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5. DISKUSSION

5.3 D ISKUSSION DER E RGEBNISSE

5.3.2 Faktoren für die Entstehung der Appetenzstörung der Frau

5.3.2.3 Sexueller Appetenzverlust als schleichender Verlauf

Bei den 20% der Frauen, die keine veränderte Lebenssituation als Auslöser nannten, wurde im Interview nach frustrierten Bedürfnisse oder Interaktionen geforscht, die den schleichenden Verlauf des Appetenzverlustes mit bedingt haben könnten. Auffällig war, dass nur junge Paare mit einer Beziehungsdauer von fünf bis zehn Jahren ohne Kinder einen schleichenden Verlauf benannten (vgl. Kap. 4.3.3).

Durch die vielen verschiedenen Aussagen der Frauen und ihrer Partner ergab sich die Möglichkeit, verschiedene nicht ausgesprochene „Dialoge der Paare“

herauszukristallisieren, um die Bedingungen der Appetenzstörung verständlicher zu machen. Es soll an dieser Stelle dem dynamischen Aspekt der Entwicklung der Appetenzstörung besondere Beachtung geschenkt werden.

Bei dem Versuch der Erklärung des schleichenden Verlaufes der Appetenzstörung erscheint es notwendig, auf die meistens bestehenden Geschlechterunterschiede im sexuellen Begehren und ihre Auswirkungen auf die partnerschaftliche Dynamik einzugehen.

Untersuchungen an prämenopausalen und gesunden Frauen haben ergeben, dass nur 63% der Frauen im Vergleich zu 83% der Männer Sexualität als sehr bis deutlich wichtig bewerten (Hartmann et al., 2002). Ein geschlechtsspezifischer

Unterschied ist bereits deutlich sichtbar. 50% der Frauen mit Appetenzstörung berichten in dieser Studie genau das Gegenteil. Für sie ist Sexualität nur mäßig wichtig. Nur 30% der Frauen mit hoher und 20% der Frauen mit geringer Partnerschaftszufriedenheit empfinden ihre Sexualität als sehr wichtig.

Weiterhin zeigte sich in dieser Studie folgerichtig, dass über 80% der Frauen unabhängig von der Partnerschaftszufriedenheit seltener Lust erleben als ihre Partner. Bei Frauen in einer zufriedenstellenden Partnerschaft berichten 10% der Frauen, dass sie ähnlich häufig an der Sexualität interessiert sind wie ihr Partner.

Über die Hälfte der Frauen (60%) versucht jedoch unabhängig von der Partnerschaftszufriedenheit sexuellen Situationen aus dem Wege zu gehen.

Es zeigte sich, dass bei unterschiedlichen Bedürfnissen im sexuellen Begehren die Paare herausgefordert sind, in eine Kommunikation über die Unterschiedlichkeiten zu treten, Verständnis dafür aufzubringen und Wege der gemeinsamen Bedürfniserfüllung zu finden. Wenn dem Paar diese Kommunikation nicht gut gelingt, fühlen sich beide voneinander nicht angenommen und verstanden und in ihrem Selbstwertgefühl als erotische Frau oder als erotischer Mann geschwächt. Es finden auf beiden Seiten entweder eine Verteidigung des erotischen Selbstwertes oder ein Rückzug aus der emotionalen Intimität statt. Dies führt zu einer Verringerung der Partnerschaftszufriedenheit und bei der Frau langfristig auch zu einem verstärkten sexuellen Desinteresse. Es kommt zu einem Teufelskreis, der später noch ausführlicher beschrieben wird (siehe Abb. 18, Kapitel 5.3.6).

Diese Annahme unterstreicht ein Ergebnis von McCarthy und McCarthy (2003), welche berichten, dass Enttäuschungen und Kränkungen in der Sexualität einer der wichtigsten Faktoren für eine geringe sexuelle Appetenz bei Frauen darstellen können. Kleinplatz (2011) erwähnt in einem wissenschaftlichen Kommentar, dass der häufigste Verlauf der schleichende Verlauf beim sexuellen Appetenzverlust sei und oft mit einer Verringerung der Qualität der Sexualität einhergehe. Die Teufelsspirale enthält zunächst mehr Episoden von mittelmäßiger Sexualität, die ihrerseits zu einer geringeren Erregung der Frau während der sexuellen Intimität führen und letztlich in einer geringen sexuellen Zufriedenheit münden.

