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III. NUR EIN ETAPPENZIEL: DIE ÜBERWINDUNG DER KUNST 1. Wiederbelebung der frühen Schriften

4. Pinot-Gallizios Pittura Industriale

4. Pinot-Gallizios Pittura Industriale

Wie die Causa Constant zeigt, erwies sich die S.I. bereits im Jahr Eins nach ihrer Gründung als eine beachtenswerte Formation, die an den Reibungspunkten miteinander kollidiere nder Initiativen und Vorhaben ihre Zähne und ihr Profil schärfte. Durch die umseitig geknüpfte n Kontakte ihrer Mitglieder verfügte die Gruppe von Anfang an über gute Beziehungen zu Museen und Galerien in einigen der erstrangigen Kunstzentren Europas. Diese Netze galt es nun möglichst flächendeckend zu aktivieren, um ein größeres Publikum sowie wichtige Personen und Multiplikatoren des Kunstmarktes und des Kunstsystems an seinen Peripherie n und in seinen wichtigsten Schaltzentralen anzusprechen.

Giuseppe Pinot-Gallizio, nach den Ausschlüssen der Maler Olmo, Simondo und Verrone, die sich in Verteidigung ihrer experimentellen Haltung nicht auf das Programm der S.I. festlege n lassen wollten, zusammen mit seinem Sohn Giorgio (alias Giors Melanotte) letzte Vertreter des

"Laboratorio Sperimentale" in der S.I., hatte zu Beginn des Jahres 1958 mit der Produktion seiner sogenannten "Pittura industriale" begonnen. Der Grundstein zur Realisierung des Konzepts einer den Rahmen des Tafelbilds sprengenden Malerei wurde im engen Austausch mit Debord gelegt und fand seinen Ausdruck in einem Manifest Pinot-Gallizios und einige n Artikeln und Textbeiträgen der S.I.. Gleichermaßen bemühte sich der Italiener, die Forderungen des Unitären Urbanismus als auch den Willen zur Überwindung der Malerei und der Subversion des Kunstmarktes umzusetzen.427 Entgegen der weithin propagierten Idee einer maschine ll produzierten Malerei war der Herstellungsprozess seiner Werke allerdings weder industrie ll noch seriell; allerdings gemeinschaftlich. Bis zu 70 Meter lange bemalte Leinwandba hne n entstanden in ausschließlich handwerklichen Arbeitsprozessen. Der Mythos einer eingesetzte n

426 Vgl. Ohrt, Roberto. Phantom Avantgarde: 130.

427 Vgl. zum Themenkomplex die Darstellung von Niggl, Selima. Pinot Gallizio – Malerei am laufenden Meter:

München 1959 und die europäische Avantgarde. Hamburg. Edition Nautilus – Verlag Lutz Schulenburg, 2007:

58 – 69.

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Malkanone, „a fuoco“ genannt, wurde vor allem durch die hochtrabende Begriffsbildung des durchaus exzentrischen Charakters Pinot-Gallizio in die Welt gesetzt, welche, wie Archivbilder der Arbeitsvorgänge zeigen, nicht der Realität entsprach.428 Dem gelernten Apotheker, einem künstlerischen Autodidakten, der erst mit über 50 Jahren angefangen hatte zu malen, gelange n durch die ausgelösten chemischen Reaktionen zwar unvorhergesehene aleatorische Farbeffekte, welche maschinelle Prozesse am Werk implizierten. Trotzdem musste an den Planen immer wieder von Hand nachgearbeitet werden, da in den Augen der Produzenten angestrebte Ergebnisse wohl häufig ästhetisch unbefriedigend ausfielen (Abb. 45). Wie ein Katalogtext Bernsteins zur Kunst Pinot-Gallizios ironisch nahelegt, ging es aber gerade um die Nivellierung malerischer Qualität zugunsten einer nie versagenden Mischung aus Zufall und Mechanik, welche jeden Kunden gleichermaßen anspreche.429

45 Pinot-Gallizio und Sohn bei der Arbeit.

Zwei Ausstellungen in Turin und Mailand 1958 stellten dann auch entsprechend konsequent den meterweisen Verkauf von Kunst, die wie auf einem Markt für Textilien ballenwe ise feilgeboten wurde, in den Mittelpunkt. Exakt dieses Konzept wurde von der Ausstellung in der Münchner Galerie van de Loo, welche am 15. April 1959 eröffnete, aufgegriffen. Anlässlic h der Turiner-, sowie der Münchner Ausstellung waren mit Bahnen industrieller Malerei drapierte weibliche Modelle zu sehen, die erwartbar das Interesse der anwesenden Pressefotografen auf sich zogen und so das mediale Echo verstärkten.430

428 Vgl. Abb.en 28 und 29 in Niggl. Pinot Gallizio: 67 und 69.

429 Vgl. die Rubrik „Nachrichten von der Internationalen – Die Aktivität der italienischen Sektion“ In: i.s. Nr. 2 Dezember 1958: 67 – 70.

