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Kapitel: Deutschlands innere Zustände

Im Dokument Geschichte unserer Zeit (Seite 177-195)

Artikel 2: Die Hohen Vertragschließenden Parteien vereinbaren, daß die Beilegung oder Lösung aller Streitigkeiten und Konflikte, die, welcher Natur und welchen Ursprungs immer

10. Kapitel: Deutschlands innere Zustände

Wir wenden uns nun den inneren Zuständen Deutschlands zu. Wie ich schon bei anderer Gelegenheit bemerkte, trat seit der Einführung eines neuen Geldes von festem Werte in den Massen des deutschen Volkes eine innere Beruhigung ein.

Noch warfen manche trüben Ereignisse aus der Vergangenheit ihre Schatten auch auf die neue Zeit innerer Konsolidierung, wie wir bei Betrachtung der großen politischen Prozesse feststellten. Den-noch aber konnte der Preußische Innenminister Severing Ende März 1927 mit bedingter

Berechti-Zusammenfassung

Politische Zustände

gung erklären, daß man heute wohl von einer gewissen politischen und wirtschaftlichen Konsoli-dierung sprechen könne. Trotzdem aber wurde im Juli das Gesetz zum Schutze der Republik vom Reichstag um zwei Jahre verlängert. (Erst im Sommer 1929 lief es ab, ohne erneuert zu werden.) Im Herbste desselben Jahres, am 18. September, fand die Einweihung des Tannenberg-National - denkmals in Hohenstein-Ostpreußen statt. Aus allen Teilen Deutschlands waren die vaterländi-schen Verbände, der "Stahlhelm", "Wehrwolf", "Jungdeutsche Orden", die Kriegervereine usw. mit ihren Fahnen erschienen. Mehr als 100 000 Teilnehmer waren zusammengeströmt. Der Geist der Erhebung und der Erinnerung an das gewaltigste Ereignis des Jahres 1914, die Befreiung Ostpreu - ßens von den Russen, war wiedererstanden. Hindenburg, der Befreier Ostpreußens und gegenwär-tige Präsident des Deutschen Reiches, hielt die Festrede, die in folgenden Worten gipfelte:

"Die Anklage, daß Deutschland schuld sei an diesem größten aller Kriege, weisen wir, weist das deutsche Volk in allen seinen Schichten einmütig zurück! Nicht Neid, Haß oder Eroberungslust gaben uns die Waffen in die Hand. Der Krieg war uns vielmehr das äußerste, mit den schwersten Opfern des ganzen Volkes verbundene Mittel der Selbstbehauptung einer Welt von Feinden gegenüber. Reinen Herzens sind wir zur Verteidigung des Vaterlandes ausgezogen, und mit reinen Händen hat das deutsche Heer das Schwert geführt. Deutschland ist jederzeit bereit, dies vor unparteiischen Richtern nachzuweisen."

Der Befestigung auf seiten der Rechtsparteien und -verbände entsprach eine solche auf seiten der Sozialdemokratie. Bei der Reichstagswahl im Mai 1928 konnten die Sozialdemokraten einen Stimmenzuwachs von 1½ Millionen Stimmen gegenüber der Dezemberwahl von 1924 verzeichnen:

sie erhielt 9⅓ Millionen Stimmen. Die Sozialdemokratie besaß 1929: 9000 Ortsgruppen, 950 000 zahlende Mitglieder, 144 Zeitungen (Deutschnationale 392), 153 Reichstagsabgeordnete, 529 Land-tagsabgeordnete, 358 Provinzial-, 4017 Kreis- und 7662 Stadtverordnete, 31 350 Gemeindevertre-ter, 897 Gemeindevorsteher, 889 Bürgermeister und 520 Stadträte. Seit 1924 hatte die Partei für Wahlzwecke 8⅓ Millionen Mark ausgegeben. Auch die Kommunisten konnten mit ihren 3 Mil-⅕ lionen Stimmen eine Zunahme von einer halben Million Stimmen verbuchen. Die politische Kon-solidierung war ohne Zweifel vorhanden, aber nicht in dem Sinne des absoluten Sieges und der Be-festigung einer Richtung, sondern in der BeBe-festigung des Gleichgewichtes zwischen den drei Lagern. Diese Art des Gleichgewichts stellte zwar eine Sicherheit des demokratischen Systems dar, ohne aber diejenigen Spannungen zu beseitigen, welche eines Tages zur Gefährdung dieses Systems von der einen oder der anderen Seite führen konnten. In weiten Kreisen aber machte sich eine starke parlamentarische Müdigkeit geltend, eine zunehmende Abwendung von den Fragen der Politik.

