• Keine Ergebnisse gefunden

5. DISKUSSION

5.3 D ISKUSSION DER E RGEBNISSE

5.3.2 Faktoren für die Entstehung der Appetenzstörung der Frau

5.3.2.1 Sexualität zu Beginn der Partnerschaft

Fast 50% der Frauen mit einer hohen Partnerschaftszufriedenheit und sogar 75%

der Frauen mit einer geringen Partnerschaftszufriedenheit beschreiben ihre Sexualität zu Beginn der Partnerschaft als leidenschaftlich (s. Abb. 16, Kap. 4.3).

Bei einem Großteil der Frauen in beiden Gruppen kann daher nicht davon ausgegangen werden, dass die Appetenzstörung überwiegend durch den unangenehmen Einstieg in die Sexualität verursacht wurde. Ausgenommen davon sind die 20% der Frauen mit einer primären Appetenzstörung (Frauen, die sexuelles Begehren seit den ersten sexuellen Kontakten nicht erlebt haben), die ihre Sexualität auch zu Beginn einer neuen Partnerschaft nicht als leidenschaftlich erleben. Sie bilden vermutlich den verbleibenden Prozentsatz der Frauen mit einer geringen Partnerschaftszufriedenheit neben den oben genannten 76,5% der

5. DISKUSSION

Frauen. Den Einfluss der primären Appetenzstörung auf die Aufrechterhaltung der Partnerschaftszufriedenheit wird im nächsten Kapitel aufgegriffen.

Den Ergebnissen nach zu urteilen, erleben die oben genannten 50-76,5% der Paare im Rückblick unabhängig von der aktuellen Partnerschaftszufriedenheit ihre Sexualität häufig als leidenschaftlich. Der Einstieg in die Sexualität ist noch ungetrübt von partnerschaftlichen Konflikten oder herausfordernden Lebensereignissen und Stresssituationen und getragen von der Verliebtheit und der Neugierde.

Spannend erscheint die Erklärung des hohen Prozentsatzes (76,5%) der aktuell unzufriedenen Frauen, die ihre Sexualität im Rückblick für den Beginn der Partnerschaft als leidenschaftlich bezeichnen. Mehrere Erklärungen könnten zutreffend sein: 1. es besteht eine positiv verzerrte Wahrnehmung der Qualität der Sexualität zu Beginn der Partnerschaft, 2. der Einfluss der oben erwähnten zwanghaften, passiv-aggressiven und negativistischen Persönlichkeits-akzentuierung hat die Frauen daran gehindert, die Anforderungen von Lebenssituationen oder Partnerschaftsthemen im Verlauf der Partnerschaft ausreichend zu bewältigen und ihre Sexualität lustvoll zu gestalten, 3. Paare, die zu Beginn leidenschaftlich einsteigen, bemühen sich weniger um den Erhalt ihrer Leidenschaft, weil sie diese zu Beginn als selbstverständlich und gegeben angesehen haben und 4. die Kategorie leidenschaftlich ist im Interview zu grob beschrieben und erfasst die Nuancen der Qualität der Sexualität zu Beginn nicht differenziert genug.

Wie ist jedoch das Ergebnis der 50% der aktuell zufriedenen Frauen zu erklären, die ihre Sexualität zu Beginn als „zufriedenstellend“ oder „wenig umwerfend“ erlebt haben? Wie konnten diese Frauen ihre Partnerschaftszufriedenheit erhalten?

Folgende Erklärungen bieten sich hierzu an:

1. Die Sexualität hatte von Anfang an einen geringen Einfluss auf die Partnerschaftszufriedenheit. Andere partnerschaftliche Aspekte spielten eine wichtigere Rolle.

2. Die Frauen gehen aufgrund der weniger zwanghaften, selbstunsicheren Persönlichkeitszüge entspannter mit der Situation um, so dass das Symptom

nicht so einen großen Raum einnehmen kann und auch für den Partner andere Aspekte in den Vordergrund treten.

3. Die Partner gehen auf eine verständnisvollere Weise mit der Situation um.

Es scheint so zu sein, dass der Umgang mit dem Symptom der Appetenzstörung entscheidend für den Erhalt der partnerschaftlichen Zufriedenheit ist.