430 Vgl. Ohrt, Roberto. Phantom Avantgarde: 192 - 193 sowie Abb.en 100 und 101.

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Obwohl Pinot-Gallizio in Anlehnung an überdrehte futuristische Soireen, den Abverkauf seiner Malerei wie ein verrückt-gewordener Schneider431 inszenierte, welcher mit einer großen Schere die Stoffbahnen in handlichere Stücke schnitt, resultierte die von der S.I. kolportierte Resonanz darin, dass einige wenige Sammler die künstlerische Produktion als Spekulationsobjek te betrachteten und gleich rollenweise aufkauften (Abb. 46). Dies wiederum wurde von den Situationisten in großspuriger Übertreibung der Fakten als „Verteidigungsreflex des Bilderhandels“ gedeutet, worauf entgegen der üblichen Marktgesetze mit einer Erhöhung der Preise und einer Ausweitung der Produktion reagiert wurde.432

46 Ballen industrieller Malerei. Verkauf am Meter.

Nach einem knappen Jahr intensiver Vorbereitungen, die Debord nun zur Chefsache eines situationistischen Projektes erklärt hatte,433 gelang es ihm, den angesehenen Galeristen René Drouin dazu zu bewegen, diese primär für die Umgebungskonstruktion gedachte Anwendung der Malerei in seinen beengten Pariser Räumlichkeiten zu präsentieren. Der nächste Schritt sollte darin bestehen, das Konzept der industriellen Malerei nun in den Stadtraum hinein zu erweitern, um mehr Aufmerksamkeit, Aufregung und vielleicht sogar Partizipation zu generieren. Durch die ins komödiantische kippende Selbstinszenierung und versöhnlic he Genügsamkeit Pinot-Gallizios hatte sich der eingeplante Skandal einer Aushebelung von Marktmechanismen zuvor doch sehr in Grenzen gehalten. Dies schwächte die beabsichtigte Provokation insofern ab, als man publikumsseitig die Aktionen im Rahmen der

431 Quasi eine Weiterentwicklung seines Rollenspiels als Alchemist in der Tradition des verrückten Wissenschaftlers, als welchen ihn ein Foto in i.s. Nr. 2 präsentiert: 69.

432 Vgl. Niggl. Pinot Gallizio: 63. Allerdings herrschte auch hier ein Gegensatz zwischen den bekundeten Plänen, die Maschine zur Produktionssteigerung einzusetzen und der Haftung an handwerkliche

Fertigungstechniken. Vgl. Niggl: 66 – 67.

433 Vgl. Ohrt. Phantom Avantgarde: 193. Die Fabrikation Gallizios war für die Situationisten ein Beispiel für die an ihre Grenzen gelangte Malerei. Michèle Bernsteins "Eloge" im Katalog der Turiner Ausstellung drückt die Hoffnung aus, dazu beigetragen zu haben, dass die Tradition der Malerei auf ihre Auflösung zusteuert.

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Ausstellungseröffnungen eher als augenzwinkernden Spass verstanden- und abgetan hatte.434 Zur Vernissage am 13. Mai 1959 waren sämtliche Wände, der Fußboden und das Mobiliar der kleinen Galerie mit insgesamt 145 laufenden Metern industrieller Malerei bespannt.435 Auf den Verkauf von Kunst verzichtete die S.I. nun vollständig. Stattdessen versuchten die Verantwortlichen durch den intensivierten und simultanen Einsatz von weiblichen Modellen, Geräuschen und Gerüchen, den ganzheitlichen Impetus der Aktion zu demonstrieren (Abb. 47).

