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Zwei Kunstfilme über Kunstüberwindung: Sur le passage de quelques personnes à travers une assez courte unité de temps und Critique de la séparation

III. NUR EIN ETAPPENZIEL: DIE ÜBERWINDUNG DER KUNST 1. Wiederbelebung der frühen Schriften

6. Zwei Kunstfilme über Kunstüberwindung: Sur le passage de quelques personnes à travers une assez courte unité de temps und Critique de la séparation

In dieser beträchtlich von Selbstreflexionen geprägten Phase der S.I. waren zwei Kurzfilme Debords, die mit der finanziellen Unterstützung Asger Jorns realisiert werden konnten,448 ein weiterer wichtiger Schritt, den Selbstausschluss der Organisation aus der selbstreferenzie lle n Ordnung des Kunst- und Kulturbetriebs zu vollziehen. Um die Unabhängigkeit der

446 Brief von Debord und Fillon an Dutilleul, Brüssel in: Potlatch Nr. 19: 127.

447 Vgl. "Situationistische Nachrichten" in: i.s. Nr. 5 – Dezember 1960: 164.

448 Asger Jorn verbirgt sich als Finanzier hinter der Dansk-Fransk- Experimentalfilmsko mpagni, die als Produzent der Filme auftritt. Vgl. die Filmographie in: Knabb, Ken. Guy Debord: Complete Cinematic Works:

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Situationisten, unter deren Bedingung ihre Ideen reifen sollten, zu bekräftigen, hatte Jorn eigens die sogenannte Dans Fransk Experimentalfilmskompagni gegründet, die als Produktions firma der Filme als eigenes transnationales Rechtssubjekt auftrat. Bücher und Magazine wurden im Selbstverlag veröffentlicht. Vorschriften und Einschränkungen von Galeristen und Museumsleitern waren kategorisch unannehmbar. Also mussten auch die filmisc he n Untersuchungen der eigenen Lebensumstände, des sozialen Milieus, der Umtriebe sowie globaler historischer Entwicklungsstränge und ihrer Rückwirkungen auf den alternative n Gruppenkosmos autark und kompromisslos vorangetrieben werden. Das Publikum der Kurzfilme war wohl überwiegend der Zirkel Gleichgesinnter, wenn auch die Menge der Mitwisser deutlich größer einzuschätzen ist als der eingeschränkte Empfängerkreis von Mémoires. Anders als bei Hurlements en faveur de Sade ist über zeitgenössische Vorführunge n der beiden Werke nichts bekannt. Einen weiteren öffentlichen Skandal aufs Parkett zu legen stand offensichtlich nicht im Vordergrund.

Erneut erinnert Debord, wie bereits in seinem Buch Mémoires, das im gleichen Jahr erschien wie sein zweiter Film, mit den mittlerweile schon erprobten Techniken der Zweckentfremd ung an die Geschichte jener jungen Menschen, die sich während der glorreichen frühen Tage in Saint Germain de Près herumgetrieben hatten. So verbindet er auf dem Gebiet des wichtigste n neuen künstlerischen Mediums des 20. Jahrhunderts die eigenen a-künstlerischen Anfänge dem fortgeschrittenen Stand der Debatten in der Situationistischen Internationale. Vor dem Hintergrund des angespannten soziopolitischen Klimas in Frankreich und offen zutage tretender Konflikte und Unruhen in anderen Nationen, sowie der internen Diskussionen um die Kunst, die Debord in den gegeneinander ausgespielten Elementen der Filme zu einer antithetischen Narration voller Inkongruenzen verknüpft, verstehen sich diese Produktionen und die theoriebildenden Texte in i.s. als komplementäre Statements. Mit dem strategisc he n Gewicht ihrer Aussagen sollten die Geschicke der S.I. in die von Debord vorgespurten Bahnen gelenkt werden.

Sur le passage de quelques personnes à travers une assez courte unité de temps

Die sperrige Länge des Titels von Debords nur knapp zwanzig Minuten dauernden Film Sur le passage de quelques personnes à travers une assez courte unité de temps (kurz: Sur le passage.

