von 1848 "Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte" von der Schaffung einer Situation gesprochen hatte, die jede Rückkehr unmöglich macht.240

Auf dem zum Kampfgebiet erklärten Terrain der Architektur und des Städtebaus richtet sich die Polemik von Potlatch gegen die Zerstörung und das Verschwinden jener heterogenen und lebendigen urbanen Orte, die als historische und architektonische Ensembles eine

"psychogeographisch" genannte Eindrucks- und Erlebnisvielfalt bieten. Solche Gebiete gilt es als insulare Raumeinheiten zu verteidigen. Idealerweise verschmelzen in diesen Enklaven die Geschichte(n) der Orte mit den optischen Perspektiven und ihrem gegenwärtige n Erfahrungspotential zu gewissermaßen kontinentalen Einheiten.241 Immer wieder hat sich Debord in der zweiten Hälfte der Fünfziger Jahre aktuelle Stadtpläne von Paris vorgenomme n, um darauf ausgesuchte Kleinstgebiete aus oft nur wenigen Straßenzügen im Kernstadtbereich links und rechts der Seine mit einem Stift einzukreisen und als sogenannte „unités d'ambiance“ zu markieren.242

Beispielhaft beklagt ein Text in Potlatch Nr.7 die Zerstörung der maroden Rue Sauvage, welche den Lettristen ein lebendiges Milieu des Austauschs im XIII. Arrondisement darstellte.

Zunächst wurde die alte Bausubstanz durch eine Anzahl 'verblödender Gebäude' förmlic h umzingelt. Schließlich musste die Straße 1955 dem Druck der zeitgenössischen Stadtplanung ganz weichen. Im Nachruf zweier kleiner Artikel über den Verlust mehrerer symbolischer Orte, deren Bedeutung auch durch die Straßennamen und Ortsbezeichnungen affektiv aufgelade n ist243, schwingt eine Angriffslust mit, die eine solche Operation durch eine ebenfalls zerstörerische Gegenaktion beantwortet wissen will. Internationalen Lettristen geht es weniger um die Erhaltung baufälliger, innerstädtischer Wohnsubstanz, als vielmehr um die Proklamation eines Kampfes gegen die sich auf breiter Front durchsetzenden unwürdigen neuen Lebensbedingungen. Mit den urbanen Orten werden ihre Geschichte und gewachsene demographische Struktur gleichermaßen planiert. Die Überschrift einer der Artikel zum Thema

240 Vgl. Marx, Karl. "Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte". In: Butollo, Florian; Nachtwey, Oliver (Hg.). Karl Marx – Kritik des Kapitalismus: Schriften zur Philosophie, Ökonomie, Politik und Soziologie. Berlin.

Suhrkamp Verlag, 2018: 564.

241 Vgl. z.B. Potlatch Nr. 24: 177. In der Metaphorik klingt an, dass es sich um Entdeckungen solcher Orte dreht, die eine urbane Vielfalt zu bieten haben, welche so vielen anderen Gebieten bereits mangelt.

242 Vgl. Abb. 29 im Ausstellungskatalog Guy Debord: Un art de la guerre. Paris. Gallimard, 2013: 60. Der entsprechende Plan enthält exakt 57 solcher, urbaner Einheiten. Vorbildhaft dürften beispielsweise frühere Metagraphien von Gilles Ivain gewirkt haben, die Debord in seinem Privatarchiv aufbewahrt hat. Vgl. S. 51.

243 Breton führt in Nadja (1928) eine Vielzahl von Erlebnissen ins Feld, welche an die spezifische Qualität Pariser Umgebungen und Denkmäler geknüpft sind. Aragon handelt in Le paysan de Paris (1926) ausgiebig von den starken psychologischen Wirkungen städtischer Szenerien und Orte.

90

mit einem fragmentarischen Zitat Baudelaires, welches den Ausgang der Aussage zur künftige n Stadtentwicklung offenlässt und somit antagonistische Tendenzen am Werk implizie rt, verdeutlicht, dass die Sentimentalität von Denkmalschützern eine untergeordnete Rolle spielt.

Debord und seine Mitstreiter ahnen bereits, dass viele der von ihnen geschätzten Szenerien im Zuge moderner Sanierungvorhaben alsbald verloren gehen werden. Sie sind bereit diese Opfer zu erbringen; begrüßen diese geradezu. Faktisch durch städtische Modernisierungspläne in die Verteidigung gedrängt, eröffnen die Lettristen eine poetische Offensive im Kampf um die Straßen. Bewehrt mit Baudelaire, der als Dichter des Wandels von Paris zur Hauptstadt des 19.