Jacopo Galimberti betont in seiner Studie über kollektive Kunst der 50er und 60er Jahre, dass die Szenerie den Eindruck einer post-apokalyptischen Grotte gemacht habe, beziehungswe ise der klaustrophobischen Anmutung eines überfüllten und überhitzten Atomschutzbunke rs geglichen habe.436

47 Eröffnung der Ausstellung in der Galerie Drouin.

In seiner Korrespondenz sowie einem diesbezüglichen Artikel in Potlatch Nr. 30 Neue Folge Nr. 1 stellte Debord allerdings klar, dass es sich bei dieser sogenannten "Caverne de l'Antimatière" lediglich um eine dekorative Umgebungskonstruktion in einem für die Konstruktion einer Situation ungeeigneten Raum gehandelt habe. So sei dann durch die mit ketzerischer Absicht im Kunstsystem verbreiteten Antilehren sprichwörtlich nicht genügend Antimaterie zusammen gekommen, um die Materie komplett zu zerstören.437

434 Vgl. Niggl: 70 – 71.

435 Zu den Angaben vgl. Debord, Guy. Correspendance vol. 1: 176 - 177. Vgl. auch Ohrt. Phantom Avantgarde:

Abb. 105.

436 Vgl. Galimberti, Jacopo. Individuals against Individualism: Art Collectives in Western Europe (1956 – 1969).

Liverpool. Liverpool University Press, 2017: 32 – 33. Abb. 10 auf S. 34 zeigt eine Nachbildung der Raumkonstruktion aus dem Jahr 2005, welche einen Eindruck der ursprünglichen Situation vermittelt. Das Bildmaterial bei Niggl veranschaulicht die Entwicklung des Ausstellungskonzepts von Turin über München bis Paris. In Turin hängen noch Teilstücke industrieller Malerei wie Bilder an der Wand. In der Pariser Ausstellung ist dann der gesamte fensterlose Raum mit bemalten Stoffbahnen ausgeschlagen.

437 Anspielung auf Kapitel I.6. dieser Arbeit. Beispiel für Zeckentfremdungen in Potlatch. „Die Katharer hatten recht.“

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Debord distanzierte sich in einem Brief an Constant bald darauf deutlich von der "bouffonerie "

Drouins (Abb. 48), sowie von seinem Freund Gallizio, der sich auch aufgrund seines erratischen Auftretens bei der Eröffnung als "artiste très ordinaire" erwiesen habe, indem er das Spiel nach den Regeln des Galeriewesens unreflektiert mitmachte.438 Selima Niggl konstatiert in ihrer Monographie über Pinot-Gallizio, dass derselbe selbst im Vergleich mit den Modifikatio ns-Bildern Asger Jorns und der Malerei der Gruppe SPUR bei dem Versuch die theoretische n Vorgaben der Situationisten umzusetzen, künstlerisch immerhin am weitesten gegangen sei.

Zumindest habe er es geschafft, sich von Tafelbild und Pinsel zu lösen. Keineswegs überraschend aber endete die geplante Unterwanderung des 'feindlichen' Kunstmarktes mit der Übernahme der Subversion in den Betrieb. Bei aller Klarheit, die diese Vorführungen über die gängigen Marktmechanismen, sowie über die Rück- und Widerständigkeit des klassische n Kunstbetriebssystems als solchem einbrachten, war das in der Summe kein echtes Fortkommen im Rahmen der situationistischen Praxis und den weiter gesteckten Zielvorgaben der Organisation.

48 Repräsentant des Kunstsystems 1959. Drouin.

5. ‚Gescheiterte‘ situationistische Ausstellungen

Debord verfolgte eine provokative Doppelstrategie um die öffentliche Diskussion über die S.I.

anzuheizen und nicht auf der Stelle zu treten. Diese richtete sich extern performativ gegen den

438 Vgl. Debord. Correspendance volume 1: Brief an Constant vom 20. Mai 1959: 230 - 231. Debords Vorschlag für die Eröffnung hatte wohl darin bestanden, dass Gallizio die Galerie in einem ikonoklastischen Akt betreten sollte, indem er wie auf einem roten Teppich über seine eigene Malerei spaziert. Das geht in dem Moment nach hinten los, wo die Persiflage von Stargehabe in unreflektierte Eitelkeit umschlägt. Vgl. Galimberti: Individuals:

33 – 34. Generell gerieten Galeristen in jener Zeit zunehmend unter Druck, ähnlichen Skandalen ihre Türen zu öffnen. Bereits im April des Jahres 1958 setzte Yves Klein mit seiner Ausstellung "Le Vide" in der Galerie von Iris Clert einen neuen Standard, der die Grenzen der Malerei, von Kunst und Antikunst neu austarierte. Im Oktober 1960 wurden dieselben Räume von Arman mit Müll vollgestopft: betitelt mit "Le plein". Für Beispiele vgl. u.a. Ohrt. Phantom Avantgarde: 204 - 207.