5.3.2.2 Sexueller Appetenzverlust durch bestimmte Lebenssituationen

Die Hälfte der Frauen mit sexueller Appetenzstörung nennen unabhängig von der Partnerschaftszufriedenheit als Beginn für die Appetenzstörung das Auftreten einer bestimmten Lebenssituation (s. Tab. 13, Kap. 4.3). Die meisten der Frauen in einer zufriedenstellenden Partnerschaft nennen entweder beruflichen Stress (17,6%) oder die Existenz von Kindern (29,4%), wohingegen Frauen in einer nicht zufriedenstellenden Partnerschaft eher die Schwangerschaft und die Geburt von Kindern erwähnen (52,9%).

Über 20% der Frauen in der Gruppe der geringen Partnerschaftszufriedenheit bringen entweder eine bereits bestehende sexuelle Symptomatik in die Partnerschaft mit ein oder entwickeln sie kurz nach Beziehungsbeginn. 20% der Frauen der Gesamtgruppe nennen einen schleichenden Verlauf, so dass fast 50%

der Frauen der Gesamtgruppe keine Auslöser nennen.

Für die 50% der Frauen, die einen Auslöser nennen, ist es in den überwiegenden Fällen der nicht gelungene Umgang mit den Folgen der Familiengründung. Vielen Frauen fällt die Erfüllung der mit der Familienentstehung verbundenen verschiedenen Rollenerwartungen schwer. Es besteht für alle Frauen nach der Geburt des Kindes die Aufgabe, die Rolle der Mutter einzunehmen, die Rolle der Partnerin weiter belebt zu halten, die berufliche Rolle loszulassen oder wiederzubeleben und die Rolle der erotischen Frau wieder zu entdecken. Dies ist eine Vielzahl von Aufgaben, mit denen das Paar zumeist alleine gelassen wird und mit deren Risiken die meisten nicht bewusst umgehen. Ein weiterer genannter Auslöser der Appetenzstörung sind berufliche Überforderungssituationen.

Man kann davon ausgehen, dass die oben genannten Lebenssituationen ihrerseits

5. DISKUSSION

Wut-, Kränkungsgefühle oder Erschöpfung. Diese Gefühle wirken der sexuellen Lust entgegen. Wenn wir Studienergebnissen von Bodenmann (1996) folgen, dann hat Stress einen direkten und indirekten Einfluss auf die Partnerschaft, der sich anhand der Stressfolgen in Form von verringerter gemeinsamer Zeit, Beschäftigung mit dem Stressor und erhöhter Ich-Bezogenheit zeigt. Für die meisten Frauen ist Stress der Ausgangspunkt für den von Kaplan (1979) erwähnten Abschaltmechanismus der sexuellen Lust (siehe Kapitel 2.2.2). Der Lust wirken zu viele konträre unangenehme hemmende Gefühle entgegen. Weiterhin scheint bei der Auswirkung des beruflichen Stresses der sog. „carry-over-Effekt“ nach Leiter und Durup (1996) eine Rolle zu spielen. Der berufliche Stress führt zu Anspannungen und mangelnder Gefühlsregulation, die sich auf die Partnerschaft auswirkt. Der partnerschaftliche Stress kann von der Frau nicht aus der Sexualität herausgehalten werden. Die Sexualität der Frau ist beeinträchtigt.

5.3.2.3 Sexueller Appetenzverlust als schleichender Verlauf

Bei den 20% der Frauen, die keine veränderte Lebenssituation als Auslöser nannten, wurde im Interview nach frustrierten Bedürfnisse oder Interaktionen geforscht, die den schleichenden Verlauf des Appetenzverlustes mit bedingt haben könnten. Auffällig war, dass nur junge Paare mit einer Beziehungsdauer von fünf bis zehn Jahren ohne Kinder einen schleichenden Verlauf benannten (vgl. Kap. 4.3.3).

Durch die vielen verschiedenen Aussagen der Frauen und ihrer Partner ergab sich die Möglichkeit, verschiedene nicht ausgesprochene „Dialoge der Paare“

herauszukristallisieren, um die Bedingungen der Appetenzstörung verständlicher zu machen. Es soll an dieser Stelle dem dynamischen Aspekt der Entwicklung der Appetenzstörung besondere Beachtung geschenkt werden.

Bei dem Versuch der Erklärung des schleichenden Verlaufes der Appetenzstörung erscheint es notwendig, auf die meistens bestehenden Geschlechterunterschiede im sexuellen Begehren und ihre Auswirkungen auf die partnerschaftliche Dynamik einzugehen.

