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Charakterisierung von Risiken 3

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3.1

Die Bedeutung von Abschätzungssicherheit Normalerweise werden Risiken durch 2 Größen de-finiert: die Eintrittswahrscheinlichkeit und das Scha-densausmaß (Hauptmanns et al., 1987). Die Abschät-zung dieser beiden Größen ist abhängig von der Quantität und Qualität der jeweiligen Daten, die eine gültige Vorhersage von relativen Häufigkeiten erlauben. Von besonderer Bedeutung ist dabei die Abschätzungssicherheit, die sich im Idealfall durch statistische Streubreiten um Schaden und Wahr-scheinlichkeit ausdrücken läßt.

Mit dem Begriff der Abschätzungssicherheit ver-bindet der Beirat den Grad der Verläßlichkeit, mit der eine Aussage über die Wahrscheinlichkeit von Schadensereignissen getroffen werden kann. Norma-lerweise werden bei Risikoanalysen die beiden Va-riablen Schadenshöhe (z. B. von 1–10.000 Verletzten) und die entsprechenden Wahrscheinlichkeiten für jede Schadenshöhe (von extrem kleinen Wahrschein-lichkeiten bis nahezu 1 für ein fast sicheres Ereignis) einander gegenübergestellt. Auf diese Weise erhält man eine Funktion, bei der man für jede Schadens-höhe die entsprechende Wahrscheinlichkeit ablesen kann. Meist gibt es aber keine klaren und eindeuti-gen Hinweise, welche Wahrscheinlichkeit mit einer bestimmten Schadenshöhe verbunden ist. Hat man nur begrenzte Datenmengen aus Beobachtungen vergangener Ereignisse zur Verfügung, dann kann man mit Hilfe der induktiven Statistik einen Streu-bereich angeben, innerhalb dessen mit einer 95%igen oder 99%igen Wahrscheinlichkeit der wah-re Wert für die einem bestimmten Schaden zugeord-nete Wahrscheinlichkeit liegen muß.

Oft liegen aber nicht einmal Stichproben oder Da-ten aus Beobachtungsreihen vor. In diesen Fällen müssen auch Expertenurteile als Ersatz für empiri-sche Datensätze aus Beobachtungen der Vergangen-heit herangezogen werden. Dabei wird entweder eine große Zahl von Experten gebeten, die Streu-breite zu schätzen, wobei die jeweils von den einzel-nen Experten angegebeeinzel-nen Streubreiten statistisch

zu einem Intervall verrechnet werden. Oder die Ex-perten werden gebeten, eine möglichst punktgenaue Schätzung abzugeben, wobei dann die Streuung zwi-schen den Experten als Streubreite nach weiterer Berechnung übernommen wird. In beiden Fällen er-hält man eine Funktion zwischen Wahrscheinlichkeit und Schadensausmaß, die zu jeder Schadensausprä-gung einen Mittelwert (Punkt auf der Funktion) und einen Streubereich (Fehlerbalken) erhält. Unter Umständen kann es auch sinnvoll sein, die Wahr-scheinlichkeit festzulegen und den Streubereich um die Schadenshöhe zu positionieren. In diesem Fall lautet die Frage: Wie streuen die Schadensausmaße bei einer Eintrittswahrscheinlichkeit von x%? Das Ergebnis der Ermittlung von Streubereichen kann grafisch in die Funktion von Schadensausmaß und Eintrittswahrscheinlichkeit mit dem Einblenden von Fehlerbalken (entweder zur Eintrittswahrscheinlich-keit oder zum Schadensausmaß) veranschaulicht werden. Abb. C 3.1-1 gibt einen idealtypischen Ver-lauf einer solchen Funktion wieder.