Die Kommunisten machten noch einmal den vergeblichen Versuch, sich einen politischen Erfolg zu verschaffen. Nicht mehr auf revolutionärem Wege, sondern auf parlamentarischem. Es war notwendig geworden, die deutsche Kriegsflotte durch den Bau eines neuen Panzerkreuzers zu ergänzen. Die Sozialdemokraten erkannten zwar die Notwendigkeit des neuen Panzerkreuzers an, ohne im Innersten den Bau des Kriegsschiffes mit ihrer pazifistischen Anschauung in Einklang bringen zu können. Dennoch aber traten sie diesmal nicht, wie bei der Frage der Fürstenenteignung, entschlossen auf die Seite der Kommunisten, welche den Bau kategorisch ablehnten, da er lediglich den imperialistischen Krieg zu fördern imstande sei. Die Kommunisten verlangten einen Volksent-scheid über die Forderung, daß der Panzerkreuzer nicht gebaut werden solle. Jedoch schon das Volksbegehren im Juni 1928 brachte ihnen eine entscheidende Niederlage: noch nicht zwei Millio-nen trugen sich in die Listen ein. Dieser Episode ließen die Linksradikalen im Frühjahr 1929 eine andere, blutige folgen. Infolge der aggressiven kommunistischen Haltung verbot der Berliner Poli-zeipräsident die Feier des 1. Mai sowie die geplanten Umzüge und Massendemonstrationen. Die Kommunisten nahmen das Verbot nicht ruhig hin, sondern setzten sich zur Wehr: sie hetzten ihre Anhänger in tagelange blutige Straßen- und Barrikadenkämpfe, deren Schauplatz die nördlichen und östlichen Bezirke der Reichshauptstadt waren. Besonders in Neukölln und am Wedding kam es zu schweren Schießereien, die viele Blutopfer forderten, während es am Alexanderplatz der Polizei gelang, durch abkühlende Wasserstrahlen aus der Feuerspritze die Demonstranten zu zerstreuen. Ein Folge dieser Ereignisse war die von den Länderregierungen angeordnete Auflösung des Roten

Frontkämpferbundes, der kommunistischen Kampforganisation. -Im Vordergrunde des Volkslebens standen seit 1926 vor allem wirtschaftli-che Fragen. Dem deutswirtschaftli-chen Volke, das durch die Inflation gänzlich verarmt war, waren die von Jahr zu Jahr steigenden Dawes-Tribute auferlegt worden.

Wie aber sollte ein kraftloser Wirtschaftskörper die drakonischen Leistungen ausführen? Mehr und mehr machte sich eine drückende Not bemerkbar, besonders bei denjenigen Kreisen, die durch Pro-duktion und Handel für die Aufbringung der Tribute zu sorgen hatten. Da die ProPro-duktion der deut-schen Wirtschaft nicht imstande war, aus eigener Kraft die außenpolitideut-schen Abgaben aufzubringen, sah sich diese gezwungen, immer mehr zum Mittel des Kredites, das heißt der Schulden zu greifen.

