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Risiko: Begriff und Implikationen 1

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1.1

Analytische Vorgehensweise

Risiko beruht auf dem Gegensatz zwischen Realität und Möglichkeit (Markowitz, 1990). Erst wenn die Zukunft als von Menschen zumindest teilweise ge-staltbar angesehen wird, ist es möglich, potentielle Gefahren zu vermeiden oder deren Konsequenzen zu mildern (Ewald, 1993). Diese Aussage erscheint für den modernen Menschen trivial. Dennoch ist der überwiegende Teil der menschlichen Geschichte von einer fatalistischen Einstellung zur Zukunft geprägt gewesen (Covello und Mumpower, 1985). Das Den-ken in Kategorien von Risiko (und auch Chance) setzt dagegen ein Mindestmaß an Gestaltbarkeit der Zukunft und damit Vermeidbarkeit von uner-wünschten Ereignissen durch Vorsorge voraus. Die Vorhersage von möglichen Gefahren ist darauf ange-wiesen, daß kausale Beziehungen zwischen der Ver-ursachung der Gefahr und den Konsequenzen gezo-gen werden können. Diese Kausalbeziehungezo-gen kön-nen systematisch, anekdotisch, religiös oder magisch sein (Douglas, 1966; Wiedemann, 1993). Da die Kon-sequenzen unerwünscht sind, umfaßt Risiko immer auch ein normatives Konzept. Die Gesellschaft ist angehalten, Risiken zu vermeiden, zu verringern oder zumindest zu kontrollieren. Mit Zunahme der technischen Gefahrenpotentiale und der kulturellen Einverleibung von externen Gefahren in berechen-bare Risikokalküle wächst der Bedarf an Risikowis-senschaft und -management (Beck, 1986).

Risiken bezeichnen also mögliche Folgen von Handlungen, die im Urteil der überwiegenden Zahl der Menschen als unerwünscht gelten. Risikokon-zepte in den unterschiedlichen Disziplinen unter-scheiden sich nach der Art und Weise, wie diese Handlungsfolgen erfaßt und bewertet werden. Dabei treten 4 Kernfragen in den Vordergrund (Renn, 1992, 1997b):

1. Was sind erwünschte und was sind unerwünschte Folgen? Oder konkreter: Wie können die mögli-chen Schadenskategorien definiert und nach wel-chen Kriterien positive (d. h. erwünschte) und

ne-gative (d. h. unerwünschte) Konsequenzen von Handlungen oder Ereignissen unterschieden wer-den? Reicht es aus, daß diese Unterscheidung von den Individuen in eigener Regie getroffen wer-den, oder werden kollektive Entscheidungspro-zesse benötigt? Dazu legt der Beirat in Kap. C 2 Vorschläge vor.

2. Wie lassen sich diese Folgen vorhersagen oder we-nigstens intersubjektiv gültig abschätzen? Welche methodischen Werkzeuge gibt es, um mit Unsi-cherheit umzugehen und um die Wahrscheinlich-keit und das Ausmaß der (in Frage 1 definierten) Schadensmöglichkeiten abzuschätzen? Die Frage nach der Abschätzbarkeit von Risiken wird weit-gehend im Kap. C 1 abgehandelt.

3. Welche Möglichkeiten gibt es, Risiken in bestimmte Risikoklassen einzuteilen? Welche Risikoeigen-schaften neben Eintrittwahrscheinlichkeit und Schadensausmaß spielen für die Bewertung von Risiken noch eine wichtige Rolle? Gibt es typi-sche Risikoklassen, die es uns erlauben, Risiken nach Prioritäten zu ordnen (Kap. C 3, C 4)?

4. Welche Kombination und welche Verteilung von er-wünschten und unerer-wünschten Folgen legitimieren die Ablehnung oder Zustimmung zu einer riskan-ten Handlung? Nach welchen Kriterien kann eine Bewertung von Risiken vorgenommen werden, und wie lassen sich Risiken und Nutzen miteinan-der verrechnen? Diese Thematik wird in Kap. C 3 aufgegriffen, in den Kap. F und G vertieft sowie auf die entsprechenden Handlungsempfehlungen in Kap. H hin ausgerichtet.