Die Abschätzungssicherheit ist um so höher, je kleiner der Fehlerbalken ist. Um diese Größe weiter zu normieren, hat es sich eingebürgert, diese Ab-schätzungssicherheit als einen Zahlenwert zwischen dem Wert 1 (hohe Sicherheit bzw. kein Fehlerbalken) und dem Wert 0 (geringe Sicherheit bzw. Fehlerbal-ken von 0 bis nahezu unendlich) anzugeben. Bei ei-nem Wert nahe 1 kann man mit Sicherheit davon aus-gehen, daß ein Schadensereignis mit einer Wahr-scheinlichkeit von x zu erwarten ist.Auch dieser Wert x ist natürlich ein Grenzwert der Häufigkeitsvertei-lung (also keine Prognose für den Einzelfall), aber alle Experten sind sich hier einig, daß er die wahren Verhältnisse präzise widerspiegelt. Bei einem Wert nahe 0 sind sich offenkundig alle Experten uneins oder die Beobachtungsdaten streuen derart, daß zwar eine Mittelwertbildung möglich, die Streuung um diesen Mittelwert aber erheblich ist. Bei Werten nahe 0 wird auch die Grenze zur Unbestimmtheit bzw. Ahnungslosigkeit (zusammengefaßt unter dem Begriff Ungewißheit) überschritten. Denn offenkun-dig sind die Daten oder Schätzungen so breit

ge-54 C Risiko: Konzepte und Anwendungen

streut, daß man nicht von einem gesicherten Wissen ausgehen kann.

Man kann sich die Abschätzungssicherheit am Beispiel einer Lotterie mit schwarzen und weißen Kugeln veranschaulichen. Bei einer Abschätzungssi-cherheit von 1 (hohe SiAbschätzungssi-cherheit) kennt man genau die Anzahl der schwarzen und weißen Kugeln. Aus diesem Grund kann exakt angeben werden, mit wel-cher Wahrscheinlichkeit eine schwarze oder weiße Kugel gezogen wird. Bei niedriger Abschätzungssi-cherheit (hoher Fehlerbalken) ist die Anzahl der weißen oder der schwarzen Kugeln (bzw. deren Ver-hältnis in der Urne) jedoch nicht bekannt. Sie muß indirekt aus einer Zahl von Ziehungen oder aus den Schätzungen einiger Experten, die einen kurzen Blick auf die Urne haben werfen können, erschlossen werden. Mit Hilfe der klassischen Statistik (im Fall des mehrfachen Ziehens einer Kugel) oder der Bayesian Statistik (im Fall der Expertenurteile) kann eine Approximationen über das Verhältnis von schwarzen und weißen Kugeln getroffen werden, für die wiederum eine Wahrscheinlichkeit (2. Ordnung) angeben werden kann. Somit ist es möglich, mit einer Wahrscheinlichkeit von beispielweise 95% bei einer langen Reihe von Ziehungen die maximale Anzahl von weißen Kugeln vorherzubestimmen, ohne daß der genaue Erwartungswert für die Ziehung einer weißen Kugel bekannt ist.

Die Größe Abschätzungssicherheit spielt bei der Betrachtung von globalen Risiken eine entscheiden-de Rolle. Denn selbst wenn entscheiden-der statistische Mittel-wert für einen globalen Schaden relativ niedrig ist, kann der Fehlerbalken dennoch weit streuen, d. h. es kann noch große Unsicherheit darüber herrschen, ob die Wahrscheinlichkeit für einen globalen Schaden

nicht wesentlich größer oder auch kleiner ist, als es der Mittelwert signalisiert. 2 Ereignisse mit dem glei-chen Mittelwert auf der Ausmaß-Wahrscheinlich-keits-Funktion sind also sehr unterschiedlich zu be-trachten, je nachdem wie die Abschätzungssicherheit ausfällt. Ist sie hoch (nahe 1), dann sind meist Grenz-werte und technische Normen ausreichend, um das Risiko in den Normalbereich zu überführen. Ist sie aber niedrig (nahe 0), dann müssen vorsorgeorien-tierte Maßnahmen ergriffen werden, um auch für den Fall einigermaßen gerüstet zu sein, daß sich der obe-re Rand des Fehlerbalkens als obe-realistisch erweist.