In den geführten Interviews wurde ebenfalls deutlich, dass die folgenden unterschiedlichen nicht befriedigten Bedürfnisse eine zentrale Bedeutung für den

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schleichenden Verlauf des Appetenzverlustes haben. Die am häufigsten vorgefundenen zirkulären Prozesse zu den unbefriedigten Bedürfnissen, die die Paare unabhängig voneinander in den Interviews äußerten, sind zum Zwecke der Anschaulichkeit zusätzlich in Dialogform dargestellt und sollen den Kern der Botschaft des Paares verdeutlichen. Die frustrierten Bedürfnisse resultieren aus ungelösten Konflikten in sexuellen Vorlieben, im Wunsch nach der Häufigkeit des sexuellen Kontaktes, im Wunsch nach Zärtlichkeit im Vergleich zu Sexualität und fehlender Wertschätzung seitens des Mannes und Unwissenheit über sexuelle Bedürfnisse seitens der Frau.

Dialog I: Unterschiedliche sexuelle Bedürfnisse und Vorlieben

Frau: „Deine Art mit mir umzugehen und deine Sexualität gefallen mir nicht. Ich traue mich aber nicht, Dich darauf anzusprechen. Deshalb verweigere ich dir meine Sexualität.“

Mann: „Wenn Du mir meine Sexualität verweigerst, fordere ich sie stetig ein.“

Frau: „Wenn Du stetig an mir „pickst“, dann fühle ich mich bedrängt und habe erst recht keine Lust auf Sexualität.“

Mann: „Du ziehst dich immer mehr zurück. Ich bin gekränkt. Was hast du bloß?“

Viele Frauen fühlten sich durch die erotische Vorgehensweise ihres Partners nicht ausreichend sexuell erregt. Aufgrund von Scham-, Schuldgefühlen, Angst vor Zurückweisung, Kränkungsgefühlen oder ähnlichen Gefühlen sprachen sie dieses Dilemma jedoch nicht an und zogen sich nach mehreren frustrierenden, wenig lustvollen, sexuellen Erfahrungen aus der partnerschaftlichen Sexualität zurück oder machten bei dieser lustlos mit.

Diejenigen Frauen, die ihre Vorlieben äußerten, erlebten manchmal wenig Verständnis, Einfühlung oder erotische Fertigkeiten seitens ihres Partners und zogen sich dann zurück oder machten lustlos mit.

Bei manchen Paaren waren die erotischen Vorlieben so unterschiedlich, dass eine oder einer des Paares sich aus seiner gewohnten sexuellen Zone hätte heraus bewegen müssen, um auszuprobieren, ob die erotischen unvertrauten Spielarten

trotz erster Widerstände doch ein Teil des persönlichen Spielraumes hätten werden können.

Dialog II: Unterschiedliche Häufigkeit der sexuellen Initiative

Frau: „Du lässt mir keinen Raum, meine Sexualität zu gestalten, weil du dein sexuelles Bedürfnis immer früher äußerst als ich. Deshalb verweigere ich dir meine Sexualität.“

Mann: „Für mich hat Sexualität eine andere Bedeutung als für dich. Wenn ich mich nicht um unsere Sexualität kümmere, dann haben wir gar keine mehr.“

Viele Frauen berichteten, dass ihr Partner ein häufigeres Bedürfnis nach sexuellem Kontakt und Intimverkehr habe als sie selbst. Dieser Unterschied konnte, auch wenn die Frequenz des Wunsches nur geringfügig abweichte, folgende Wirkung entfalten.

Der Mann war in die Position des Initiators, des Fragenden, des Bedürftigen oder des Wollenden gegangen und fühlte sich entweder von dem sexuellen Rhythmus der Frau abhängig, empfand sich als drängelnd, wenig beschenkt oder in der Rolle des erotischen Mannes nicht gewollt. Die Frau in ihrer Position fühlte sich bedrängt und in ihrem sexuellen Rhythmus nicht angenommen. Auch hieraus resultierte ein emotionaler Rückzug der Frau oder die Zurückweisung des Partners.