Deutsch: Über den Durchgang einiger Personen durch eine ziemlich kurze Zeiteinheit) von 1959 stellt einen ironischen Bezug zum reißerischen Titel seines Erstlingswerks her, dessen

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Versprechen sich in einer vierundzwanzigminütigen Dunkelheit verliert.449 Konnte man Hurlements en faveur de Sade, dessen erste Version im Vorspann sogar noch mit einige n Lautgedichten eingeleitet wird, als eine direkte filmische Antwort auf die Aktivitäten der Lettristen um Isou und Maurice Lemaître betrachten, so zieht auch Debords zweiter Film Bilanzen. Der Autor blickt darin auf die Aktivitäten der L.I. zurück, verdankt sich nochmals bei Isou, dessen zerknicktes Fotoporträt, auf welchem er dem jungen Elvis Presley so verblüffend ähnelt, kurz eingeblendet wird. Der überlange Titel impliziert den Reichtum, die Komplexität und Symptomatik des seinerzeit geführten Lebens, angesichts der kurzen Dauer dieser essenziellen Zeitspanne demonstrativer Untätigkeit. Was man aus dieser behaupteten Überfülle in die Zukunft mitnehmen sollte und konnte, stand aktuell im Mittelpunkt des Diskurses in der Situationistischen Internationale. Tondokumente der kontroversen Gespräche, die anlässlich der 3. Konferenz der S.I. in München 1959 gleichzeitig auf französisch, deutsch und italienisch geführt wurden, überlagern als polyphone Geräuschkulisse den Vorspann von Sur le passage. Ein Satzfetzen auf Französisch spricht die Problematik von Museumskunst an, deren angeblich kritischer Funktion Debord nun schon mehrere interne ‚Abfuhren‘ erteilt hatte.

Sein Kurzfilm kann insofern als Volte auf die stärkere künstlerische Ausrichtung der S.I.

betrachtet werden, wie sie für den ‚Cheftheoretiker‘ von Anfang an einen Rückschritt in der Sache darstellte.

Hinsichtlich der Bildverweigerung von Hurlements en faveur de Sade ist es bemerkenswert, dass Debord in Sur le passage von einer Vielzahl entwendeter Bilder Gebrauch macht. Eine Fotografie aus der Entstehungszeit des Kurzfilms zeigt ihn in Gedanken versunken neben einem hohen Stapel Filmrollen sitzend, welche zur Ausschlachtung bereitlagen (Abb. 49).

49 Debord sinniert an gestapelten Filmrollen.

449 Ein weiterer formaler Bezug zu Hurlements en faveur de Sade sind verschiedene Sequenzen weißer Leinwand. Die letzte dieser Sequenzen ist sogar noch 20 Sekunden nachdem das letzte Wort des Films verstummt ist zu sehen.

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Ein weiteres Fotodokument gewährt einen Einblick ins Filmstudio während des Tonschnitts und zeigt die verwendeten technischen Geräte.450 Die visuellen Zitate im fertigen Film stammen aus Werbefilmen und Wochenschauen, die damals im Kino vor und zwischen den Spielfilme n gezeigt wurden. Selbstgedrehte Filmaufnahmen von ausgewählten Pariser Schauplätzen sowie private Fotografien ergänzen das Repertoire. Etwa zur Hälfte des Films werden kurz hintereinander vier verschiedene Texttafeln - das Skript spricht von ‚geschriebenen Zetteln‘ - eingeblendet, die sich inhaltlich auf die schwankenden Gemütslagen der Menschen auf der Straße und in den Cafés beziehen.451 Der Stimmungswechsel wird von Zeit zu Zeit auch durch den Einsatz musikalischer Leitmotive angezeigt und unterstützt. Je zwei Mal setzen ein 'feierliches Motiv' aus Georg Friedrich Händels Abenteuer und ein von einem Fagott gespieltes 'edles und tragisches' Motiv von Michel-Richard Delalande ein und entfalten ihre höchst gegensätzliche klangliche Wirkung. Jedem im Kommentar auf der Tonspur angesprochene n Thema korrespondiert eine Auswahl von Sequenzen der diversen audiovisuellen Genres.

