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weil das Sachverständigen-Gutachten sowohl nach Inhalt wie nach Form und Entstehung die Ehre, Würde und das Selbstgefühl des deutschen Volkes und Staates mißachtet, ja mit Füßen tritt

Im Dokument Geschichte unserer Zeit (Seite 30-33)

Die deutschen Mittelparteien dagegen, Zentrum und Sozialdemokratie, die bis jetzt noch nie den Forderungen der ehemaligen Feinde Widerstand entgegengesetzt und Waffenstillstandsbedin-gungen, Versailler Vertrag und Londoner Ultimatum angenommen hatten, waren auch diesmal für Annahme. Besonders die Sozialdemokraten setzten, wie schon so oft, so auch diesmal wieder trü-gerische Hoffnungen auf die französischen und englischen Sozialdemokraten. In beiden Ländern waren jetzt sozialistische Ministerpräsidenten, Herriot und MacDonald an der Macht, und sie wür-den, wenn Deutschland den Plan annähme, sofort tatkräftig die Räumung des Ruhrgebietes einlei-ten. Das war die Hoffnung für die deutsche Sozialdemokratie, und Eduard Bernstein prägte sie im Vorwärts in folgende Worte: "Das Interesse der deutschen Arbeiter vor allem gebiete das Eintreten für die Politik des Erfüllungswillens. Nur durch sie kommen wir zur Möglichkeit, des Elends Herr zu werden." Unbelehrt durch die Tragödie der verflossenen Jahre und unbelehrbar wie sie war, glaubte die Sozialdemokratie stets an die Unfehlbarkeit ihrer Erfüllungspolitik. In völliger Verblen-dung hoffte man in diesen Kreisen immer noch mit einem unerschütterlichen Optimismus auf den Versöhnungsrausch der alliierten Sozialdemokraten. Und diese Hoffnungen stützten sich auf Herriot und MacDonald! Auch die Deutsche Staatspartei schloß sich den für die Annahme eintretenden Parteien an, aus wirtschaftlichen Gründen. Die Ruhrindustrie und mit ihr die gesamte deutsche Industrie stand vor dem Zusammenbruche. Die einzige Hoffnung, sie zu retten, wurde darin Die deutschen

Parteien und der Dawesplan

erblickt, wenn die wirtschaftliche Einheit Deutschlands wiederhergestellt, wenn das Ruhrgebiet wieder freigegeben werde. Die erdrosselnden Micumverträge und das System der Regiebahn sollten ein Ende haben, die Ausgewiesenen sollten in die Heimat zurückkehren.

Die Reichstagssitzungen brachten erregte Aussprachen. Marx, der dem Zentrum angehörige Reichskanzler, bezeichnete das Sachverständigen-Gutachten als eine durchaus annehmbare Lösung, es müßten sich nur noch einige textliche Unklarheiten aufklären. Er teilte Anfang Juni mit, daß die Internationalen Organisationskomitees für die Goldbank, die Reichsbahn und die Industrie-Obligationen bereits ihre Arbeit begonnen hätten. Notwendige Gesetzentwürfe müßten ausgearbei-tet werden. Allerdings könnten sie erst dann in Kraft treten, wenn klar und eindeutig feststehe, daß auch die Regierungen der Reparationsgläubigerländer den Dawes-Bericht als unteilbares Ganzes ansähen und alle darin bezeichneten Maßnahmen träfen, um die deutsche Leistungsfähigkeit, namentlich aber die wirtschaftliche und finanzielle Einheit und die Verwaltungshoheit Deutschlands gleichzeitig wiederherzustellen. Das Gutachten sei entstanden "in dem Geiste ehrlicher Verständi-gung" und könne auch von Deutschland nur als Ganzes angenommen oder verworfen werden.

Er mahnte, angesichts der verzweifelten wirtschaftlichen Notlage, die nationale Kraft nicht zu zersplittern und Disziplin zu wahren, um das Reich und das Volk nicht wieder an den Abgrund zu bringen, an dem es sich im November 1923 befand. Breitscheid, der Redner der Sozialdemo-kratie, forderte, das Gutachten so schleunig wie möglich anzunehmen. Der Sklaverei im besetzten Gebiete müsse durch Annahme des Planes ein Ende gemacht werden. Darüber hinaus verlangte er Fortfall der interalliierten Militärkontrolle und Deutschlands Eintritt in den Völkerbund.