Beim Vorliegen von großen Datenmengen mit ge-ringer Varianz, langen Beobachtungszeiträumen mit kleinen Zeitspannen zwischen Ursachen und Wir-kungen und einer hohen Konstanz und Robustheit möglicher intervenierender Variablen kann man da-von ausgehen, daß die Abschätzungssicherheit rela-tiv hoch ist. In diesen Fällen spricht der Beirat von Unbestimmtheit und Ahnungslosigkeit, die beide un-ter den Oberbegriff der Ungewißheit subsumiert werden. Bei ungewissen Ereignissen beruht die Un-wissenheit in Bezug auf Schadensausmaß und Ein-trittswahrscheinlichkeit entweder auf (prinzipiell be-hebbaren) Informationsdefiziten, auf mangelnder Kenntnis von Erfahrungswerten aus der Vergangen-heit (singuläre Ereignisse oder extrem lange Zy-klen), auf mangelnder Erkenntnismöglichkeit der sy-stematischen Kausalkette (z. B. undurchschaubares Geflecht an intervenierenden Variablen) oder auf unzureichender Signifikanz des Schadens gegenüber dem Hintergrundrauschen des Zufalls. Bei unbe-stimmten Risiken sind nur die Eintrittswahrschein-lichkeiten, im Fall der Ahnungslosigkeit zusätzlich das Schadenspotential unbekannt. Solche Risiken

a

b

Fehlerkorridor von Kurve a

Fehlerkorridor von Kurve b Dosis-Wirkungs-Kurve a (ohne Schwellenwert)

Dosis-Wirkungs-Kurve b (mit Schwellenwert)

Schwellenwert Schwellenwert von Kurve b

1

0

Dosis

Wahrscheinlichkeit

gering hoch

Abbildung C 3.1-1 Dosis-Wirkungs-Funktion mit Fehlerkorridoren.

Quelle: WBGU

55 Zusätzliche Differenzierung der Beurteilungskriterien C 3.2

müssen durch antizipative Strategien der Risikover-meidung und Ertüchtigung des Sozialsystems ange-gangen werden (Collingridge, 1996). Auf diese bei-den Typen von Risiken wird in Kap. G ausführlich eingegangen. Eine geringe Abschätzungssicherheit deutet auf eine unzureichende Datenbasis oder auf Ereignisse mit einem hohen Zufallsanteil hin.

Es ist sinnvoll, zwischen Unbestimmtheit (Wahr-scheinlichkeit unbekannt) und Ahnungslosigkeit (beide Komponenten unbekannt) zu differenzieren.

Versicherungen können beispielsweise noch recht gut mit Risiken umgehen, bei denen eine hohe Ab-schätzungssicherheit auf der Schadensumfangseite herrscht, auch wenn die Abschätzungssicherheit bei den Eintrittswahrscheinlichkeiten zu wünschen übrig läßt (Kleindorfer und Kunreuther, 1987). Wenn aber auch das Schadensausmaß sehr unsicher bleibt, ist es für Versicherungen fast unmöglich, eine ko-stendeckende Prämie festzusetzen. In diesem Fall könnten z. B. private oder öffentliche Fondslösungen greifen (Kap. F 3).

Der Beirat stellt fest, daß die Wahl der Instrumen-te für das Management eines Risikos also nicht nur von Schadensausmaß und Eintrittswahrscheinlich-keit, sondern auch von der jeweiligen Abschätzungs-sicherheit abhängt.

3.2

Zusätzliche Differenzierung der Beurteilungskriterien

Neben diesen beiden klassischen Komponenten des Risikos sollten noch weitere Bewertungselemente in die Charakterisierung von Risiken aufgenommen werden (Kates und Kasperson, 1983; California En-vironmental Protection Agency, 1994; Haller, 1990).