Da im verarmten Deutschland nicht die nötigen Mittel aufzubringen waren, holten sich die deut-schen Banken die erforderlichen Gelder aus dem Ausland. Dem Dawes-Plan parallel lief also in Deutschland der Prozeß fortschreitender Verschuldung ans Ausland. Der Reichstagsabgeord-nete Freiherr von Rheinbaben schrieb im Juli 1928:

"Unsere eigenen hervorragendsten Sachverständigen versichern uns immer wieder erneut, daß Deutschland noch eine ganze Weile borgen könne und nichts augenblicklich Bedenkli-ches in diesem fortschreitenden Verschuldungsprozeß läge, vorausgesetzt nur, daß die hereingenommenen Gelder produktiv angelegt würden."

Und dennoch lag etwas sehr Bedenkliches in diesem Vorgange: durch das Mittel der Kreditge-währung brachte das Ausland Schritt für Schritt bedeutende deutsche Unternehmungen in seine Gewalt! Eine Enteignung der deutschen Wirtschaft durch die kapitalkräftigen Ameri-kaner setzte ein.

Deutschlands Verschuldung an das Ausland betrug bis zum Juli 1929 15 Milliarden Reichsmark!

Acht bis zehn Prozent des deutschen Besitzes waren dem Ausland verpfändet und mußte jährlich etwa anderthalb Milliarden Zinsen an Amerika und England zahlen. Die amerikanischen und aus-ländischen Geldgeber, denen diese rapide Zunahme der äußeren Schulden des deutschen Volkes nicht entging, beschritten seit Mitte 1928 einen anderen Weg: sie gaben kaum noch Anleihekredite, sondern sie forderten Beteiligung an der deutschen Industrie, sie traten also unmittelbar und bestimmend in den Produktionsprozeß der deutschen Wirtschaft ein, sie beaufsichtigten ihn und schickten sich an, ihn zu beherrschen, ja sie errichteten eigene Fabriken. Die deutsche Industrie wurde ein Opfer des amerikanischen Wirtschaftsimperialismus, den Deutschen selbst stand in immer größerem Maße das Schicksal bevor, Lohnempfänger, Hörige der ausländischen Kapitalisten zu werden. Amerika aber wollte auf diesem Wege die deutsche Außenhandelskonkurrenz schwä-chen oder gar beseitigen. Ähnliche Schritte, nur weniger umfassend als in Deutschland, unternahm das amerikanische Kapital auch in England und Polen.

Mitte 1929 waren in Deutschland 30 amerikanische Industriegesellschaften mit zwei Fabriken vertreten, weitere 20 besaßen Vertriebsorganisationen, etwa 800 deutsche Firmen waren als Agenten amerikanischer Häuser tätig. Besonders die an und für sich unter Schwierigkeiten lei-dende Automobilproduktion Deutschlands wurde von Amerika bevorzugt. Die General-Motors-Werke, die größte Automobil-Exportorganisation der Welt, ließ die deutschen Firmen Opel und N.S.U. in sich aufgehen. Acht andere amerikanische Automobilgroßfirmen Amerikas haben eigene Produktionsanlagen (Assembling Plants) in Deutschland errichtet. Die Allgemeine Elektrizitäts-Gesellschaft (A.E.G.) rief die früher gleich starke amerikanische General Electric ins Land, bot ihr ein beträchtliches Aktienpaket und fünf Aufsichtsratsposten an. Die Osramwerke beschritten den-selben Weg. In den Reichardtwerken Hamburg, bei Elida, bei Ahlfeldt-Gronau, bei Fries & Höpflin-ger, bei Fichtel & Sachs, bei Lorenz, bei Sarotti, in der Hamburger Verkehrs-A.-G., in der Marga-rine- und Zündholzfabrikation erzwangen sich die Amerikaner die Teilnahme an der Produktion.