Stresemann, der Reichsaußenminister, welcher der Deutschen Volkspartei angehörte, brach für das Dawes-Gutachten eine Lanze, indem er die darin ausgedrückte Objektivität rühmte. Es bedeute unzweifelhaft einen Fortschritt. Der deutschnationale Abgeordnete Schlange-Schöningen warf Stresemann ungeheuerlichste Illusionen und ungeheuerlichsten Optimismus vor. Der deutsch-nationale Abgeordnete Graf Westarp klagte die Regierung mit bitteren Worten an, daß sie nichts unternehme, um Deutschland vom Vorwurf der Kriegsschuld zu reinigen. Der deutschvölkische Abgeordnete von Graefe griff schonungslos Stresemann und seine Politik an. Nichts sei erbärm-licher, als der kastratenhafte Erfüllungswille, den gewisse Kreise des deutschen Volkes in Deutsch-land zur Schau trügen.

So zerfleischte sich das Volk in gegenseitigen Anklagen und Vorwürfen, aber es besaß nicht mehr die Kraft, sein Geschick zu bestimmen. Das Schicksal war hart und unerbittlich, es ging seinen ehernen Gang. Die Regierungen Englands, Italiens, Belgiens waren übereingekommen, den Dawes-Plan anzunehmen, nachdem ihnen die Annahme durch die Reparationskommission empfohlen worden war. Nur Frankreich hatte noch Winkelzüge gemacht. Es lehnte zwar nicht ab, ließ aber durchblicken, daß es die Forderung, die "Pfänder" (das Ruhrgebiet) herauszugeben, erst dann erfüllen werde, wenn Deutschland den Plan tatsächlich zur Ausführung gebracht habe. Die Reparationskommission, die von der deutschen Regierung Vorlage der Gesetzentwürfe zur Aus-führung des Dawes-Planes verlangte, hatte bereits am 30. April die im Gutachten geforderten Organisationsausschüsse für die Reichseisenbahngesellschaft, für die Emissionsbank und für die industriellen Obligationen ernannt. Bereits am 12. Juni schlossen die amerikanischen Bankiers die ersten Verhandlungen über die Gewährung eines Kredites von 25 Millionen Dollar an die deutsche Goldbank ab.

Es wurde schnell gearbeitet, sehr schnell. Schon am 16. Juli trat in London unter MacDonalds Vorsitz die Interalliierte Reparationskonferenz zusammen. MacDonald

begrüßte die erschienenen Staatsmänner und erklärte, zwei der festgesetzten Bedingungen seien absolut wichtig: die Wiederherstellung der wirtschaftlichen und fiskalischen Einheit Deutsch-lands und die angemessene Sicherheit für die Kapitalisten, welche Deutschland Geld leihen wollten. Eines der großen Verdienste des Dawes-Planes sei es, daß er an das Reparationsproblem in kaufmännischem Sinne herangetreten sei und die Politik ausschalte. Aber der Bericht regle doch nicht endgültig die Lösung des Reparationsproblems und des europäischen Wiederaufbaus. Der amerikanische Botschafter Kellogg ergänzte diese Ausführungen mit der Bemerkung, Regierung

Londoner Konferenz

und Volk in Amerika glaubten, daß die Annahme des Dawes-Planes der erste große Schritt zur Stabilisierung Europas sein werde.

Zwei Wochen unterhielten sich die interalliierten Gläubiger hinter verschlossenen Türen. Die schwierigste Angelegenheit bildete für die alliierten Staatsmänner die Räumung des Ruhrgebiets.