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zunächst scheinbar umworbenen Gegner, die Institutionen des Kulturbetriebs und ihr Publikum, sowie intern exklusiv gegen jene Elemente in der S.I., die er in ihrer künstlerischen Praxis der Redundanz überführen mochte. Wenn es angebracht schien ein zielführendes starkes Statement abzugeben, wurden entstandene Seil- und Freundschaften dabei den Ideen geopfert.

Zusammenhalt war nur auf der Ebene gemeinsamer Weiterentwicklung genuin avantgardistischer Positionen zu haben. Die S.I. war eine Art mobiler Inkubator, welcher nur für sehr kurze Zeit Nestwärme vermittelte und dann mehr oder weniger irritierte Weggefährte n in die kalte Welt entließ. Mit einem Plan A arbeitete man gewissenhaft auf das Gelinge n gemeinsamer Projekte hin, während Plan B ihr Scheitern vorsah, um das Misslingen als Fortschritt der Organisation und ihrer Praxis zu deklarieren. Argumentativ vorgeschoben machte man eine Mischung aus Vertragsbrüchen und internen Sabotageakten für etwaige Fehlschläge verantwortlich.

Anfang des Jahres 1959 einigte sich die S.I. mit dem renommierten Stedelijk-Museum in Amsterdam über die Verwandlung zweier Räume des Gebäudes in ein Labyrinth. Die Einrichtung sollte durch ein dreitägiges Umherschweifexperiment im Stadtgebiet von Amsterdam zu einer Kundgebung erweitert werden.439 Erklärtes Ziel der Aktion war die Installation einer kombinierten Umwelt durch die "Verquickung innerer (einer eingerichte te n Wohnung) und äußerer (städtischer) Züge".440 Die geplante Einrichtung sah vor, den Durchgang durch das Museum mittels eines Systems von Provokationen und Hindernissen zu hemmen. Neben unterschiedlichen Wärme-, Licht- und Klangzonen waren lenkbare Türen dafür gedacht, die Gelegenheiten zum Verlaufen zu vermehren. Ein sogenannter "Tunne l industrieller Malerei", den Pinot-Gallizio aufbauen sollte, war dazu vorgesehen, ein wichtiger Bestandteil einer die Grenzen des Museums aufsprengenden Struktur zu sein, deren Neuartigkeit in der Vereinigung mit Operationen auf dem realen Stadtgebiet zutagetrete n sollte.441 Das ambitionierte Projekt sollte zum ersten Mal die Arbeit und Forschungen aller Mitglieder und Sektionen der S.I. vereinigen.442

Am 5. März 1959 segnete der damalige Museumsdirektor Willem Sandberg, ein ehemaliger Widerstandskämpfer mit marxistischen Wurzeln, welcher bereits 1949 CoBrA-Künstler ausgestellt hatte, den Entwurf mit der Einschränkung ab, dass er die Einrichtung in seinem Haus plötzlich an feuerpolizeiliche Auflagen knüpfte. Auch die Finanzierung des Projekts sollte neu

439 Vgl. "Die Welt als Labyrinth" in: i.s. Nr. 4: 120.

440 "Die Welt als Labyrinth": 121.

441 Vgl. "Die Welt als Labyrinth": 122.

442 Vgl. Galimberti. Individuals against Individualism: 36. Die Ausstellung Die Welt als Labyrinth im MAMCO in Genf (28. Februar bis 6. Mai 2018) versuchte sich zuletzt daran, die Szenarien situationistischer Ausstellungen nachzustellen.

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geregelt werden, indem man sie außenstehenden Organen, einer öffentlichen Stiftung der Niederlande, übertragen wollte. Die Situationisten lehnten eine Einwilligung in diese Kompromisse ab, da ihnen jeder weitere Schritt unter diesen Bedingungen bedeutet hätte, " [...]

