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Integrierte Risikoanalyse E

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Risikomodulatoren (Verstärker und Einflußfaktoren) 1

1.1 Einleitung

Risiken können für die Menschen in Form eines Un-glücks oder Unfalls zu bedrohlichen Ereignissen werden. Dabei gibt es unterschiedliche Faktoren, wie den Menschen selbst, seine institutionellen Regelun-gen oder die Verwundbarkeit technologischer Syste-me, welche die Eintrittswahrscheinlichkeit, das Aus-maß, die Wahrnehmung, die Bewertung und die Be-wältigung von Risiken beeinflussen. Die Risikofor-schung hat ursächliche Strukturen entdeckt, die für die Risikohandhabung, das Ereignis und die Konse-quenzen von entscheidender Bedeutung sind.

Dabei ist es zunächst wichtig, zwischen Ereignis-sen und Konsequenzen zu unterscheiden. Tritt ein Risiko als Ereignis ein, wird es erst dann für den Menschen und die Umwelt zu einer Bedrohung, wenn die Konsequenzen von den Menschen als Schä-digung bewertet werden. So kann beispielsweise das Feuer bei Wald- und Flächenbränden durchaus eine natürliche Funktion in Ökosystemen haben, die für den Menschen oder die Natur keine bedrohlichen Konsequenzen bedeuten müssen. Brände können aber auch anthropogen verursacht oder verstärkt werden, um etwa Bewirtschaftungs- und Nutzungs-fläche zu gewinnen. Hierdurch können Menschenle-ben und Gesundheit gefährdet und Ökosysteme geschädigt werden, wobei das Problem auftritt, daß die Schädigungen unabhängig vom Verursacher sind, wie z. B. bei den Waldbränden in Indonesien.

Oft lösen mehrere gleichzeitige Ereignisse, die je-des für sich genommen womöglich keine größere Be-drohung darstellen, ein Ergebnis aus, das in seinen Konsequenzen für die Menschen und die Umwelt zur Bedrohung wird.

Am Beispiel „großflächige Waldbrände in Indo-nesien“ läßt sich dies weiter veranschaulichen. Dort sind es mehrere Ereignisse, die das Ergebnis auslö-sen. Zum einen macht das natürliche Phänomen El Niño durch die Trockenheit die Waldbrände erst möglich und gibt die Windrichtung vor. Zum anderen sind es fast ausschließlich Menschen, die Feuer legen,

weil sich z. B. Bauern durch Brandrodungen neue Nutzungsflächen erschließen wollen, illegaler Holz-einschlag vertuscht werden soll oder Spekulanten günstigeres Land zum Erwerb erhoffen. Bei den Konsequenzen gibt es ebenfalls unterschiedliche Di-mensionen, da Menschen und Ökosysteme gleicher-maßen geschädigt werden. Die Funktion des Ur-walds als CO2-Senke oder die biologische Vielfalt werden beeinträchtigt, die Menschen haben Atem-beschwerden und erleiden sogar Rauchvergiftungen.

Die dichten Rauchschwaden haben auch dazu beige-tragen, daß Schiffe kollidierten und Flugzeuge ab-stürzten. Abb. E 1.1-1 zeigt, daß zwischen den Stufen

„Pfade“ liegen, an denen anzusetzen ist, um Risiken zu kontrollieren und zu bewältigen.

Dieses einfache Schema muß für den Bereich der technischen Risiken ergänzt und verfeinert werden.

Hohenemser et al. (1985) haben bei technischen Ri-siken 7 Stufen einer ursächlichen Reihenfolge bzw.

Kette identifiziert. In Abb. E 1.1-2 werden nicht nur die 7 Stufen der „Risikokette“ bei technologischen Systemen dargestellt, sondern auch die Möglichkei-ten und Ansatzpunkte gezeigt, wodurch das Risiko-potential kontrolliert und verringert, die Eintritts-wahrscheinlichkeit eines bedrohlichen Ereignisses reduziert oder gar verhindert und das Ausmaß sowie die Konsequenzen vermindert werden können. Da-mit wird auch deutlich, daß eine Wechselwirkung zwischen Ereignis und menschlichem Verhalten be-steht. Die Darstellungen einfacher „Risikoketten“

geben natürlich nicht die Komplexität der Realität wieder, viele Details werden nicht berücksichtigt. Im allgemeinen haben komplexe Risikoketten eine Baumstruktur. So können beispielsweise schon ein-fache Techniken mehrere bedeutende Ergebnisse hervorrufen. Wichtig ist die hinter der Ursachenket-te sUrsachenket-tehende Logik, die zwischen Ereignissen und Konsequenzen unterscheidet und die Möglichkeit zur Kontrolle und Bewältigung bietet. Gibt es keine Kontrollen und Bewältigungsstrategien, die zwischen den einzelnen Stufen ansetzen oder einzelne Ereig-nisse bekämpfen, können das Zusammenkommen mehrerer Ereignisse oder die Aneinanderreihung mehrerer Ursachen die Eintrittswahrscheinlichkeit,

166 E Integrierte Risikoanalyse

das Ausmaß und die Auswirkungen des Risikos ver-stärken.