Die erste Frage bezieht sich auf die soziale Definiti-on vDefiniti-on erwünschten und unerwünschten Folgen. Wer setzt fest, was für eine Gesellschaft erwünscht ist und was nicht? Sind nur physische Konsequenzen, wie Tod, Verletzung oder ökologische Schäden, in die Kategorie der unerwünschten Folgen einbezogen oder auch die Verletzung sozialer Beziehungen und kultureller Werte? Wenn man eine breite Definition von Schadenskategorien bevorzugt, stellt sich gleich die weitere Frage, welchen Stellenwert die jeweiligen Schadenskategorien einnehmen sollen (Berg et al., 1994). Sind psychische Belastungen weniger stark zu

36 C Risiko: Konzepte und Anwendungen

gewichten als chronische Erkrankungen und sind diese wiederum weniger wichtig als Invalidität?

Der Beirat mußte in dieser Frage eine Festlegung treffen. Da er sich vorrangig mit Umweltauswirkun-gen beschäftigt, hat er für dieses Gutachten lediglich solche Schadenskategorien aufgenommen, die im Verlauf der Schadenskette eindeutig Umweltauswir-kungen einbeziehen. Reine zivilisatorische Risiken, die von Menschen ausgehend auch auf Menschen wirken, sind also nicht Gegenstand dieses Gutach-tens (Kap. C 2). Darüber hinaus werden in diesem Gutachten nur solche Gefahren aufgenommen, die zum einen globaler Natur sind (Kap. C 2.4) und de-ren Folgen zweitens aus Sicht des Beobachters mit Unsicherheit verbunden sind. Umweltauswirkungen, die mit Sicherheit zu erwarten sind, werden hier nicht weiter behandelt, selbst wenn die Auswirkungen be-sonders gravierend sind. Zum Beispiel ist der Um-weltschaden, der jedes Jahr durch die routinemäßige Verklappung von Ölrückständen aus Schiffen in die Weltmeere ausgelöst wird, kein Gegenstand dieses Gutachtens.

Die 2. Frage berührt die Ebene der Vorhersagbar-keit der Folgen. Welche MöglichVorhersagbar-keiten existieren, um die Wahrscheinlichkeit von Folgen zu errechnen? Da Zukunft prinzipiell unbestimmt ist, läßt sich die Übe-reinstimmung zwischen Vorhersage und realen Kon-sequenzen nicht streng empirisch messen, sie läßt sich bestenfalls ex post, also nach Ablauf der Lebens-dauer der jeweiligen Risikoquelle, bestimmen. Diese Ungewißheit bedeutet nicht Handlungsunfähigkeit, sondern die Notwendigkeit, das eigene Handeln an unsicheren, aber keinesfalls beliebigen Abschätzun-gen von HandlungsfolAbschätzun-gen auszurichten (Birnbacher, 1994; Bonß, 1996). Dabei geht der Beirat davon aus, daß es trotz verbleibender Ungewißheiten und Ah-nungslosigkeiten bessere oder schlechtere Vorhersa-gen gibt, daß also Qualitätskriterien zur Bewertung von Risikoabschätzungen existieren. Es muß dem-nach Ziel einer jeden Risikoanalyse sein, so genau wie möglich die Wahrscheinlichkeit und das Ausmaß der Auswirkungen von Aktivitäten oder Ereignissen vorherzusagen, wobei andere risikobezogene Fakto-ren mit berücksichtigt werden müssen (Kap. C 1, C 3). Darüber hinaus gilt es, Strategien der voraus-schauenden Risikovermeidung und v. a. -begrenzung zu entwickeln, um auch die Tragweite nicht vorher-sagbarer Risiken begrenzen zu können (Kap. G).