Debord bricht mindestens in zweierlei Hinsicht mit den Standards von Dokumentarfilmen und Kinonachrichten. Zum einen kommen gleich drei Sprecher zum Einsatz: ein Ansager (Jean Harnois), eine zweite Männerstimme (Debord selbst), sowie eine noch mädchenha fte Frauenstimme (Claude Brabant). Der Vortragston schwankt zwischen der Monotonie nüchterner Deskription und bedrückteren Seelenlagen. Zum anderen handeln die rezitierte n zweckentfremdeten Texte von dem kleinen Team der Situationisten, das den Film gemacht hat.452 Es geht also um die Gruppenidentität aus der Sicht ihrer Mitglieder. Gefiltert durch die Autorität des Filmemachers, der Dokumente aus seinem personalen Umfeld vor der Kamera arrangiert und ausbreitet. Die Erzählperspektive des Films ist die erste Person Plural, welche das eigene Milieu als dritte Person verhandelt. Schon in den ersten Minuten des Werks sieht man miteinander redende und trinkende junge Leute um Tische eines Cafés im Quartier Latin herumsitzen. "Hier einige, von unserem Objektiv für Sie aufgeschnappte Aspekte einer provisorischen Mikrogesellschaft", so der Wortlaut, welcher den Stil einer soziologisc h angehauchten Reportage imitiert. Und weiter:

Diese Gruppe stand am Rand der Ökonomie. Sie strebte eine Rolle des reinen Konsums an und zunächst des freien Konsums ihrer eigenen Zeit. Damit befand sie sich in der Lage, sich direkt mit den qualitativen Änderungen des Alltäglichen zu beschäftigen, allerdings ohne irgendein Interventionsmittel zu besitzen. Das Feld, in dem diese Gruppe sich bewegte, war sehr

450 Vgl. Abb.en S. 27 und S. 29 im Begleitheft der DVD-Edition des filmischen Gesamtwerks Autour des films (documents).

451 Z.B. "dans le PRESTIGIEUX DÉCOR édifié spécialement a cet usage". Filmstill in Gegen den Film: 86.

452 Die offizielle Filmographie der Œuvres Complètes führt insgesamt neun beteiligte Personen in ihren Funktionen auf. Vgl. S XX.

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beschränkt. Diesselben Stunden führten zu denselben Orten zurück. Niemand wollte früh schlafen gehen. Die Diskussion über den Sinn des Ganzen ging weiter ...453

50 Personal und Weinlachen im Film.

Auf einem Standbild sind im Uhrzeigersinn Michèle Bernstein, Asger Jorn und Guy Debord zu identifizieren. Der Mann im hellen Strickpullover umarmt vertraulich eine kurzhaarige junge Frau, welche mit verschleiertem Augen in Richtung des Objektivs oder Suchers schaut. Indem der Blick der Kamera, der zwischen Totale und Nahsicht auf diese Fotografie wechselt, die private Aufnahme wie wichtiges historisches Quellenmaterial genauestens untersucht, trägt die filmische Dokumentation zur Erschaffung einer Gruppenmythologie bei. Unentschieden bleibt, ob das Abtasten des Dokuments mehr eine wissenschaftliche Untersuchung desselben ist oder ein zärtliches Streicheln des Erinnerungsstückes. Das Foto hält eine symptomatische Szenerie fest. Der forensische Blick der Kamera, welcher sekundenlang auf einzelnen Bilddetails verweilt um ihre Bedeutung herauszupräparieren, ist eben auch ein zuneigungsvoller Blick des Filmemachers auf sich, seine Freunde und Affären. Durch die unterlegte Musik, an dieser Stelle Motive aus Händels Abenteuer, verstärkt sich eine glorifizierende Wirkung der gezeigte n Dokumente von den ewigen Diskussionen in den Bars. Weitere längere Nahaufnahmen zeigen die Gesichter Jorns und Debords - Helden der Handlung als auch die Strippenzieher hinter den zentralen Aktionen und Werken der Internationale. Der Franzose mit der Nickelbrille hält eine fast aufgerauchte brennende Zigarette in der linken Hand, welche sodann in einer Detailaufnahme nochmals vergrößert wird. Vergleichbar der Zigarre, die er als Ausweis seines geistigen Brandstiftertums auf dem oben besprochenen Porträtfoto in i.s. Nr. 2 zwischen den Fingern hat, mag die Zigarettenlänge hier auch für das Verstreichen von Zeit stehen. Der

453 Debord. "Über den Durchgang...". In: Gegen den Film: 43 - 47.

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Konsum einer Zigarette gibt eine Zeiteinheit vor. Zählt man Zigarettenstummel in einem Aschenbecher, wie er im Foto mittig auf dem Tisch steht, und dividiert sie durch die Zahl der anwesenden Personen, weiß man nicht nur, dass der Abend lang war sondern mutmaßt auch, dass recht interessante Gespräche geführt wurden. Die ‚theoretische Perspektive‘, in welche Debord die Unbekannte zu seiner Rechten einzuweihen scheint, wird mit eben diesem Bild als eine logische Entwicklung der Diskussion, wie mit der noch weitgehend unkategorisier te n Abenteuererfahrung der lettristischen Jahre zu verfahren ist, evident. Pariser Alltag, seine ineinander verwobenen Mikrogeschichten und allgemeinverständliche Nachtlebensymbo lik, sind die Keime aus denen Größeres wachsen soll.