Das elektrische Gefriersystem nach amerikanischer Methode hat sich in dem "Frigidaire"-Unter-nehmen der General-Motors-Co. Monopolstellung in Deutschland errungen. Die Füllfederfabrik Parker Fountain Pen Co. hat bei Heidelberg eine Fabrik errichtet; die Standard Sanitary Co. hat in Neuß eine Fabrik erbaut, wo Badewannen und sanitäre Vorrichtungen produziert und 1200 deutsche

Wirtschaftsnot, Überfremdung

Arbeiter beschäftigt werden. Das amerikanische Kodak-Unternehmen, Photo- und Filmgeschäft, be-sitzt in Deutschland die deutsche Kodak-A.-G. mit zehn Millionen Reichsmark Kapital, 1927 ver-schmolz sie sich mit der Glanzfilm-A.-G. (Vereinigte Glanzstoff-Werke A.-G.). Eine große Fabrik in Köpenick ist ihr Eigentum, die Firma Yale and Towne Manufacturing Co. in Stamford hat die in der Velberter Schloßindustrie bekannte Firma Damm & Ladewig übernommen. Die Gillette Safety Razor Co. in Boston hat nicht nur große Fabriken in Deutschland, sondern hat auch die Aktienmehr-heit der Roth-Buchner A.-G. erworben. Der schwedische Großindustrielle Kreuger kaufte im Som-mer 1929 das deutsche Zündholzmonopol, während die Engländer die größte Sperrholzfabrik im Regierungsbezirk Trier, Kümmel & Co., die in Zahlungsschwierigkeiten geraten war, erwarben.

Wenige Wochen später, Mitte Oktober, gingen 25 Prozent des Aktienkapitals der Hirsch, Kupfer-und Messingwerke, A.-G. in Berlin, im Nennwerte von drei Millionen Reichsmark an die engli-schen Imperial Chemical Industries Ltd. in London über. Ein Viertel des Kapitals der Reichsbank befand sich in Form von Reichsbankanteilen in amerikanischen Händen.

Es war, wie wir sahen, ein Charakteristikum des Young-Planes, daß die deutsche Industrie von der Haftung für die Reparationen ausgenommen wurde. Diese Veränderung gegenüber dem Dawes-Plan zeigte aufs deutlichste, welche inneren Wandlungen in der deutschen Industriewirt-schaft innerhalb vier Jahren vorgegangen waren: die deutsche Industrie war eine Domäne des amerikanischen Kapitals geworden. Deshalb konnte Young nicht mehr der Taktik des Dawes folgen. Wie konnten die Amerikaner in der deutschen Industrie Reparationen an sich selbst zahlen, sie, die in der Eigenschaft als Teilnehmer deutscher Werke dann in einer Person Schuldner und Gläubiger waren?

Trostloser noch stand es mit der Landwirtschaft. Auf ihr ruhte eine Schulden-last von über 14 Milliarden (30. Juni 1929). Die Steuern, die Zinsen, die

niedri-gen Verkaufspreise und hohen Einkaufspreise, zum Teil ungünstige Witterungsverhältnisse er-schwerten den Bauern ungeheuer ihr Los. Der Einfuhrüberschuß landwirtschaftlicher Erzeugnisse war doppelt so hoch als vor dem Kriege (1913: 1,425 Milliarde Mark; 1925: 2,735; 1926: 2,453;

1927: 2,943). Der deutsche Bauernstand rang mit der Not, und der Besitz der Scholle war zu einer Quelle dauernder Sorgen geworden. Den Lohn, den der Bauer für seine Arbeit erhielt, war höch-stens ein Drittel so hoch wie der Lohn eines Industriearbeiters. In weiten Kreisen des deutschen Bauernstandes brach die Verzweiflung durch, und es kam, wie in Schleswig und Brandenburg, zu förmlichen Aufständen. Konkurse und Zwangsversteigerungen bildeten sehr oft den Abschluß eines jahrelangen, sorgenvollen und mühseligen Schaffens. Eine Erschütterung ging seit 1924 durch das deutsche Landvolk, wie es eine solche seit fünfhundert Jahren nicht mehr erlebt hatte.