Jahrhunderts schlechthin gilt, versichert man sich einer brüchigen Tradition der Einheit von Dichtung und Leben. "Die Form einer Stadt ändert sich schneller ..."244 (im Original: "La forme d'une ville change plus vite ...") lautet die Überschrift des Artikels. An anderer Stelle heißt es in Potlatch: "Auch wenn wir der Faszination von Ruinen nicht unbedingt zugetan sind, so ist doch die Häßlichkeit der Zivil-Kasernen, die sich an ihrer Stelle erheben, derart sinnlos, daß sie die Sprengmeister auf den Plan ruft."245

Regelmäßig in Potlatch erscheinende Rubriken nach dem Muster des "psycho-geographisc he n Spiels der Woche" und verschiedene Erfahrungsprotokolle fordern die Leser zu einem aktiven Spielverhalten auf. Umworben werden sie mit Aufrufen zur Gefahrensuche und zur Solidarität mit der sich formierenden politischen Opposition gegen die verspätet kolonialistisc he Außenpolitik Frankreichs; einem der Reizthemen jener Jahre. Mit ihren experimente lle n Versuchsanordnungen berufen sich die Lettristen auf eine künstlerische Traditionskette, die man gattungsübergreifend als ‚Phantastischen Imaginismus‘ bezeichnen mag. Gemeinsa mer Nenner aller von ihnen genannten Vorbilder ist, dass sie ihre kalkulierten Wirkunge n wissenschaftlicher Methodik verdanken. Beginnend mit Piranesi reicht die Ahnengalerie der L.I. über den Maler Claude Lorrain, Edgar Poe, Arthur Craven und André Breton bis an die unmittelbare Gegenwart heran. Die Namen Jack the Ripper und Saint Just erschließen eine weitere ‚verbrecherische‘ Traditionslinie, welche den Terror des gegen die Verderbtheit der Gesellschaft aufbegehrenden Individuums in den Fokus rückt.246 Alltagsleben und Poesie gehen als Geste der Erneuerung des Glücks in Europa eine Allianz ein, die sich in der Rolle einer ideologischen Opposition als Ergebnis geschichtlicher Bedingungen betrachtet.247

Folgende Absichtserklärung paraphrasiert eine zentrale Aussage in Debords Film Hurlements en faveur de Sade und erweitert den Blick auf den ephemeren Charakter zukünftiger Taten.

244 Potlatch Nr. 25: 192.

245 "Die rue Sauvage wird zerstört" in: Potlatch Nr.7: 46.

246 Vgl. " ... eine neue Idee in Europa" in: Potlatch Nr.7: 42. Der Titel ist ein Fragment des Ausspruchs von Saint-Just vor dem Nationalkonvent 1794: "Das Glück ist eine neue Idee in Europa."

247 Vgl. "Die Generallinie" in: Potlatch Nr. 14: 73.

91

"Die Poesie liegt in der Form der Städte. Wir werden also umwälzende Städte bauen. Die neue Schönheit wird SITUATIONSBEDINGT sein, das heißt provisorisch und gelebt."248

Die Praktik des Umherschweifens, "Dérive" genannt, erfüllt die Anforderungen an eine Mobilität, welche das Reisen im verwunderten Zustand als Technik eines ziellose n Ortswechsels unter dem Einfluss der Umgebungen, in den Mittelpunkt einer Suchaktion stellt.

Ältester mythischer Vorläufer ist die weitverzweigte Überlieferung der christlic he n Gralssuche.249 Mit dem Dérive arbeiten die Lettristen an einer Bewusstmachung jener Elemente, die eine Situation bestimmen. Systematisch angelegte Streifzüge durch unterschiedliche Viertel der Stadt bezwecken eine Konkretisierung der noch ungenutzte n zukünftigen Kräfte einer Disziplin, die mittels der Techniken des Umherschweifens an der Konstruktion der Bedingungen eines spielerischen und abenteuerlichen Lebens mitwirken soll.

Die Ankündigung, dass sich solche 'Forschungen' in einer psychogeographischen Kartografie niederschlagen werden, stellt somit gleichzeitig eine Karte des Begehrens in Aussicht. Es gilt diese Ambitionen auf das reale Stadtgebiet zu übertragen. In seinem Potlatch-Beitrag

"Architektur und Spiel" kündigt Debord an, die Spielregeln aus einer willkürlic he n Übereinkunft, die bislang nur aus der Praxis der Lettristen abgeleitet werden konnte, "in eine moralische Grundlage zu verwandeln".250

Kaum vier Monate nach dieser Ankündigung sichert Debord im bisher längsten Artikel,

"Warum Lettrismus?", den in Attacken auf die krisenhafte Gegenwartskultur sich formulierenden Gruppenkonsens ab. Die zum Sommerende am 19. September erscheine nde sogenannte „Feriennummer“ der Zeitschrift bietet einen Rückblick auf die großen sozialen Kämpfe der Vergangenheit und die in der Geschichte bislang immer gescheiterten ästhetische n Bemühungen, diese adäquat zu unterstützen. Der Beitrag verschafft Klarheit über die Ziele der L.I. und sorgt beiläufig für den notwendigen Distinktionsgewinn. Namentlich die abstrakte Malerei und das Kino, die avantgardistischen Leitkünste in der ersten Hälfte des 20.