Diese Bewertungselemente lassen sich aus den Un-tersuchungen über Risikowahrnehmung ableiten, sie werden in einer Reihe von Ländern (etwa Däne-mark, Niederlande und Schweiz) bereits als Kriterien benutzt oder sind dort für Risikobewertungsverfah-ren vorgeschlagen worden. Von besonderer Bedeu-tung sind dabei folgende Kriterien:

• Ubiquität: räumliche Verbreitung des Schadens oder des Schadenspotentials (intragenerationale Gerechtigkeit)

• Persistenz: zeitliche Ausdehnung des Schadens oder des Schadenspotentials (intergenerationale Gerechtigkeit)

• Irreversibilität: Nichtwiederherstellbarkeit des Zustandes vor Schadenseintritt. Dabei geht es im Umweltbereich vorrangig um die typenmäßige Wiederherstellbarkeit im Rahmen eines dynami-schen Wandels (etwa Wiederaufforstung oder Reinigung des Wassers möglich), nicht um die

in-dividuelle Restaurierung des Urzustandes (etwa Erhalt eines individuellen Baumes oder Ausmer-zung nicht einheimischer Pflanzen- und Tierar-ten).

• Verzögerungswirkung: Damit ist die Möglichkeit gemeint, daß zwischen dem auslösenden Ereignis und der Schadensfolge eine lange Latenzzeit herrscht. Diese Latenzzeit kann physikalischer (langsame Reaktionsgeschwindigkeit), chemi-scher oder biologichemi-scher Natur sein (etwa bei vie-len Krebserkrankungen oder mutagenen Verän-derungen) oder sich als Folge einer langen Varia-blenkette (etwa Aussetzen des Golfstroms auf-grund von Klimaveränderungen) ergeben.

• Mobilisierungspotential (Akzeptanzverweige-rung): Darunter versteht man die Verletzung von individuellen, sozialen oder kulturellen Interessen und Werten, die eine entsprechende Reaktion der Betroffenen hervorruft. Diese Reaktionen umfas-sen den offenen Protest, den Entzug von Vertrau-en in die Entscheidungsträger, geheime Sabotage-akte oder andere Formen der Gegenwehr. Auch psychosomatische Folgen lassen sich in diese Ka-tegorie aufnehmen.

Andere aus der Wahrnehmungsforschung bekannte Beurteilungskriterien sind vollständig oder hinrei-chend durch die hier ausgewählten Kriterien erfaßt.

Läßt man die einschlägigen Arbeiten zur Risiko-wahrnehmung Revue passieren, so verbinden die meisten Menschen mit Risiken auch Fragen der Kon-trollierbarkeit (individuell und institutionell), der Freiwilligkeit, der Gewöhnung an die Risikoquelle und einer gerechten Risiko-Nutzen-Verteilung (Jun-germann und Slovic, 1993b). Die Beurteilung der Kontrollierbarkeit ist einerseits in den Kriterien der Ubiquität und Persistenz von ihrer physikalischen Seite und in dem Kriterium der Mobilisierung von ih-rer sozialen Seite her erfaßt. Das Kriterium der Frei-willigkeit läßt sich aus kollektiver Sicht kaum als Be-wertungskriterium für gesellschaftliche Risiken her-anziehen, weil es sich bei den hier interessierenden Fällen um Risiken handelt, die auf andere überwälzt werden. Das mit aufgezwungenen Risiken verbunde-ne Protestpotential ist im Kriterium Mobilisierung enthalten. Die Gewöhnung an eine Risikoquelle ist für sich allein genommen kein normativ sinnvolles Bewertungskriterium, da man sich auch an große möglicherweise inakzeptable Risiken gewöhnen kann (z. B. Unfälle im Straßenverkehr).

Hinter dem Wunsch, gewohnte Risiken positiver zu beurteilen als neuartige Risiken, steht aber die be-rechtigte Sorge, daß man den Grad der Unsicherheit bei dem Eingehen von Risiken noch nicht hinrei-chend abschätzen kann und man daher eher vorsich-tig vorgehen sollte. Dieser Aspekt ist in unserem

Kri-56 C Risiko: Konzepte und Anwendungen

terienkatalog durch die Größe Abschätzungssicher-heit erfaßt.