Dialog III: Bedürfnis nach Nähe und Zärtlichkeit vs Sexualität

Frau: „Ich möchte mit Dir häufiger nur Zärtlichkeit leben. Das zeigt mir deine Liebe zu mir und erhält mein Begehren.“

Mann: „Bei der Zärtlichkeit steigert sich mein Begehren, und ich kann und möchte es dann nicht stoppen. Das ist zu frustrierend und deshalb lasse ich die Initiative lieber gleich sein.“

Manche Frauen wünschten sich im Alltag mehr Zärtlichkeit und emotionale Zuwendung und sanftere Übergänge von Zärtlichkeit zu Sexualität oder auch mal nur Zärtlichkeit ohne einen Übergang in den Intimverkehr. Für die Partner bedeutete dies oft eine Herausforderung, in dem Modus der Zärtlichkeit zu bleiben. Die meisten beschrieben ein aufkommendes starkes sexuelles Verlangen nach

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Intimverkehr, welches durch den zärtlichen Kontakt entstanden war und aufgrund der wenigen gemeinsamen Sexualität am Ende des Kontaktes eine Frustration ihres Bedürfnisses nach Sexualität.

Dialog IV: Bedürfnis nach mehr Wertschätzung seitens der Frau

Frau: „Ich wünsche mir von dir mehr Wertschätzung in der alltäglichen Partnerschaft. Wenn ich diese nicht bekomme, dann sinkt mein Begehren, und ich kann mich nicht auf sexuelle Begegnungen mit Dir einlassen.“

Mann: „Partnerschaft ist das eine und Sexualität ist das andere. Für mich liegt der Partnerschaftskonflikt häufiger als bei dir außerhalb der Sexualität. Ich kann nicht verstehen, dass du mit mir Sexualität nicht leben willst“

Viele Frauen, insbesondere Mütter und langjährige „Haushaltsmanagerinnen“, berichteten, dass sie sich von ihrem Partner für das, was sie täglich geleistet hatten, nicht ausreichend wertgeschätzt fühlten. Diese langandauernde Kränkungssituation bildete den Boden für einen nicht gelösten Partnerschaftskonflikt, der sich bei den Frauen in eine Hemmung in der Sexualität umsetzte.

Dialog V: Unwissenheit über sexuelle Wünsche seitens der Frau

Frau: „Ich kenne meine sexuellen Wünsche nicht. Die Beschäftigung mit Sexualität ist mir unangenehm und peinlich und anstrengend.“

Mann: „Ich weiß nicht, was du brauchst, wenn du es mir nicht sagst. Wenn ich von Dir häufig enttäuscht werde bzw. eine Abwendung erfahre, ziehe ich mich hilflos zurück.“

Ein Teil der Frauen war sehr scheu, ängstlich, vorsichtig oder beschämt in der Auseinandersetzung mit ihren eigenen sexuellen Bedürfnissen und Vorlieben und traute sich nicht, sich über beispielsweise erotische Literatur oder auch Gespräche mit ihrem Partner den eigenen erotischen Phantasien und Wünschen zu nähern und diese auszuprobieren. Sie fühlten eine zu große emotionale Hemmschwelle. Aus Angst vor der Auseinandersetzung mit sich selbst und den Reaktionen ihres

Partners zogen sie sich zurück und gaben dem Partner dadurch keine Hinweise, was sie eigentlich brauchten, um von ihm sexuell erregt und befriedigt zu werden.

5.3.2.4 Depressive Symptomatik

20% der Frauen (N=7) litten an einer leichten bis mittelgradigen depressiven Episode. Die Mehrzahl dieser Frauen (N=5) befand sich in einer Partnerschaft mit geringer Zufriedenheit. Die meisten der Frauen mit Appetenzstörung hatten jedoch keine depressive Episode, so dass davon ausgegangen werden kann, dass die