Untersuchungen an prämenopausalen und gesunden Frauen haben ergeben, dass nur 63% der Frauen im Vergleich zu 83% der Männer Sexualität als sehr bis deutlich wichtig bewerten (Hartmann et al., 2002). Ein geschlechtsspezifischer

Unterschied ist bereits deutlich sichtbar. 50% der Frauen mit Appetenzstörung berichten in dieser Studie genau das Gegenteil. Für sie ist Sexualität nur mäßig wichtig. Nur 30% der Frauen mit hoher und 20% der Frauen mit geringer Partnerschaftszufriedenheit empfinden ihre Sexualität als sehr wichtig.

Weiterhin zeigte sich in dieser Studie folgerichtig, dass über 80% der Frauen unabhängig von der Partnerschaftszufriedenheit seltener Lust erleben als ihre Partner. Bei Frauen in einer zufriedenstellenden Partnerschaft berichten 10% der Frauen, dass sie ähnlich häufig an der Sexualität interessiert sind wie ihr Partner.

Über die Hälfte der Frauen (60%) versucht jedoch unabhängig von der Partnerschaftszufriedenheit sexuellen Situationen aus dem Wege zu gehen.

Es zeigte sich, dass bei unterschiedlichen Bedürfnissen im sexuellen Begehren die Paare herausgefordert sind, in eine Kommunikation über die Unterschiedlichkeiten zu treten, Verständnis dafür aufzubringen und Wege der gemeinsamen Bedürfniserfüllung zu finden. Wenn dem Paar diese Kommunikation nicht gut gelingt, fühlen sich beide voneinander nicht angenommen und verstanden und in ihrem Selbstwertgefühl als erotische Frau oder als erotischer Mann geschwächt. Es finden auf beiden Seiten entweder eine Verteidigung des erotischen Selbstwertes oder ein Rückzug aus der emotionalen Intimität statt. Dies führt zu einer Verringerung der Partnerschaftszufriedenheit und bei der Frau langfristig auch zu einem verstärkten sexuellen Desinteresse. Es kommt zu einem Teufelskreis, der später noch ausführlicher beschrieben wird (siehe Abb. 18, Kapitel 5.3.6).

Diese Annahme unterstreicht ein Ergebnis von McCarthy und McCarthy (2003), welche berichten, dass Enttäuschungen und Kränkungen in der Sexualität einer der wichtigsten Faktoren für eine geringe sexuelle Appetenz bei Frauen darstellen können. Kleinplatz (2011) erwähnt in einem wissenschaftlichen Kommentar, dass der häufigste Verlauf der schleichende Verlauf beim sexuellen Appetenzverlust sei und oft mit einer Verringerung der Qualität der Sexualität einhergehe. Die Teufelsspirale enthält zunächst mehr Episoden von mittelmäßiger Sexualität, die ihrerseits zu einer geringeren Erregung der Frau während der sexuellen Intimität führen und letztlich in einer geringen sexuellen Zufriedenheit münden.

In den geführten Interviews wurde ebenfalls deutlich, dass die folgenden unterschiedlichen nicht befriedigten Bedürfnisse eine zentrale Bedeutung für den

5. DISKUSSION

schleichenden Verlauf des Appetenzverlustes haben. Die am häufigsten vorgefundenen zirkulären Prozesse zu den unbefriedigten Bedürfnissen, die die Paare unabhängig voneinander in den Interviews äußerten, sind zum Zwecke der Anschaulichkeit zusätzlich in Dialogform dargestellt und sollen den Kern der Botschaft des Paares verdeutlichen. Die frustrierten Bedürfnisse resultieren aus ungelösten Konflikten in sexuellen Vorlieben, im Wunsch nach der Häufigkeit des sexuellen Kontaktes, im Wunsch nach Zärtlichkeit im Vergleich zu Sexualität und fehlender Wertschätzung seitens des Mannes und Unwissenheit über sexuelle Bedürfnisse seitens der Frau.

Dialog I: Unterschiedliche sexuelle Bedürfnisse und Vorlieben

Frau: „Deine Art mit mir umzugehen und deine Sexualität gefallen mir nicht. Ich traue mich aber nicht, Dich darauf anzusprechen. Deshalb verweigere ich dir meine Sexualität.“

Mann: „Wenn Du mir meine Sexualität verweigerst, fordere ich sie stetig ein.“

Frau: „Wenn Du stetig an mir „pickst“, dann fühle ich mich bedrängt und habe erst recht keine Lust auf Sexualität.“

Mann: „Du ziehst dich immer mehr zurück. Ich bin gekränkt. Was hast du bloß?“

Viele Frauen fühlten sich durch die erotische Vorgehensweise ihres Partners nicht ausreichend sexuell erregt. Aufgrund von Scham-, Schuldgefühlen, Angst vor Zurückweisung, Kränkungsgefühlen oder ähnlichen Gefühlen sprachen sie dieses Dilemma jedoch nicht an und zogen sich nach mehreren frustrierenden, wenig lustvollen, sexuellen Erfahrungen aus der partnerschaftlichen Sexualität zurück oder machten bei dieser lustlos mit.