Die Kriterien der Verteilungsgerechtigkeit sind dagegen schwieriger zu fassen, da es an intersubjek-tiv gültigen Maßstäben zur Messung von Gerechtig-keit und UngerechtigGerechtig-keit fehlt. Problemlos läßt sich die Frage nach der Identität zwischen Nutznießern einer Aktivität und den vom Risiko betroffenen Menschen beantworten.

Liegt Identität vor, dann erscheint eine individuel-le Risikoregelung sinnvoll, wie bereits oben begrün-det. Anderenfalls müssen dagegen kollektive Rege-lungsmechanismen eingesetzt werden. Diese können von haftungsrechtlichen Verpflichtungen (und damit einer erneuten Individualisierung) bis hin zu Partizi-pationsrechten der Risikoträger an den Entschei-dungen oder zu genehmigungsrechtlichen Vorschrif-ten reichen. Inwieweit die Asymmetrien als unge-recht empfunden werden und ob Kompensationen monetärer oder ideeller Art als adäquater Ausgleich angesehen werden, ist allerdings eine Frage der im je-weiligen Kultursystem herrschenden Wertvorstellun-gen.

In den meisten Fällen ist eine fallweise Betrach-tung der Auswirkungen notwendig, um eine Verlet-zung des Gerechtigkeitspostulats intersubjektiv zu begründen. Einen Hinweis auf eine möglicherweise ungerechte Verteilung von Lasten geben die beiden Indikatoren Ubiquität und Persistenz. Ein sich global auswirkendes Risiko betrifft in der Regel die intra-generative Gerechtigkeit, ein persistentes Schadens-potential wirkt sich auf kommende Generationen aus. Beim Vorliegen von Extremwerten bei diesen beiden Indikatoren ist der Verdacht auf eine unge-rechte Verteilung angebracht. Aber erst die Analyse des Einzelfalles kann zweifelsfrei klären, ob be-stimmte Gerechtigkeitspostulate erfüllt bzw. verletzt sind.

Vorschläge für eine multidimensionale Bewer-tung von Risiken finden sich auch in der analytischen

und philosophischen Literatur zum Risiko (Hohe-nemser et al., 1983; Akademie der Wissenschaften zu Berlin, 1992; Shrader-Frechette, 1985; Gethmann 1993; Femers und Jungermann, 1991). Dabei werden z. T. ähnliche, z. T. leicht abweichende Kriterien zur Bewertung vorgeschlagen. In die nationale Gesetz-gebung sind bislang in Dänemark, den Niederlanden und der Schweiz mehrdimensionale Bewertungsver-fahren explizit aufgenommen worden. Andere Län-der, v. a. die USA, nehmen zudem in der praktischen Standardsetzung durch ihre Beratungsgremien sol-che Bewertungen nach verschiedenen Kriterien vor (Hattis und Minkowitz, 1997; Beroggi et al., 1997; Pe-tringa, 1997; Löfstedt, 1997). Der Beirat empfiehlt ein solches Vorgehen auch in Deutschland, v. a. bei der Beurteilung globaler Risiken.

Die vom Beirat empfohlenen Kriterien sind in Tab. C 3.2-1 zusammengefaßt. Diese Tabelle dient im Verlauf des weiteren Gutachtens zur Kennzeichnung der verschiedenen hier behandelten Risiken und hilft bei der Ableitung von Risikoprioritäten. Zusätz-lich dienen diese Kriterien dazu, bestimmte Risiko-klassen festzulegen (Kap. C 4).