Die 3. Frage ist auf die speziellen Charakteristika der Risiken ausgerichtet, die eine besondere Auf-merksamkeit der Gesellschaft erfordern. So sind Ri-siken danach zu beurteilen, wie sie in Bezug auf die Kriterien der zeitlichen Persistenz schädlicher Aus-wirkungen, der räumlichen Verteilung (Ubiquität), der Irreversibilität und anderen abschneiden (Jun-germann, 1986; California Environmental Protection

Agency, 1994; Margolis, 1996). Solche Begleitumstän-de Begleitumstän-des Risikos sind dann von besonBegleitumstän-derer Wichtig-keit, wenn noch wenig über die kausalen Zusammen-hänge zwischen Emission, Exposition und Wirkung bekannt ist (Kap. C 3).

Die 4. Frage schließlich umfaßt die normative Komponente der Risikoakzeptanz. Dabei geht es um die Beantwortung der folgenden Fragen:

• Welche unerwünschten Folgen sind für eine Ge-sellschaft noch tragbar und welche nicht?

• Wieviel Ungewißheit ist hinnehmbar, wenn die Folgen katastrophale Auswirkungen haben kön-nen?

• Sind positive und negative Folgen in den Augen der betroffenen Personen (auch global) gerecht verteilt?

Alle 3 Aspekte, die Verrechenbarkeit von negativen und positiven Folgen, die Auswahl einer Strategie zum Umgang mit Unsicherheit sowie die Verteilung von antizipierten Folgen über unterschiedliche Gruppen, müssen bei der Frage nach der Akzeptabi-lität von Risiken berücksichtigt werden (Rowe, 1979;

Fischhoff et al., 1981; NRC, 1983; Clarke, 1989; Hood et al., 1992; Vlek, 1996).

Um solche Bewertungen systematisch durch-führen zu können, schlägt der Beirat eine Risikoklas-sifizierung vor, die bestimmte Risikotypen zusam-menfaßt und jeweils nach Typ getrennt Strategien für den rationalen Umgang mit den Risiken festlegt. In Kap. C 4 sind diese Typen erklärt und abgeleitet. Die daraus folgenden Handlungsanleitungen finden sich in den Kap. F und G. Solche Bewertungen sind of-fensichtlich keine rein wissenschaftlichen, auf Wissen beruhenden Entscheidungen, sondern setzen die ex-plizite oder zumindest imex-plizite Einbeziehung von sozialen und kulturellen Werten und Präferenzen der betroffenen Individuen und Gruppen in einer Ge-sellschaft voraus (Shrader-Frechette, 1991).

1.2

Begriffliche Abgrenzungen: Risiko und Unsicherheit

Schadensausmaß

Die beiden zentralen Kategorien, die beim Thema Risiko eine Rolle spielen, sind Schadensausmaß und Eintrittswahrscheinlichkeit (Knight, 1921; NRC, 1983; Fischhoff et al., 1984; Fritzsche, 1986; Short, 1984; Bechmann, 1990; EC, 1993; Kolluru und Bro-oks, 1995; Hood und Jones, 1996; Banse, 1996; Rosa, 1997). Unter Schaden soll hier eine im allgemeinen Verständnis der Bevölkerung (d. h. von der überwie-genden Zahl der Menschen intuitiv) als negativ be-wertete Auswirkung einer menschlichen Aktivität (etwa Unfälle durch Autofahren, Krebs durch

Rau-37 Begriffliche Abgrenzungen: Risiko und Unsicherheit C 1.2

chen, Waldsterben durch Schadstoffe) oder eines Er-eignisses (etwa Vulkanausbruch, Erdbeben, Explosi-on) verstanden werden. Die Dimension, die durch ei-nen Schaden als verletzt angesehen wird, bezeichnet man als Schutzgut. Welche Schutzgüter im Rahmen globaler Umweltrisiken von Bedeutung sind, wird in Kap. C 2 im einzelnen aufgeführt. Als Schadens- oder Gefährdungspotential gilt die Summe der möglichen Schäden, die durch eine Aktivität oder durch ein Er-eignis ausgelöst werden könnten. Rein formal be-trachtet ist die Summe der denkbaren Schäden im-mer unendlich, da man sich zu jedem Ereignis mit ner einmal abgeschätzten Zahl von Schäden auch ei-nen alternativen Schadensverlauf mit einer noch größeren Zahl an Schäden vorstellen kann. In der Praxis zeigt sich aber, daß es durchaus möglich ist, Begrenzungen des maximal möglichen Schadensaus-maßes anzugeben (Morgan, 1990). Offenkundig ist das Schadenspotential eines Autounfalls geringer einzustufen als das Potential, das bei der Explosion eines Chlorgaslagers freigesetzt werden könnte.