Die Klammer dieser Aufnahmen bilden Einstellungen auf Häuserfassaden des 5. Pariser Bezirks im Jahr „1952“, wie ein prominent großer Untertitel dieser Aufnahmen klarmacht.

„JUIN 1952“ ist das erste Kapitel von Mémoires überschrieben, welches die Erfahrungsdic hte noch weiter komprimiert. Im Film gezeigt wird ein Stadtviertel, das zu jener Zeit von kleinbürgerlichen Wertvorstellungen seiner angestammten Einwohner aber auch von einem internationalen intellektuellen Tourismus geprägt war.454 Auf Dauer scheinen solche Gegensätze der Lebensführung und Erwartungshaltungen unvereinbar zu sein. In einer Rückblende auf diese Zeitspanne kommuniziert Debord mittels seiner Erinnerungen, die er einem bildkritischen Kommentar unterzieht. Die eingesprochenen Anmerkungen erweitern den Zusammenhang des Gesehenen. Das Thema des Films setzt mit dem Zweifel an der herrschenden Auffassung vom Glück ein. Es entwickelt sich zu einer Geschichte vom Vergessen und von der Freiheit. Ablehnung von Lohnarbeit und die leidenschaftliche Liebe zum Sich-Verlieren sind die beiden zentralen Komponenten des Projekts subversiver Zeitbeherrschung. In der Praxis der Lettristen verbanden sie sich im stundenla nge n Umherschweifen durch das Labyrinth der Großstadt. Eine der folgenden Sequenzen zeigt das nächtliche Markttreiben im Pariser Stadtzentrum, sowie die "Hallen" (Les Halles) in der Morgendämmerung.455 Durch den Kommentar, der wiederholt den Gesang der Schweizer Garde vom 'Leben als Reise durch den Winter und durch die Nacht' deklamiert,456 verwandeln sich die Arkaden der das Marktareal umstehenden Gebäude suggestiv in sinistre Passagen.

Auch mit den schmalen Gassen zwischen den zu pittoresken Türmen gestapelten Kisten und

454 Vgl. Kommentar. Gegen den Film: 37.

455 Der Historiker Stephen Hastings-King merkt an, dass es sich um gefilmte psychogeographische Experimente im Hallenviertel handelt, welche die wichtigste Grundlage des Films darstellen. Vgl. Hastings -King. "Über den Durchgang einiger Personen durch eine ziemlich kurze Zeiteinheit: Die Situationistische Internationale, Socialisme ou Barbarie und die Krise des marxistischen Imaginären". In: Ohrt, Roberto. Das Große Spiel: Die Situationisten zwischen Politik und Kunst. Hamburg. Edition Nautilus Verlag Lutz Schulenburg, 1999: 74.

456 Vgl. auch Debord. Mémoires (M 17).

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Behältern der Lebensmittelhändler verbindet man assoziativ jene abenteuerlichen Wege, welche die Lettristen und Situationisten auf der Suche nach einem "Durchgang" in der Stadt einschlugen.457

Debord zieht mit seinem zweiten Film eine weitere Summe, welche die Euphorie des letzten Kapitels seiner Mémoires melancholisch dämpft. Fortschritte in der Praxis und Rückbesinnung sind Teile der gleichen Geschichte. Ausgerechnet mittels der entwendeten Sequenzen eines 'Kunstfilms' wird das Ende der Kunst propagiert. Die Kunst zu einem Ende zu führen, darin bestand der Grundkonsens der Internationalen Lettristen, die sich mit ihrer Version des alltäglichen Lebens in der Stadt, welches sich jenseits der bürgerlichen Wertordnung und stereotypen Ambitionen abspielte, gegen eine allzu voraussehbare Zukunft stemmten.