Diejenigen Frauen, die ihre Vorlieben äußerten, erlebten manchmal wenig Verständnis, Einfühlung oder erotische Fertigkeiten seitens ihres Partners und zogen sich dann zurück oder machten lustlos mit.

Bei manchen Paaren waren die erotischen Vorlieben so unterschiedlich, dass eine oder einer des Paares sich aus seiner gewohnten sexuellen Zone hätte heraus bewegen müssen, um auszuprobieren, ob die erotischen unvertrauten Spielarten

trotz erster Widerstände doch ein Teil des persönlichen Spielraumes hätten werden können.

Dialog II: Unterschiedliche Häufigkeit der sexuellen Initiative

Frau: „Du lässt mir keinen Raum, meine Sexualität zu gestalten, weil du dein sexuelles Bedürfnis immer früher äußerst als ich. Deshalb verweigere ich dir meine Sexualität.“

Mann: „Für mich hat Sexualität eine andere Bedeutung als für dich. Wenn ich mich nicht um unsere Sexualität kümmere, dann haben wir gar keine mehr.“

Viele Frauen berichteten, dass ihr Partner ein häufigeres Bedürfnis nach sexuellem Kontakt und Intimverkehr habe als sie selbst. Dieser Unterschied konnte, auch wenn die Frequenz des Wunsches nur geringfügig abweichte, folgende Wirkung entfalten.

Der Mann war in die Position des Initiators, des Fragenden, des Bedürftigen oder des Wollenden gegangen und fühlte sich entweder von dem sexuellen Rhythmus der Frau abhängig, empfand sich als drängelnd, wenig beschenkt oder in der Rolle des erotischen Mannes nicht gewollt. Die Frau in ihrer Position fühlte sich bedrängt und in ihrem sexuellen Rhythmus nicht angenommen. Auch hieraus resultierte ein emotionaler Rückzug der Frau oder die Zurückweisung des Partners.

Dialog III: Bedürfnis nach Nähe und Zärtlichkeit vs Sexualität

Frau: „Ich möchte mit Dir häufiger nur Zärtlichkeit leben. Das zeigt mir deine Liebe zu mir und erhält mein Begehren.“

Mann: „Bei der Zärtlichkeit steigert sich mein Begehren, und ich kann und möchte es dann nicht stoppen. Das ist zu frustrierend und deshalb lasse ich die Initiative lieber gleich sein.“

Manche Frauen wünschten sich im Alltag mehr Zärtlichkeit und emotionale Zuwendung und sanftere Übergänge von Zärtlichkeit zu Sexualität oder auch mal nur Zärtlichkeit ohne einen Übergang in den Intimverkehr. Für die Partner bedeutete dies oft eine Herausforderung, in dem Modus der Zärtlichkeit zu bleiben. Die meisten beschrieben ein aufkommendes starkes sexuelles Verlangen nach

5. DISKUSSION

Intimverkehr, welches durch den zärtlichen Kontakt entstanden war und aufgrund der wenigen gemeinsamen Sexualität am Ende des Kontaktes eine Frustration ihres Bedürfnisses nach Sexualität.

Dialog IV: Bedürfnis nach mehr Wertschätzung seitens der Frau

Frau: „Ich wünsche mir von dir mehr Wertschätzung in der alltäglichen Partnerschaft. Wenn ich diese nicht bekomme, dann sinkt mein Begehren, und ich kann mich nicht auf sexuelle Begegnungen mit Dir einlassen.“

Mann: „Partnerschaft ist das eine und Sexualität ist das andere. Für mich liegt der Partnerschaftskonflikt häufiger als bei dir außerhalb der Sexualität. Ich kann nicht verstehen, dass du mit mir Sexualität nicht leben willst“

Viele Frauen, insbesondere Mütter und langjährige „Haushaltsmanagerinnen“, berichteten, dass sie sich von ihrem Partner für das, was sie täglich geleistet hatten, nicht ausreichend wertgeschätzt fühlten. Diese langandauernde Kränkungssituation bildete den Boden für einen nicht gelösten Partnerschaftskonflikt, der sich bei den Frauen in eine Hemmung in der Sexualität umsetzte.