In welcher Weise sich die landwirtschaftliche Verschuldung entwickelte, mag aus folgender Tabelle hervorgehen. Hierin sind auch die annähernd zwei Milliarden Rentenbankschulden enthalten. Der gesamte deutsche landwirtschaftliche Besitz umfaßte 25 Millionen Hektar im Werte von etwa 50 Milliarden Reichsmark:

Schuldenlast Zinsendienst Zwangsver-Jahr in Milliarden RM in Milliarden RM steigerungen

1924 5,8 0,53

1925 7,2 0,68 120

1926 10,7 1,00

1927 12,7 1,14 471

1928 13,6 1,18 755

1929, 30. Juni 14,1 1,25

Die wirtschaftlichen Zusammenbrüche (Konkurse), die 1914 7750 betrugen und 1923 infolge der Inflation auf 253 zurückgegangen waren, schwollen 1925 auf 10 800, 1926 sogar auf 11 800 an. Die deutsche Handelsbilanz hatte von 1924 bis 1929 ein Defizit von rund 12

Mil-liarden Reichsmark zu verzeichnen.

Und wie es in der Privatwirtschaft aussah, so sah es in der Finanzwirtschaft des

Not der Landwirtschaft

Öffentliche Finanzen

Reiches, der Länder und Gemeinden aus. Die öffentliche Schuld Deutschlands hatte Ende März 1929 die stattliche Höhe von 15 Milliarden erreicht. Die Steuerpolitik des Reiches führte zu ständi-gen Reibereien zwischen den einzelnen öffentlichen Körperschaften, denen die überwiesenen Beträ-ge zur Deckung ihrer Bedürfnisse nicht ausreichten. Das Reich hatte durch ErzberBeträ-gers Steuerreform die ergiebigsten Steuerquellen für sich mit Beschlag belegt, da es für die Reparationen aufzukom-men hatte. Bei der allgemeinen Armut des Volkes jedoch war es den Ländern und Gemeinden nicht möglich, aus den ihnen verbleibenden Steuern soviel einzunehmen, wie sie brauchten. Allerdings ließ sich sehr oft feststellen, daß die Gemeinden einen Aufwand trieben, der in keinem Verhältnis zur allgemeinen Wirtschaftslage stand. Im Jahre 1927 stellten Wirtschaftskreise, vor allem der Hansabund, die Forderung auf, die allgemeinen Ausgaben der Verwaltung in Reich, Ländern und Gemeinden herabzusetzen, da die deutsche Wirtschaft die Steuerlasten auf die Dauer nicht tragen könne. Im Zusammenhange mit dieser Forderung tauchte aufs neue die Frage auf, ob es möglich sei, das Reich unitarisch umzugestalten. Dann würden in der Hauptsache all die Aufwendungen fortfallen, die durch die Sonderverwaltung der Länder und durch die Unterhaltung von etwa zwei Dutzend Parlamenten entstehen. Man würde dann nur den Reichstag als großes Parlament haben, während die Landtage mit ihren Abgeordneten verschwinden.

In dieser Frage berührten sich allerdings zwei gegensätzliche Strömungen: die hauptsächlich von den Demokraten aufgestellte Forderung nach der straffen Zentralisation des Reiches und die haupt-sächlich von Bayern verteidigte Selbständigkeit der Länder. Vom 16. bis 18. Januar 1928 tagte unter Vorsitz des Reichskanzlers Marx und in Anwesenheit aller 18 deutschen Ministerpräsidenten und aller Reichsminister mit Ausnahme des kranken Stresemann die Länderkonferenz für Reichs- und Verwaltungsreform in Berlin. Es wurden von seiten der Unitaristen die Forderungen und Klagen laut, welche die Föderalisten, die Süddeutschen, ebenfalls mit Forderungen und Klagen beantworteten. Auf beiden Seiten waren die Kräfte und die Gründe gleich. Man kam zu keinem Ergebnis. -Der Verfassungsausschuß der Länderkonferenz schlug Mitte November 1929 eine andere Lösung vor, nämlich die Vereinigung der preußischen Staatsregierung mit der Reichsregierung. Auf diese Weise würde Preußen im Reiche aufgehen. Aber auch diesen Vorschlag lehnte Bayern ab. Die Mün-chen-Augsburger Abendzeitung schrieb, das Aufgehen Preußens im Reich, diese Verpreußung sei nichts anderes als kalte Bolschewisierung. Die Bayerische Staatszeitung erklärte, Bayern werde sich nicht in einen großen preußischen Einheitsstaat hineinpressen lassen. Es gäbe Dinge, die Bayern bestimmt nicht mitmachen werde.