Wir wollen diese Konditionierung verlassen, auf der Suche nach einem anderen Gebrauch der städtischen Landschaft, nach neuen Leidenschaften. Die Stimmung einiger Orte ließ uns die zukünftige Macht einer Architektur empfinden, die man schaffen müssen würde, um Tragfläc he und Rahmen weniger mittelmäßiger Spiele zu sein. Wir konnten nichts von dem erwarten, was wir nicht selbst verändert haben würden. Die städtische Umwelt verkündete die Befehle und Geschmacksrichtungen der herrschenden Gesellschaft genauso gewaltsam wie die Zeitungen.458

Da alles miteinander zusammenhing, sollte in einem einheitlichen Kampf alles verändert werden. Was abgeschafft werden sollte bestand allerdings weiter und damit auch der Verschleiß. "Man zerreibt uns. Man trennt uns. Die Jahre vergehen und wir haben nichts verändert."459

Der Angriff auf die Kunst, der durch die notwendig gewordene Gründung der S.I. Fahrt aufgenommen hatte, wird im Bewusstsein reflektiert, kaum jener Aporie der Avantgarde entgehen zu können, die Werklosigkeit propagiert und doch nicht auf eine Repräsentation und Bebilderung der eigenen Position verzichten kann. Das Team um Debord, das in einer Einstellung bei Außenaufnahmen zu sehen ist, macht also einen per Einsicht und Dekret misslungenen Film. Die enttäuschende Realität des Films, ein Verdikt, das stellvertretend für das ganze Medium, das Kino und die Filmwirtschaft steht, ist den Enttäuschungen der von ihm behandelten Wirklichkeit äquivalent.460 Angesichts dieser sinnfälligen Parallele eröffnet Debord die ikonoklastische Intervention in das spektakulär kolonisierte Alltagsleben. Mit den

457 Vgl. Debord, Guy. Gegen den Film: Abb. S. 85.

458 Debord. "Über den Durchgang ..." . In: Debord. Gegen den Film: 63 - 65.

459 Debord. "Über den Durchgang ...". In: Gegen den Film: 73 - 74.

460 Vgl. Debord. "Über den Durchgang ...": 75 - 76.

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Monologen auf der Tonspur und den Bildern des im Verschwinden begriffenen-, von ihm innig geliebten Paris arbeitet er einer Praxis des Spurenverfalls zu. Bereit das zu opfern, was er über alles schätzt und erinnernd hochhält indem er mit der Kamera darüberfährt oder generell die Kamera durch Paris fahren lässt. In einem der Travellings des Films bewegt sich der Kameramann André Mrugalski von einer Buchhandlung zum Zentrum eines Platzes vor. Hier streift das Objektiv ein Denkmal aus dem späten 19. Jahrhundert, von dem es unzählige im Stadtgebiet gibt. Debords Sympathie bleibt nicht lange an einem einzelnen Objekt haften. Die Kameraführung imitiert die flatterhaft suchenden Bewegungen der Lettristen durch solche begrenzten Raumeinheiten, deren Erfahrungsvielfalt und Heterogenität veranschaulicht wird.

Der Filmemacher wendet sich gegen jede Manifestation, welche einen rein selbstbezüglic he n, konservierenden und kontemplativ-wirksamen Werkcharakter beansprucht. Das ist insofern paradox, da er in seiner Untersuchung von einer Gruppierung als einem selbstbezüglic he n Mikrosystem ausgeht, welches sich erstmal weitgehend von seiner Umwelt abgrenzt und sich so annähernd stabilisieren kann. Als System gewinnt es dadurch an Beständigkeit und ermöglicht erst Systembildung und eine wenn auch zunächst verschwomme ne Gruppenidentität. Bleiben diese selbstreferenziellen Systeme jedoch operational geschlossen und beziehen sich weiterhin vorrangig auf sich selbst, so greifen sie nicht ausreichend in ihre Umwelt aus. In diesem Fall sind oder wären sie gesellschaftlich irrelevant – so wie reine Künstlergruppen. Sie sind dann historisch so unbedeutend wie ein Milieu, welches sich selbst in einem Film spielt und damit Schaulustige am Filmset anlockt, die lieber einer Vorführung junger Trinker und Lebemenschen beiwohnen, statt selbst zu agieren, zu driften oder sich zusammenzuschließen.