Dialog V: Unwissenheit über sexuelle Wünsche seitens der Frau

Frau: „Ich kenne meine sexuellen Wünsche nicht. Die Beschäftigung mit Sexualität ist mir unangenehm und peinlich und anstrengend.“

Mann: „Ich weiß nicht, was du brauchst, wenn du es mir nicht sagst. Wenn ich von Dir häufig enttäuscht werde bzw. eine Abwendung erfahre, ziehe ich mich hilflos zurück.“

Ein Teil der Frauen war sehr scheu, ängstlich, vorsichtig oder beschämt in der Auseinandersetzung mit ihren eigenen sexuellen Bedürfnissen und Vorlieben und traute sich nicht, sich über beispielsweise erotische Literatur oder auch Gespräche mit ihrem Partner den eigenen erotischen Phantasien und Wünschen zu nähern und diese auszuprobieren. Sie fühlten eine zu große emotionale Hemmschwelle. Aus Angst vor der Auseinandersetzung mit sich selbst und den Reaktionen ihres

Partners zogen sie sich zurück und gaben dem Partner dadurch keine Hinweise, was sie eigentlich brauchten, um von ihm sexuell erregt und befriedigt zu werden.

5.3.2.4 Depressive Symptomatik

20% der Frauen (N=7) litten an einer leichten bis mittelgradigen depressiven Episode. Die Mehrzahl dieser Frauen (N=5) befand sich in einer Partnerschaft mit geringer Zufriedenheit. Die meisten der Frauen mit Appetenzstörung hatten jedoch keine depressive Episode, so dass davon ausgegangen werden kann, dass die Appetenzstörung der Frauen in dieser Studie nicht durch eine aktuelle depressive Episode aufrechterhalten wurde. Ausgeschlossen ist jedoch nicht, dass der Beginn der Appetenzstörung durch eine depressive Episode ausgelöst wurde, wie auch Schreiner-Engel und Schiavi (1986) beschrieben. Die depressive Symptomatik scheint sich wenn überhaupt an die partnerschaftliche Unzufriedenheit zu koppeln.

Eine Erklärung für die geringe depressive Symptomatik könnte auch der Kontext der Studie sein, in dem sich überwiegend Paare gemeldet haben, deren Leidensdruck noch nicht sehr hoch war.

5.3.2.5 Kapitelzusammenfassung: Faktoren für die Entstehung der Appetenzstörung der Frau

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass in dieser Studie die Beziehungsdauer keinen entscheidenden Einfluss auf die Entstehung der Appetenzstörung gehabt hat. Viel ausschlaggebendere Auslöser waren das Erleben der Sexualität zu Anfang der Beziehung, die ungünstige Bewältigung herausfordernder Lebenssituationen und –veränderungen wie zum Beispiel die Familiengründung und unterschwellige Beziehungskonflikte im schleichenden Verlauf der Appetenzstörung. Die Aufrechterhaltung der Symptomatik wurde zum Zeitpunkt des Interviews auch nicht durch eine depressive Episode moderiert. Eine depressive Episode als Auslöser für die Appetenzstörung u.a. in der Phase der Familiengründung ist jedoch nicht ausgeschlossen.

5. DISKUSSION

5.3.3 Faktoren für die Entstehung der geringen Partnerschaftszufriedenheit

Bei der Analyse der Faktoren für die geringere Partnerschaftszufriedenheit wurden signifikante Unterschiede in den Bereichen der Persönlichkeitsakzentuierung (IKP und IKP-Eg) und der Selbstdifferenzierung (DSI-R) gefunden. In den Bereichen Kommunikation, gemeinsame Problemlösung, dyadisches Coping konnten sowohl bei den Frauen als auch deren Partnern keine signifikanten Ergebnisse ausfindig gemacht werden.

5.3.3.1 Persönlichkeitsakzentuierung

Die Anzahl der Persönlichkeitsakzentuierungen war unabhängig von der Partnerschaftszufriedenheit in beiden Gruppen der Frauen und der Partner vergleichbar hoch. Es gab viele Entsprechungen bestimmter Persönlichkeitsakzentuierungen in beiden Gruppen, so dass sich die Frage ergab, ob die Persönlichkeitsakzentuierungen ein begünstigender Faktor für die Entstehung der Symptomatik der Appetenzstörung sein könnte. Diese Vermutung wäre in einer Studie mit einer Kontrollgruppe zu überprüfen.