Ursprünglich hatten die Franzosen nicht die Absicht, das Ruhrgebiet auch nach der Annahme des Dawes-Planes durch Deutschland zu räumen, ebensowenig wie sie anfangs willens waren, je wieder aus dem Rheinland hinauszugehen. MacDonald und Kellogg mußten geradezu mit Drohungen die Franzosen gefügig machen. England mußte erklären, daß die Franzosen bei weiterem Verbleiben im Ruhrgebiet nicht einmal die moralische Unterstützung Großbritanniens zu erwarten hätten, sobald es zu neuen Streitigkeiten zwischen Deutschland und Frankreich kommen würde. Demgegenüber wies Herriot auf die starken Kräfte in Frankreich hin, die von seinem Vorgänger Poincaré inspiriert würden und sich einer Ruhrräumung widersetzten. MacDonald trug schließlich dem Prestigewahn der französischen Nationalisten Rechnung, indem er sich mit einer einjährigen Räumungsfrist des Ruhrgebietes einverstanden erklärte. So kam, ohne daß Deutschland irgend etwas in der Frage zu sagen hatte, der Ruhrräumungskompromiß zwischen Herriot und MacDonald zustande.

Am 2. August luden sie die deutsche Regierung ein. Der Reichskanzler Marx, Außenminister Stresemann, Finanzminister Luther, Ministerialdirektor von Schubert und einige Beamte traten den schweren Schicksalsgang nach London an. Am 5. August trafen sie dort ein, wo sie in einen Rausch würdig verhaltener Versöhnungsfreude gerieten. Sie stellten ihre Forderungen: Räumung des Ruhrgebietes und Herausgabe der Regiebahnen. Es erwies sich nötig, daß MacDonald und Her-riot hierüber erst einmal in aller Stille zu Rate gingen. Die deutschen Delegierten trafen inzwischen, am 9. August, mit der Reparationskommission ein Abkommen über die Durchführung des Dawes-Planes. Dieses Abkommen enthält im wesentlichen Deutschlands Verpflichtungen, wie sie ihm im Dawes-Plan auferlegt werden, und die Versicherung der Reparationskommission, daß sie alles tun werde, soweit es in ihrer Macht steht, um Deutschland bei der Erfüllung dieser Verpflich-tungen zu unterstützen. Es wurde am 16. August durch ein Abkommen zwischen Deutschland und den Alliierten ergänzt, worin das Wesen der Übertragung (des Transfers) und der Schiedsgerichte bei etwaigen Meinungsverschiedenheiten festgelegt wird.

Inzwischen hatte Herriot am 13. August erklärt, daß er in der Frage der militä-rischen Räumung der seit 11. Januar 1923 besetzten Gebiete an einer

Höchstfrist von einem Jahr festhalten müsse. Eine etwaige Verkürzung bleibe ausschließlich sei-ner Entscheidung vorbehalten. Aber auf die Verlängerung der Ruhrbesetzung um ein Jahr wollten sich die Deutschen nicht einlassen. Sie wiesen mit Nachdruck darauf hin, daß die militärische Be-setzung mit der Erwartung des Kreditzuflusses an Deutschland unvereinbar sei. Es wäre nur billig, wenn dem sofortigen Beginn deutscher Leistungen nach dem Dawes-Plane auch der sofortige An-fang der Räumung entsprechen würde. Am folgenden Tage legten sich MacDonald und Kellogg ins Mittel, indem sie den Deutschen kurzerhand eröffneten, daß sie in der Frage der militärischen Räumung dem Standpunkte Herriots beiträten und von der deutschen Abordnung die Annahme des französischen Vorschlages erwarteten. Herriot selbst ließ sich nicht erweichen. In einer neuen Zusammenkunft hielt er nach wie vor an seiner Forderung fest, daß die Höchstfrist der Räumung ein Jahr sein und daß ihre Verkürzung und ihre Form vollkommen den Franzosen überlassen sein sollte. Als Zeitpunkt, an dem die Jahresfrist zu laufen beginnen sollte, sei der Tag der Unterzeich-nung des Konferenzabkommens zu betrachten. Herriot betonte, und MacDonald unterstützte ihn hierin, daß die Forderung der Jahresfrist nur aus innerpolitischen Gründen gestellt werden müsse.