Das distanzierte Verhältnis eines Gaffers hat der Zuschauer auch gegenüber den wiederholt eingesetzten Wochenschauberichten über Aufstände und Demonstrationen in Großbritannie n, dem Iran, Japan und Algerien. Krawalle in diesen Ländern werden jeweils mit brutaler polizeilicher oder militärischer Gegengewalt, mit Knüppeln und Tränengas beantwortet. Ein dringliches Gefühl, Position zu beziehen oder mitzumischen, welches die plötzlic he Unmittelbarkeit dieser Szenen im ansonsten ruhigen Bilderfluss auslöst, wird durch die Kontemplationshaltung gegenüber Kinobildern konterkariert. Im Kino wartet man gespannt auf den Hauptfilm. Man ist gekommen um der Wirklichkeit für eine gewisse Zeitspanne zu entkommen. Nicht um sich zu engagieren oder enragieren zu lassen.

Ein einprägsames, deshalb von Debord in dieser Phase so häufig gebrauchtes Bild für die fortschreitende qualitative Regression des Alltagslebens sind die großen Stapel seriell

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produzierter Baumaterialien, die sich an den Ufern der Seine auftürmen. Auf den alten, abgetretenen Pflastersteinen ausgerechnet des Quai Saint-Bernard lagern bereits die vorfabrizierten Elemente, aus denen jene Gebäude und Verkehrswege entstehen sollten, welche die Stadtgestalt und Infrastruktur von Paris modernisieren würden. Auf einer Aufnahme wirken die gestapelten Hohlblocksteine wie eine dystopische Vorwegnahme der Behälterarchitekture n, mit der die Stadtränder der Metropole dann tatsächlich bebaut wurden. Das geschichtslose Leben an der Banlieue wird zum Muster für die vereinheitlichende Umgestaltung des Zentrums mit all seinen schönen Ortsnamen, die dann aber keine Erfahrungsvielfalt mehr generiere n helfen.

Das einzig interessante Unternehmen ist die Befreiung des alltäglichen Lebens, nicht nur in der Perspektive der Geschichte, sondern auch für uns und sofort. Das geht durch das Absterben der entfremdeten Form der Kommunikation. Auch der Film muß zerstört werden.461

Debord sieht im Film das Transportmedium eines elenden Bedürfnisses, das sich im imaginäre n Leinwandleben des Stars, der eine modular zusammengefügte Projektionsfigur eines solchen Mangels ist, verkörpert.462 Die Bilder der Pausenwerbung, wie sie bei Kinovorführunge n damals üblich war - zu sehen ist wiederholt das Starlet einer Seifenwerbung (Abb. 51: Anna Karina)463 für die Marke Monsavon - intensivieren manipulativ das Bedürfnis nach einer Pause im Leben, die es dem passiven Publikum zu füllen gilt im Konsum der dargebotenen Produkte und Bilder. Die Seife ist ein fast so perfider Fetisch wie das Geld. Der Seifenbarren wird vom dienstleistenden weiblichen Modell dafür angepriesen, das sein Extrakt in dem Moment am angenehmsten umschmeichelt, da das Objekt selbst im Begriff ist, sich in Schaum aufzulösen.

51 Anna Karina & Monsavon in Debords Kurzfilm.

461 Debord. "Über den Durchgang ...": 78 - 79.

462 Vgl. Kommentar in: Debord. "Über den Durchgang ...": 79 - 81.

463 Anna Karina arbeitete wenige Jahre später erfolgreich als Schauspielerin vor allem in den Filmen ihres späteren Ehemanns Jean-Luc Godard, mit dem sie von 1961 bis 1965 verheiratet war. Filme: Une Femme est une Femme (1961), Vivre sa Vie (1962) und Bande a part (1964).

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Diese wohlige, dann abrupt in Enttäuschung umschlagende Erfahrung verlangt nach permanenter Wiederholung. Das Happy-End-Konstrukt eines Films wirkt vergleichbar auf ein verhaltensgesteuertes Publikum. Der Star und die Seife sind die perfekten Konsumgüter, die einen in den immer enger werdenden Kreislauf von Eskapismus, Enttäuschung und Begehren einspannen. Ein Werbefilm ist die professionell bereitete Bühne für den dramaturgisc he n

Diese wohlige, dann abrupt in Enttäuschung umschlagende Erfahrung verlangt nach permanenter Wiederholung. Das Happy-End-Konstrukt eines Films wirkt vergleichbar auf ein verhaltensgesteuertes Publikum. Der Star und die Seife sind die perfekten Konsumgüter, die einen in den immer enger werdenden Kreislauf von Eskapismus, Enttäuschung und Begehren einspannen. Ein Werbefilm ist die professionell bereitete Bühne für den dramaturgisc he n