dass wir von vornherein die Fälschungen unseres Projekts unterzeichneten".443 Die Beurteilung einer neuen Art der Manifestation konnte und durfte nicht einer dafür wenig kompetenten dritten Partei überlassen werden. Ein in i.s. veröffentlichter Bericht Asger Jorns überführt Sandbergs Haltung ihrer opportunistischen Motivation. Einerseits habe sich der Museumsma nn nicht getraut mit der Avantgarde zu brechen, " [...] er wagte es aber auch nicht, die für eine wirkliche Avantgarde einzig annehmbaren Bedingungen zu sichern".444 Die Ablehnung der Einschränkungen Sandbergs brachte das seit circa eineinhalb Jahren arbeitsintensiv vorbereitete Projekt kurz vor seiner Realisierung zum Platzen. Der Austritt aus dem Vertrag erfolgte nach einem Muster, welches die Lettristische Internationale bereits 1955 anlässlich der angekündigten Ausstellung "Metagraphische Propaganda"445 erfolgreich erprobt hatte. Das Scheitern der Ausstellungspläne an unannehmbaren Bedingungen wurde performativ zum Movens einer Strategie, deren Pointe darin bestand, die Institutionen des Kunstsystems, je vermeintlich fortschrittlicher desto besser, als feige Bewahrer des kulturellen Status-quo denunzieren zu können. Vor dieser Folie führte man die selbstgewählte Rolle einer Gruppe auf, die sich als weitgehend unabhängig vom Kunstbetrieb definierte und an einem Spiel partizipierte, welches nicht in engen teilsystemischen Grenzen ablief. Die Kategorie dafür nennt sich Skandal. ‚Einen Skandal machen‘ – was gab es Schöneres und Befriedigenderes? In aller Ausführlichkeit ist in Potlatch ein Briefwechsel mit dem belgischen Galeristen Georges-Marie Dutilleul abgedruckt, der seinerzeit einen die Ausstellung begleitenden Text- und Plakatentwurf der Lettristen aufgrund seiner beleidigenden Inhalte gegen Albert Camus, den sakrosankten Träger des Nobelpreises für Literatur, und Le Corbusier nicht billigen wollte. Der Galerist behielt sich aber vor, eine geplante Ausstellung lettristischer Kunst nach seinen Bedingunge n auszurichten, um seine entstandenen Unkosten zu decken. Die Beweisführung der L.I. entlarvt e das Verhalten des um seine Reputation besorgten, aber kompromisslerischen Eigentüme rs zweier Galerien in Lüttich und Brüssel als eine nicht tolerable Haltung. In scharfem Ton zogen die Lettristen ihre Einwilligung zurück und mit Schimpfworten despektierlich über den Galeristen her:

443 "Die Welt als Labyrinth": 120.

444 "Die Welt als Labyrinth": 121.

445 Vgl. zum Zusammenhang den Artikel "Distanz wahren". In: Potlatch Nr. 19 April 1955: 122 – 128.

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Dutilleul, Du Dummkopf! Du bildest Dir ein, daß Deine Ausstellungen unter den von uns abgelehnten Bedingungen ablaufen könnten. Du zeigst so, wer Du bist. Rotznasen wie Du, die hoch hinaus wollen, müssen sich schon geschickter anstellen. Mit der Ausstellung wird es nichts.446

Vor dem Hintergrund dieser, mit dem Projekt von Amsterdam wiederaufgeführten Praxis der respektlosen Sabotage des Kunstbetriebs, enthält die Formulierung, dass die Versammlung der S.I. es ihren Mitgliedern freistellt, sich den "guten Willen" der Ausstellungsinstitutio ne n

"individuell zunutze zu machen", implizit die Gründe für den Ausschluss mehrerer Künstler aus der Organisation. Das Credo Debords vor der Gründung der S.I. erfuhr im Unitären Urbanismus eine zeitgemäße strategische Erweiterung. Dann im Juni 1959, nachdem das situationistische Labyrinth nicht zustandegekommen war, stellte Pinot-Gallizio im Stedelijk-Museum seine industrielle Malerei aus, die er dort bereits im Jahr zuvor gezeigt hatte. Die

"Situationistischen Nachrichten" in i.s. Nr. 5 vermeldeten seine Remission aus der S.I.. Galliz io und seinem Sohn Giors Melanotte wurden ihre Naivität und ihr Strebertum vorgehalten. Sie hätten sich dazu verführen lassen, mit "ideologisch unannehmbaren Kreisen"

zusammenzuarbeiten.447 Im Widerstand gegen die Nazis gewesen zu sein, wie das sowohl für Gallizio als auch für Sandberg galt, gewährleistete keinen ewigen Kredit, wenn man sich unter demokratischen Verhältnissen kompromittierte.

Der Anspruch an die Spezialisten der Kunst wurde nun deutlich angehoben. Die schwerfällige Mentalität der Künstler, die sich von der Arbeit an ihren Werken vereinnahmen ließen, stand im krassen Gegensatz zur theoretischen Schrittlänge der S.I.. Angesichts der jüngsten, aus seiner Sicht ernüchternden Erfahrungen gab jetzt vor allem Debord das Tempo und die richtige n Mittel vor.

6. Zwei Kunstfilme über Kunstüberwindung: Sur le passage de quelques personnes à