-Bis zu welchen Absurditäten sich die Gemeinden verstiegen, um neue Steuer- und Einnahmequellen zu bekommen, dafür mögen verschiedene thüringische Städte als Beispiel dienen. Gotha führte 1929 eine "Hockersteuer" ein und eine "Sondersteuer für Ledige", beide Steuern sollten je 30 000 Mark erbringen. Gräfenthal beabsichtigte 1929 drei Viertel des Steuersatzes seiner "Musikinstru-mentensteuer" zu erheben. Greiz beschloß die Einführung der "Nachtsteuer". Kahla führte eine

"Feuerschutzabgabe" ein. Kranichfeld änderte "auf Vorschlag des Ministeriums" das Ortsgesetz über die "Nachtsteuer". Langenberg führte die bereits früher erhobene "Wohnungsluxussteuer" und

"Hausangestelltensteuer" ein, ferner wurde die "Nachtsteuer" und "Leistungsumsatzsteuer" be-schlossen; Rudolstadt erhob eine "Wohlfahrtsabgabe" von 2 Pfennigen auf den Gaspreis von 18 Pfennigen, ferner eine Sondersteuer für Bars, Dielen usw. mit berufsmäßiger Kellnerinnenbedie-nung. Ruhla erwog eine Luxusgartensteuer, Unternehmerbeiträge für das Stadtbad, eine Wohlfahrts-abgabe der Unternehmer und eine Wohnungsluxussteuer zu erheben! Allerdings führten diese neuen Steuern oft zu Reibereien zwischen Gemeinden und Länderregierungen. Diese fürchteten nämlich von der Einführung neuer Gemeindesteuern eine Schwächung der Steuerkraft für Reich und Länder und versagten aus diesem Grunde oft ihre Zustimmung.

Ein starker Niedergang machte sich auch bei der Deutschen Reichsbahn bemerkbar. Ihr Wert wurde noch 1928 vom Auslande mit 25,78 Milliarden Mark angegeben. Dabei war nicht berücksichtigt, daß die Eisenbahn durch

die starke Beanspruchung während des Krieges, durch die Ablieferung von 5000 Lokomotiven, 15 000 Personen- und 135 000 Güterwagen infolge des Versailler Diktates, durch die Plünderung

Not der deutschen Reichsbahn

während der Ruhrbesetzung, durch den Verlust Oberschlesiens, Elsaß-Lothringens, Westpreußens und Posens eine Einbuße von 5,5 Milliarden erlitten hatte. Dazu kam noch die Durchbrechung des Beförderungsmonopols der Eisenbahn bei der Personen- und Güterbeförderung durch Automobile und Flugzeuge, welche der Eisenbahn einen jährlichen Ausfall von 650 Millionen Mark Einnahmen verursachte. Es war ohne Zweifel, daß die direkte Belastung der Reichsbahn durch den Dawes-Plan mit 660 Millionen jährlich (ohne Beförderungssteuer) eine viel zu hohe war. Nichtsdesto-weniger wurde sie im Young-Plan beibehalten. Die Eisenbahnbelastung war ja im Sinne des Auslan-des nicht bloß eine reparationstechnische, sondern auch eine handelspolitische Maßnahme. Man wollte das Verkehrsunternehmen zur Erhöhung der Tarife zwingen, um die deutsche Außenhandels-konkurrenz zu erschweren. Es wurde berechnet, daß die Reichsbahn von 100 RM Frachtgebühren 19, von 10 RM Personenfahrpreis 2,20 RM auf Reparationskonto abgeben mußte. Das war durch-schnittlich der fünfte Teil der Bruttoeinnahme!