Eintrittswahrscheinlichkeit

Die Frage nach der Eintrittswahrscheinlichkeit er-zeugt größere terminologische Probleme. Anders als bei der Messung physischer Schäden gibt es keine eindeutige Methode zur Bestimmung von Eintritts-wahrscheinlichkeiten (Tittes, 1986; Hauptmanns et al., 1987; Kaplan und Garrik, 1993). Tritt ein Ereignis immer wieder zu einem bestimmten Zeitpunkt ein (etwa Ebbe und Flut oder Jahreszeitenwechsel), dann spricht man nicht von einem Risiko, sondern von einem sicheren Ereignis, selbst wenn dieses Er-eignis in der Zukunft liegt. Denn in diesem Fall liegt die Eintrittswahrscheinlichkeit bei 1; d. h. das Ereig-nis wird mit Sicherheit eintreten. Solche EreigEreig-nisse werden in diesem Gutachten nicht behandelt. Der Begriff Risiko wird vielmehr auf die Schadensereig-nisse angewandt, bei denen Informationen oder auch nur Spekulationen über die relative Häufigkeit die-ses Ereignisdie-ses über die Zeit vorliegen, der genaue Zeitpunkt des Ereignisses oder zumindest das Aus-maß von zyklischen Ereignissen aber ungewiß blei-ben.

In der Medizin wird der Begriff des Risikos auch zur Charakterisierung einer Schadensmöglichkeit verwandt, bei dem nicht der Zeitpunkt des Gefah-reneintritts ungewiß ist, sondern die Zahl und die Identität der Personen, die vom Schaden betroffen sind (Lave, 1987; Graham et al., 1988). In der Kanze-rogenese können identische Expositionen von Indi-viduen in einem Fall zur Tumorbildung führen, in ei-nem anderen Fall dagegen nicht (Hoberg, 1994). So mag ein Raucher bei einem Konsum von 10 Zigaret-ten am Tag Lungenkrebs entwickeln, während ein anderer bei gleichen Konsumgewohnheiten

ver-schont bleibt. Risikoabschätzungen machen es daher prinzipiell unmöglich, auf der Basis beobachteter oder geschätzter Häufigkeiten von Ereignissen über die Zeit oder über eine Menge von Individuen hin-weg konkrete Schadensfälle im einzelnen vorherzu-sagen (Rowe, 1983). Risikoausvorherzu-sagen beziehen sich immer auf Wahrscheinlichkeiten. Die Tatsache, daß ein Ereignis im Durchschnitt 1mal in 1.000 Jahren zu erwarten ist, sagt folglich nichts über den Zeitpunkt aus, an dem das Ereignis wirklich stattfinden wird: Es kann morgen, erst in 10.000 Jahren oder auch noch später eintreffen.

Um die Qualität der Ungewißheit, die mit der Ab-schätzung der Wahrscheinlichkeit von Schadenspro-gnosen einhergeht, terminologisch zu fassen, werden in der Literatur unterschiedliche Begriffe verwandt (Fritzsche, 1986; Häfele et al., 1990; Bonß, 1991; Be-roggi und Kröger, 1993; Bechmann, 1994; Rosa, 1997). Dabei stößt man auf Begriffe wie Unsicher-heit, UngewißUnsicher-heit, Ahnungslosigkeit, Unbestimmt-heit oder auch Undeutlichkeit. Um Fehlinterpreta-tionen so weit wie möglich zu vermeiden, geht der Beirat in diesem Gutachten von folgenden Begriffs-bestimmungen zur Charakterisierung von Unge-wißheit bei Risikoabschätzungen aus:

Ahnungslosigkeit bedeutet Unkenntnis sowohl über die möglichen Schadensfolgen als auch über die Eintrittswahrscheinlichkeit. So war die Gesellschaft z. B. in den 50er Jahren ahnungslos über die Wirkun-gen der FCKW auf die stratosphärische Ozonschicht, oder Ende der 70er Jahre in Bezug auf AIDS. Im Sta-dium der Ahnungslosigkeit kann man allgemeine Strategien der vorsichtigen Umsetzung, der weiteren Forschung und der in Kap. G näher beschriebenen Vorsorgemaßnahmen empfehlen.

Ein unbestimmtes Risiko kennzeichnet dagegen eine Situation, in der das Schadensausmaß zwar weit-gehend bekannt ist, man aber keine verläßlichen Aussagen über die Eintrittswahrscheinlichkeit ma-chen kann. Hat man dagegen Anhaltspunkte zur Be-stimmung sowohl der Eintrittswahrscheinlichkeit als auch des Ausmaßes (im Sinn einer Schadensausmaß-Wahrscheinlichkeits-Funktion) so wird der Grad der Verläßlichkeit dieser Bestimmung beider Risiko-komponenten als Abschätzungssicherheit bezeich-net. Ist die Verteilungsfunktion von Eintrittswahr-scheinlichkeiten und korrespondierenden Schadens-ausmaßen bekannt, ist die Abschätzungssicherheit hoch; ist diese jedoch nur in Ansätzen erkennbar und mit erheblichen Fehlerkorridoren versehen, dann ist die Abschätzungssicherheit gering. Läßt sich die Ab-schätzungssicherheit durch statistische Verfahren (beispielsweise 95%iges Konfidenzintervall) quanti-fizieren, wird von statistischer Unsicherheit gespro-chen.

38 C Risiko: Konzepte und Anwendungen

Die Bestimmung der statistischen Unsicherheit wird im Normalfall durch Methoden der klassischen Statistik durchgeführt. Sind dazu aber nicht genü-gend Daten aus der Vergangenheit verfügbar oder ist die Varianz der Verteilung sehr hoch, dann werden in den Sicherheitswissenschaften auch subjektive Schätzwerte als Annäherung an die „objektive“ Ver-teilung relativer Häufigkeiten verwendet (Haupt-manns et al., 1987; Edwards, 1968).

Die allgemeine Tatsache, daß alle Risikoabschät-zungen unsicher bleiben, soll hier mit dem Begriff der Ungewißheit umschrieben werden. Ungewißheit ist also der Überbegriff für Ahnungslosigkeit und Unbestimmtheit. In der Literatur wird dieser nicht auflösbare Unsicherheitsraum auch häufig mit dem Terminus Unsicherheit belegt (Krücken, 1997). We-gen der leichten Verwechslungsgefahr mit dem Be-griff der statistischen Unsicherheit bevorzugt der Beirat in diesem Gutachten den Begriff der Unge-wißheit, wenn die grundsätzliche Unfähigkeit zur de-terministischen Prognose von Schadensereignissen gemeint ist (Bonß, 1996). Ungewißheit ist eine grundsätzliche Eigenschaft des Risikos, während die Abschätzungssicherheit zwischen extrem hoch und extrem niedrig variieren kann.

Auch wenn es nicht möglich ist, auf der Basis von Risikoabschätzungen objektive Vorhersagen über einzelne Schadensereignisse zu machen, so ist die Abschätzung doch keineswegs beliebig (Rosa, 1997).

Wenn es 2 Handlungsoptionen gibt, bei denen das gleiche unerwünschte Ereignis mit unterschiedlicher Wahrscheinlichkeit eintrifft, dann ist die Folgerung für eine Entscheidung unter Ungewißheit eindeutig:

Jeder rational denkende Mensch würde sich für die Handlungsoption mit der geringeren Eintrittswahr-scheinlichkeit entscheiden (Renn, 1996). Gäbe es z. B. etwa beim russischen Roulette die Wahl zwi-schen einem Revolver mit 1 Kugel oder einem mit 2 Kugeln, dann ist offenkundig das Spiel mit 1 Kugel weniger risikoreich. Es ist dabei aber keineswegs aus-geschlossen, daß man beim Spiel mit 1 Kugel schon beim ersten Versuch das Leben verliert oder daß man beim Spiel mit 2 Kugeln mehrere Versuche überlebt.