Bei den Ausprägungen der Persönlichkeitsakzentuierungen der Frauen waren die Unterschiede in den Werten der zwanghaften Persönlichkeitsakzentuierung (IKP-G, Skala 11), der obsessiv-selbstunsicheren Persönlichkeitsakzentuierung (IKP-EG, Skala 7) und der passiv-aggressiven Persönlichkeitsakzentuierung (IKP-EG, Skala 2) sehr offensichtlich.

Bei genauerer Betrachtung der bedeutsamen Persönlichkeitsakzentuierungen stehen Aspekte wie Sorgen oder Befürchtungen, negative Gedanken, Selbstkritik, Selbstzweifel, Scham- und Schuldgefühle, Perfektionismus, Pflichtgefühl, Neid und die Beschäftigung mit Ordnung im Vordergrund der Persönlichkeit dieser Frauen.

Diese Persönlichkeitsaspekte scheinen in einer zu hohen Ausprägung im Umgang mit der Appetenzstörung einen Negativfaktor für die Partnerschaftszufriedenheit darzustellen.

An dieser Stelle erscheint es für die Nachvollziehbarkeit der Interpretation des

Partnerschaftszufriedenheit von Bedeutung zu sein, einen Bezug zu der genauen Definition der oben erwähnten Persönlichkeitsakzentuierungen herzustellen. Um die Definition möglichst konkret und anschaulich darzustellen, werden an dieser Stelle jeweils 10 Items des Inventars der klinischen Persönlichkeitsakzentuierung dargestellt, in denen sich die Frauen mit den oben genannten Persönlichkeitsakzentuierungen (PA) wiedergefunden haben. Es soll zunächst auf die Items der zwanghaften PA eingegangen werden.

Ich kann Aufgaben nur schwer an andere übergeben, weil sie die Dinge ja doch nicht so erledigen, wie ich es für richtig und notwendig halte.

Ich mag es gar nicht, wenn meine bewährt Routine bei der Arbeit und in der Freizeit durch Überraschungen oder Ablenkungen unterbrochen wird.

Ich hasse Unordnung in jeder Form.

Mein Ehrgeiz zwingt mich dazu, alles hundertprozentig machen zu wollen, weshalb es mir schwerfällt, etwas schnell zu Ende zu bringen.

Die Arbeit und das unermüdliche Streben nach Perfektion haben in meinem Leben einen viel höheren Stellenwert als menschliche Beziehungen und Freizeit.

Ich kann Unsauberkeit überhaupt nicht ertragen und habe sehr viele Schwierigkeiten mit weniger reinlichen Menschen.

Ich kann nur mit anderen zusammenarbeiten, die sich streng an die Regeln halten.

Bei mir muss alles einen festen Platz und eine feste Reihenfolge haben, weil ich Störungen dieser bewährten Ordnung nicht ertragen kann.

Bei der Arbeit brauche ich viel Zeit und Kraft für das Aufstellen und Kontrollieren von Listen.

Ich bin mehr als die meisten Menschen meiner Umgebung auf Ordnung, Korrektheit und feste Grundsätze bedacht.

Tabelle 14: Items der Skala der zwanghaften Persönlichkeitsakzentuierung (IKP)

Gemäß der Items berichteten unzufriedene Frauen deutlich häufiger als zufriedene Frauen, dass sie ehrgeizig und perfektionistisch sind, für sie Ordnung, Kontrolle, feste Strukturen und Regeln von Bedeutung sind und ihnen die Abgabe von Aufgaben an andere schwer fällt und sie für die Aufgabenbewältigung mehr Kraft und Zeit brauchen.

Dieses Ergebnis wird auch durch die Selbstbeschreibungen der Frauen im Interview

5. DISKUSSION

unterstrichen, in denen sich viele der Frauen unabhängig von ihrer partnerschaftlichen Zufriedenheit eher als kontrolliert erleben (82,3%), wenig über ihre sexuellen Wünsche sprechen (79,4%) und sich als harmoniebedürftig bezeichnen (76,4%).

Weiterhin stimmt die Beschreibung mit den Berichten von Frauen mit Appetenzstörung in unserer klinischen Praxis der Einzel- und Paarberatung überein.

Weiterhin stimmt die Beschreibung mit den Berichten von Frauen mit Appetenzstörung in unserer klinischen Praxis der Einzel- und Paarberatung überein.