Jahrhunderts, vermochten nicht das Erbe der Weigerung, die Dada - unter der Federführung Huelsenbecks - darstellte, zu einer historisch notwendigen Aufhebung der alten, als kleinbürgerlich denunzierten Werte anzutreten. Debord und Wolman zeichnen in ihrem Grundsatzartikel das Bild eines so öden wie einträglichen kulturellen Jahrmarkts, durch den aktuell der Geist der Affirmation wehe. Aus der Krise des Lettrismus, die 1952 zur Gründung der L.I. führte, rechtfertigen die Leitartikler eine selbstkritische Revision der bisherige n Tätigkeiten und Ziele der L.I.. Zu einem Zeitpunkt, da die Erfolge der Organisatio n noch eine

248 Potlatch Nr. 5: 35.

249 Vgl. Potlatch Nr. 8: 51.

250 Potlatch Nr. 19: 135.

92

Ähnlichkeit mit den Fehlschlägen aufweisen, sehen sie sich jedoch bereits darin bestätigt, mit ihren Texten bei einigen Kritikern eine Wirkung der Konfusion hinterlassen zu haben.

Teilweise habe die Verwirrung sogar dazu geführt, dass man die Ambitionen der L.I. in ihrer historischen Konsequenz, wenn auch unfreiwillig, so doch durchaus folgerichtig erkannt und formuliert hat. So haben die Kritiker mit der Bestätigung der Existenz dieser entgegen allen Beteuerungen doch ernstzunehmenden Gruppe, immerhin zur Verbreitung ihres Gedankenguts beigetragen.251

Wille zur Abgrenzung, Unnachsichtigkeit und der Mut zum internen, aber stets öffentlic h gemachten Bruch, das heißt die Bereitschaft frühere Freunde und Gefährten den Ideen zu opfern, sind noch bescheidene Mittel der kulturellen Intervention. Nichtsdestotrotz beweisen sie die notwendige Existenz der L.I.. Dankbar greifen die Autoren die Metapher der virusartige n Verbreitung ihrer Stellungnahme zu allen Aspekten der Mediokrität des Alltagslebens auf. In diesem Experimentalstadium geht es um die Erkundung und provisorische Formulierung einer Lebensform, die es noch gar nicht als kohärentes System zu verteidigen gilt. Vielmehr werden die Leser von Potlatch in hohem Maße mitverantwortlich gemacht, ihrer Talente entsprechend an dieser Entwicklung aus freien Stücken teilzuhaben. Potenzielle Interessenten sollen sich auch von Flugblättern angesprochen fühlen, welche die Lettristen im Dezember 1955 an den Mauern des Quartier Latin plakatierten. Darauf war die Pariser Adresse der L.I. in der Rue de la Montagne-Geneviève vermerkt. Der Text lautete: "Si vouz croyez du genie ou si vous estimez

Wille zur Abgrenzung, Unnachsichtigkeit und der Mut zum internen, aber stets öffentlic h gemachten Bruch, das heißt die Bereitschaft frühere Freunde und Gefährten den Ideen zu opfern, sind noch bescheidene Mittel der kulturellen Intervention. Nichtsdestotrotz beweisen sie die notwendige Existenz der L.I.. Dankbar greifen die Autoren die Metapher der virusartige n Verbreitung ihrer Stellungnahme zu allen Aspekten der Mediokrität des Alltagslebens auf. In diesem Experimentalstadium geht es um die Erkundung und provisorische Formulierung einer Lebensform, die es noch gar nicht als kohärentes System zu verteidigen gilt. Vielmehr werden die Leser von Potlatch in hohem Maße mitverantwortlich gemacht, ihrer Talente entsprechend an dieser Entwicklung aus freien Stücken teilzuhaben. Potenzielle Interessenten sollen sich auch von Flugblättern angesprochen fühlen, welche die Lettristen im Dezember 1955 an den Mauern des Quartier Latin plakatierten. Darauf war die Pariser Adresse der L.I. in der Rue de la Montagne-Geneviève vermerkt. Der Text lautete: "Si vouz croyez du genie ou si vous estimez