Mathematisch gesehen sind Risikoereignisse Kombinationen von systematischen Kausalbezie-hungen (bzw. zyklischen Prozessen) und Zufallser-eignissen. Der Zufall drückt sich in 2 Dimensionen aus: zum einen in den Wahrscheinlichkeiten für ein bestimmtes Ereignis (Unsicherheit 1. Ordnung), zum anderen in der Streuung der Schadensereignisse bei gegebenen Wahrscheinlichkeiten (Unsicherheit 2.

Ordnung: Abschätzungssicherheit).

Gefahr und Risiko

Die Bedeutung von zufälligen Schwankungen macht auch die Schwierigkeit aus, einen objektiven Risiko-begriff zu definieren (Evers und Novotny, 1987;

Bradbury, 1989; Shrader-Frechette, 1991; Krohn und Krücken, 1993; Banse, 1996). Den Tatbestand einer objektiven Bedrohung durch ein zukünftiges Scha-densereignis bezeichnet man in der Regel als Gefahr (Scherzberg, 1993). Die Menschen sind andauernd Gefahren ausgesetzt, die sie gar nicht oder nur z. T.

kennen. Wenn Gefahren erkannt und charakterisiert worden sind, spricht Luhmann (1993) von Risiken.

Sie dienen als mentale Konstrukte, um Gefahren näher zu bestimmen und nach dem Grad der Bedro-hung, also nach Schwere und Häufigkeit des Scha-dens, zu ordnen oder sogar zu quantifizieren. Wegen der Ungewißheit über künftige Ereignisse sind Risi-koabschätzungen aber immer nur Annäherungen an die objektive Gefahr, die man nur nach dem Scha-densereignis sicher wissen kann. Denn es gibt keine Möglichkeit, eine Risikoabschätzung zum Zeitpunkt der Prognose eindeutig als falsch zu entlarven (Rowe, 1984). Selbst wenn beispielsweise in den nächsten 10 Jahren 2 Kernkraftwerke einen GAU (größter anzunehmender Unfall) erleben sollten, heißt das noch lange nicht, daß die Ergebnisse der gängigen Risikoabschätzungen für Kernkraftwerke (im Schnitt ein GAU alle 100.000 Jahre) falsch seien.

Ebensowenig muß ein Roulettetisch gezinkt sein, wenn eine Person 3mal hintereinander auf die richti-ge Zahl setzt. Die Eintrittswahrscheinlichkeit sagt nur aus, daß bei Betrachtung eines sehr großen Zeit-raums ein Ereignis unter konstanten Rahmenbedin-gungen mit einer bestimmten relativen Häufigkeit zu erwarten ist.

Die Einengung des Risikobegriffs auf die relative Häufigkeit von unerwünschten Ereignissen ist der Versuch, auf der Basis von Erfahrungen aus der Ver-gangenheit und der Modellierung der Zukunft be-grenzte Prognosen über zukünftige Ereignisse zu er-stellen. Dabei wird v. a. auf die 2 Risikokomponenten Eintrittswahrscheinlichkeit und Schadensausmaß zurückgegriffen, während andere risikorelevante Aspekte ausgeblendet werden. Aus diesem Grund vermeiden viele Theoretiker der Risikoanalyse die Begriffe „wahres“ oder „objektives“ Risiko, weil es sich bei Risiko grundsätzlich um ein mentales Kon-strukt zur Erfassung komplexer Wirkungsketten mit Zufallsereignissen handelt, die keine direkte Ent-sprechung in der Wirklichkeit haben (Shrader-Fre-chette, 1991; Rayner, 1993; Rohrmann, 1995a; Kun-reuther und Slovic, 1996).