Schlimme Folgen hatte die wirtschaftliche Bedrückung der Reichsbahn. Bei den notwendig-sten Ausgaben mußte gespart werden. Oberbau, Hochbauten, Brücken und Fahrzeuge konn-ten nicht erneuert oder ergänzt werden. Dr. Dorpmüller, der Generaldirektor, schrieb in seiner Denkschrift zur Begründung einer Tariferhöhung folgendes:

"Viel schwieriger ist der unglückliche Einfluß, den der schlechte Zustand des Fahrwegs, des Oberbaues, der Brücken und Sicherungsanlagen auf die Betriebssicherheit ausübt. So sind Entgleisungen auf freier Strecke bei ungefähr gleichen achskilometrischen Leistungen von 73 im Jahre 1913 auf 178 im Jahre 1927, also um rund 150 Prozent, gestiegen. Auch sind in letzter Zeit verschiedene ernstere Unfälle vorgekommen, die auf Schienenbrüche zurückzuführen waren. Noch rund 8000 Kilometer Gleis befinden sich im Rückstand. Wenn man die laufenden Gleisarbeiten hinzuzählt und jedes Jahr etwa 3500 Kilometer aufarbeitet, dann würde der Rückstand erst in etwa 20 Jahren eingeholt sein."

Es fehlte an leistungsfähigen Lokomotiven. 1928 hatte die Reichsbahn bereits 82 Schnellzugs- und 200 Lokomotiven leichterer Bauart zu wenig. Ein starker Mangel an Personenwagen, die zum Teil stark überaltert waren, hatte sich eingestellt. 1928 mußten 5000 Güterwagen zur Personenbeförde-rung verwandt werden, 1929 die doppelte Anzahl.

Auch das Personal hatte stark zu leiden. Es war von 1 122 000 auf rund 700 000 vermindert wor-den bei einer Streckenlänge von 53 667 Kilometern, während die englischen Eisenbahnen bei einer Streckenlänge von 33 350 Kilometern 648 612 Menschen beschäftigten. Eine starke Anspannung der Angestellten war die Folge. Der anstrengende Dienst betrug wöchentlich 57 bzw. 56 Arbeits-stunden. Die Beförderungsverhältnisse waren äußerst ungünstig; dadurch wurde der nötige Nach-wuchs gefährdet.

Diese Umstände wirkten alle zusammen, um die Betriebssicherheit der Reichsbahn zu gefährden.

Gewaltige Eisenbahnkatastrophen durch Zusammenprall oder Entgleisung ereigneten sich, so in Bayern 1928. Viele ahnungslose Reisende wurden die Opfer dieser furchtbaren Vorfälle. Im Laufe eines Augenblicks lagen sie als verstümmelte Leichen unter zertrümmerten Wagen begraben oder mußten in schwerverletztem Zustande in die Krankenhäuser eingeliefert werden.

Die Reichsbahn versuchte im Oktober 1928 ihre Verhältnisse zu bessern, indem sie statt einer vom Reiche nicht genehmigten Tariferhöhung das sogenannte "Zweiklassensystem" (Polsterklasse und Holzklasse) einführte. Auf diese Weise verschwand die billige vierte Klasse, und die Reisenden, welche diese bisher benutzt hatten, mußten hinfort die dritte Klasse benutzen, deren Fahrpreis gegen früher etwas ermäßigt wurde.

-Eine grenzenlose Not herrschte in dem verarmten Reiche, und Länder und Gemeinden hatten große Aufgaben zu erfüllen, um die bedrängte Lage von Millionen zu mildern. 2⅓ Millionen Kriegs-beschädigter und Kriegerhinterbliebener, 330 000 Kleinrentner, 120 000 Pflegekinder auf dem Lande, 300 000 Kinder in Erholungsfürsorge, 670 000 Krüppel (Blinde, Taube und Gebrech-liche) und eine Million Geschlechtskranke belasteten die öffentliche Fürsorge. Etwa der zehnte

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