3.3

Risikobewertung im Rahmen des Leitplankenkonzepts des Beirats

Welche Rolle spielen diese Kriterien für die Bewer-tung von Risiken? In der Vergangenheit hat der Bei-rat das „Leitplankenkonzept“ entwickelt (WBGU, 1996a). Dieses Konzept ist von dem Gedanken ge-prägt, daß bestimmte Schadensmöglichkeiten so weitreichende Substanzverluste mit sich bringen, daß diese nicht durch die damit verbundenen Nutzenge-winne gerechtfertigt werden können. Werden be-stimmte Schadensgrenzen überschritten, dann sind so viele oder so starke negative Folgewirkungen zu erwarten, daß auch große einmalige Nutzenvorteile

Kriterium Bandbreite

Eintrittswahrscheinlichkeit W 0 bis gegen 1

Abschätzungssicherheit von W Geringe bzw. hohe Abschätzungssicherheit bei der Schätzung der Wahrscheinlichkeit

Ausmaß der Schadensfolgen A 0 bis gegen unendlich

Abschätzungssicherheit von A Geringe bzw. hohe Abschätzungssicherheit bei der Schätzung des Schadensausmaßes

Ubiquität Lokal bis global

Persistenz Kurze bis sehr lange Abbaurate

Irreversibilität Schaden nicht rückholbar bis Schaden rückholbar Verzögerungswirkung Große zeitliche Distanz zwischen auslösendem

Ereignis und Schaden

Mobilisierungspotential Keine politische Relevanz bis hohe politische Relevanz

Tabelle C 3.2-1

Bandbreite der Kriterien.

Quelle: WBGU

57 Risikobewertung im Rahmen des Leitplankenkonzepts des Beirats C 3.3

diese Schäden nicht ausgleichen können. Der Beirat hat diesem Phänomen durch die Festlegung von öko-logischen und sozialen Leitplanken Rechnung getra-gen. Bestimmte ökologische Funktionen dürfen nicht gefährdet und bestimmte wirtschaftliche und soziale Errungenschaften nicht aufs Spiel gesetzt werden, um etwa kurzfristige wirtschaftliche Vorteile zu erzielen oder bestimmte Umweltschutzmaßnah-men durchzusetzen.

Bei der Frage nach der Bewertung der Risiken ist dieses Leitplankenkonzept zu erweitern. Da die Schäden ja nur mit einer bestimmten Wahrschein-lichkeit eintreten können, kann eine eindeutige Leit-planke nicht mehr definiert werden. Abgesehen von den Fällen, wo große Schäden mit hinreichend großer Wahrscheinlichkeit eintreffen können, läßt sich kaum eine trennscharfe Leitplanke definieren, bei der eine Abwägung zwischen Kosten- und Nut-zen zugunsten eines eindeutigen Verbots oder eines Verzichtes entfallen sollte. Statt dessen schlägt der Beirat eine „Leitfläche“ vor, die signalisieren soll, daß hier besondere Sorgfalt bei der Steuerung und Regulierung von Risiken erforderlich ist. Mit dem Begriff der Leitfläche wird signalisiert, daß institu-tionelle Regelungen erforderlich sind, um zu einer adäquaten Bewertung und Regulierung zu kommen.

Risiken, die in diese Leitfläche fallen, sind deckungs-gleich mit den oben bereits erwähnten Risiken im Grenzbereich, ggf. im Verbotsbereich.

Mit Hilfe der 8 Bewertungskriterien ist es jetzt möglich, klarer zwischen Normalbereich und Grenz-bereich zu differenzieren und Risiken nachvollzieh-bar in den einen oder anderen Bereich einzuordnen.

Risiken erreichen dann den Grenzbereich, d. h.

berühren die Leitfläche, wenn die einzelnen Kriteri-en der Risikocharakterisierung Extremwerte anneh-men. Werden mehrere Extremwerte bei ein und der-selben Risikoquelle überschritten, befindet man sich in der Regel im Verbotsbereich.

So können die Eintrittswahrscheinlichkeiten ge-gen 1 streben oder das Schadensausmaß kann gege-gen unendlich tendieren. Eine Leitfläche wird auch dann erreicht, wenn die Abschätzungssicherheit unendlich klein wird oder wenn die Folgen irreversibel, nicht-kompensierbar und zugleich in hohem Maß persi-stent und ubiquitär sind, selbst wenn man über die Höhe des möglichen Schadens noch wenig weiß. Im nächsten Kapitel wird versucht, Musterklassen für Risiken anzugeben, die einen oder mehrere Extrem-werte erreichen.

Bildung von Risikotypen

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