Wenn der Beirat dennoch von dem Begriff des ob-jektiven Risikos ausgeht, dann ist damit ein Idealtyp gemeint, dessen inhaltliche Füllung sich erst ex post, also nach Ende der Lebensdauer einer Risikoquelle

39 Das intuitive Verständnis von Risiken C 1.3

oder bei Naturereignissen erst am Ende der Erdge-schichte, als Verteilungsmuster von Schadensereig-nissen über eine Menge von Individuen oder über die Zeit herauskristallisiert. Das objektive Risiko ist also eine ideale Größe, die man als relative Häufigkeit er-kennbarer Verteilungsmuster von Schadensereignis-sen in Rückschau auf die gesamte Zeitspanne, in dem das Ereignis überhaupt eintreten kann, definieren kann. Das abgeschätzte Risiko und das objektive Ri-siko liegen um so enger beieinander,

• je genauer das betrachtete System in seinen Kau-salzusammenhängen oder Tendenzen verstanden ist,

• je mehr über die relativen Häufigkeiten bekannt ist,

• je geringer der Systemwandel ist, d. h. je weniger man Änderungen der kausalen Beziehungen in Zukunft erwartet.

Risikoanalyse

Auf der Basis dieser Überlegungen können weitere terminologische Klärungen vorgenommen werden.

So ist die Risikoanalyse der Versuch, mit wissen-schaftlichen Methoden möglichst realitätsgetreu die Eintrittswahrscheinlichkeiten von konkreten Scha-densfällen oder die Wahrscheinlichkeitsfunktion von Schadensausmaßen auf der Basis von Beobachtung, Modellierung und Szenariobildung qualitativ und so weit wie möglich quantitativ zu bestimmen (NRC, 1982; Krewski und Birkwood, 1987; EC, 1993; IAEA, 1995; Kolluru, 1995). Mit Hilfe von Risikoanalysen wird versucht, möglichst objektiv den Erwartungs-wert eines Risikos, d. h. das erwartete Schadensaus-maß, gemittelt über die Zeit oder über Risikoobjek-te (etwa Individuen), zu bestimmen. Im denkbar ein-fachsten Fall kann der statistische Erwartungswert in die Zukunft extrapoliert werden, sofern der Risiko-auslöser sich nicht über die Zeit verändert (etwa der biologische Halbwertszeitraum) und keine relevante gesellschaftliche Intervention stattfindet (Häfele et al., 1990). Wenn im vergangenen Jahr im Straßenver-kehr X Menschen ums Leben gekommen sind, dann werden es bei nahezu gleichen Bedingungen im kom-menden Jahr ungefähr ebenso viele sein. Handelt es sich um komplexere Phänomene oder fehlen die Er-fahrungswerte aus der Vergangenheit, so müssen Wahrscheinlichkeiten modelliert oder synthetisiert werden. Die technisch-wissenschaftliche Risiko-perspektive schätzt also gefahrenauslösende Mo-mente und deren Einflüsse auf Umwelt und Gesund-heit ab, indem sie potentielle Auswirkungen und Ef-fekte modelliert.

Die Ergebnisse einer Risikoanalyse sind im enge-ren Sinn nicht oder zumindest nicht abschließend fal-sifizierbar (Marcus, 1988). Unter der Bedingung, daß sich die Risikoabschätzung auf überschaubare

Zeiträume bezieht und quantitative Konfidenzinter-valle umfaßt, können Ereignisse, die wiederholt außerhalb dieser Konfidenzintervalle liegen, aller-dings als Indikator für eine mangelhafte oder fehler-hafte Analyse dienen. Solche Ereignisse können auch mit dem Computer simuliert werden, so daß die

Zeiträume bezieht und quantitative Konfidenzinter-valle umfaßt, können Ereignisse, die wiederholt außerhalb dieser Konfidenzintervalle liegen, aller-dings als Indikator für eine mangelhafte oder fehler-hafte Analyse dienen. Solche Ereignisse können auch mit dem Computer simuliert werden, so daß die

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