Die tatsächliche Räumung werde zweifellos viel eher durchgeführt werden. Außerdem würden mit Inkrafttreten des Dawes-Planes die Bankiers auf den Plan treten und von sich aus auf schnellste Räumung des Ruhrgebietes drängen. Damit wäre die Frage aus der politischen Sphäre in die wirt-schaftliche gerückt und berühre nicht mehr Frankreichs Prestige. Die Räumung der sogenannten Flaschenhälse Mannheim, Karlsruhe, Offenburg usw. sollte nach Herriots Erklärungen sofort erfol-gen und die Regie restlos zurückgezoerfol-gen werden. Die Besatzungsmächte behielten sich lediglich vor, ihre technischen Abteilungen im Rheinland zu vermehren, sobald der Schutz ihrer Truppen dies

Streit um die Ruhrräumung

notwendig mache.

Diese Erklärungen der alliierten Staatsmänner bedeuteten für die deutsche Abordnung eine große Enttäuschung. Auf das empfindsame Ehrgefühl des französischen Volkes wurde also Rücksicht genommen, während man das Ehrgefühl des deutschen Volkes dauernd mit Füßen trat. Das waren ungleiche Voraussetzungen, und die alliierten Staatsmänner bewiesen hierdurch, daß sie noch längst nicht vom Geiste ehrlicher Verständigung durchdrungen waren, wie sie ihn täglich von sich aus priesen. Was sollten die Deutschen tun? Sollten sie das ganze Unternehmen an dieser französischen Weigerung scheitern lassen? Sie hatten sich schon zu sehr in den Gedanken der Annahme hinein-gelebt, als daß sie imstande gewesen wären, sich eine Ablehnung und deren mögliche Folgen klar vorzustellen. Man fragte in Berlin an, was zu tun sei: Auf Grund eines Beschlusses der Reichs-regierung wurde die deutsche Abordnung in London sodann am 15. August ermächtigt, auf der Grundlage der von der Gegenseite abgegebenen Erklärungen sich für einen positiven Ab-schluß der Verhandlungen einzusetzen. Nur ein Zugeständnis machten Herriot und der belgische Ministerpräsident Theunis, sie versprachen sofortige Räumung der nicht zum Ruhrgebiet gehö-rigen, seit 11. Januar 1923 besetzten Gebiete und Räumung der Zone Dortmund und Hörde in derselben Zeit, in welcher die wirtschaftliche Räumung erfolgen würde. MacDonald zwar hatte in der Frage der Ruhrräumung Herriots Forderung den Deutschen gegenüber unterstützt. Aber die von den Deutschen immer wieder vorgebrachten Gründe und Vorstellungen ließen ihn im Festhalten an dem mit Herriot getroffenen Räumungskompromiß wankend werden, zumal auch seine englischen Ministerkollegen mehr auf der Seite der Deutschen als der Franzosen standen. Der englische Pre-mierminister schrieb deswegen am 16. August an Herriot und Theunis, die britische Regierung dringe unter Berufung auf den Sachverständigenausschuß aufs nachdrücklichste darauf, daß die beteiligten Regierungen jeden möglichen Schritt unternehmen mögen, um die Räumung zu beschleunigen, da nach Ansicht der britischen Regierung die Fortführung der Besetzung die Wir-kung des Dawes-Planes schädlich beeinflussen und die auf der Londoner Konferenz vereinbarten Übereinkommen gefährden könne. Da über diese schwierigste Frage der Londoner Konferenz kein Protokoll oder Vertrag zustande kam, mußte dieses Schriftstück als Niederschlag der über die Ruhr-räumung getroffenen Vereinbarungen, welche unweigerlich die Voraussetzung für die Annahme des Dawes-Planes durch Deutschland waren, gelten. MacDonald wurde einerseits den Deutschen ge-recht, indem er möglichst schnelle Räumung forderte, anderseits aber stieß er nicht den mit Herriot getroffenen Kompromiß um, indem er die Frage nach dem Endtermin der Räumung nicht berührte.

So blieb es denn dabei, daß die Franzosen ein Jahr Zeit hatten, um das Ruhrgebiet zu räumen.

Am 16. August wurde das Londoner Protokoll unterzeichnet. Es enthielt außer

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