Die in diesem Kapitel vorgestellten Faktoren, die zur Verstärkung oder Abschwächung von Risiken beitragen, setzen an bestimmten Punkten der Ursa-chenkette an. So sind individuelle Risikoverstärker und -abschwächer u. a. bei den menschlichen Bedürf-nissen und Ansprüchen zu finden oder bei der Wahl der Technologie, die beispielsweise in der politischen Beteiligung eine Rolle spielen könnte. Die Verstär-kung oder Abschwächung von Risiken durch Orga-nisationen und ihre Systeme betreffen v. a. die Stu-fen, die nach der „Wahl der Technologie“ folgen. In-stitutionelle Regelungen spielen hingegen dann eine Rolle, wenn es darum geht, Vorkehrungen,

überge-ordnete Warnsysteme, Schutz- und Gegenmaßnah-men einzurichten, um das Ereignis, dessen Ergebnis und die daraus resultierenden Konsequenzen zu be-wältigen.

Am Beispiel der Kernenergie lassen sich die Stu-fen der Kette illustrieren. In der modernen Gesell-schaft brauchen die Menschen immer mehr Energie.

Die Menschen wünschen sich eine „saubere“ und langfristige Energieversorgung. Im Zeitalter der Ökologie soll die Erzeugung dieser Energie nicht-re-generierbare Ressourcen schonen und nicht zur Stei-gerung der CO2-Emissionen beitragen. Da die Kern-energie die steigenden Bedürfnisse und die an-spruchsvollen ökologischen Wünsche der Menschen zumindest in diesem Punkt erfüllen kann, könnte

Großflächige Waldbrände Feuerlegen

durch den Menschen Trockenheit durch El Niño

Starke Winde

Ereignis Pfade Ergebnis Pfade Konsequenzen Abbildung E 1.1-1

Ereignisse und

Konsequenzen am Beispiel der Waldbrände in Indonesien 1997.

Quelle: WBGU

ursächliche Reihenfolge bzw. Kette menschl.

Abbildung E 1.1-2

7 Stufen einer „Risikokette“ am Beispiel der Kernenergie.

Quelle: WBGU (nach Hohenemser et al., 1985)

167 Einleitung E 1.1

man diese Technologie wählen. Das auslösende Er-eignis kann nun ein Reaktorunfall oder ein techni-scher Fehler sein. Das Ergebnis ist die Freisetzung ra-dioaktiver Strahlung. Die in der Nachbarschaft des Kernkraftwerks wohnenden Menschen sind in sol-chen Fällen zumindest eine gewisse Zeit unmittelbar der Strahlung ausgesetzt, sofern sie nicht schon eva-kuiert werden konnten. Weiter entfernt lebende Menschen können auch betroffen sein, indem sie kontaminierte Nahrung zu sich nehmen, wie der Fall Tschernobyl gezeigt hat. Für die Menschen sind die Konsequenzen erhebliche gesundheitliche Schädi-gungen, wie z. B. akute Verstrahlungen, Krebs, Miß-geburten, Veränderungen des Erbguts usw. Die Um-welt wird radioaktiv verseucht.

Die Bewältigung des Risikos eines Kernkraft-werks kann nun an verschiedenen Punkten, wie Abb.

E 1.1-2 exemplarisch darstellt, ansetzen.Auf der indi-viduellen Ebene können die menschlichen Bedürf-nisse so verändert werden, daß „neue“ Lebensstile weniger Energie erfordern. Die menschlichen An-sprüche können auf alternative Technologien, wie z. B. Wind- oder Sonnenenergie, gelenkt werden, die dem Wunsch nach einer ökologisch verträglichen und langfristigen Energieversorgung womöglich noch gerechter werden. Diese „neuen“ individuellen Ansprüche könnten dann in den politischen Ent-scheidungsprozeß einfließen, wenn es um die Wahl der Technologie geht. Auf der organisatorischen Ebene kann das Betriebsmanagement höhere Si-cherheitsstandards einrichten und intelligentere Strategien zur Fehlervermeidung entwickeln, um die Eintrittswahrscheinlichkeit eines Unfalls oder eines Defekts zu senken. Wenn dann tatsächlich ein be-drohliches Ereignis eintritt, müßten Bewältigungs-strategien, wie z. B. betriebliche Frühwarnung, prä-ventiver Strahlenschutz oder direkte Gegenmaßnah-men, greifen, um die Freisetzung von Radioaktivität zu verhindern oder zumindest zu verringern. An die-sem und sogar am Punkt zuvor setzen aber auch in-stitutionelle Regelungen durch Behörden sowohl na-tional als auch internana-tional an. Nana-tionale Aufsichts-behörden oder internationale Organisationen wie die IAEO sollten nicht nur Auflagen zu Sicherheits-standards und Fehlervermeidungsstrategien über-prüfen, sondern auch Standards für präventiven Un-fallschutz oder direkte Hilfsaktionen vorgeben und Frühwarnsysteme einrichten. Institutionelle Rege-lungen und eine gut funktionierende Infrastruktur für direkte Katastrophenhilfe sind notwendig, wenn Menschen einer bedrohlichen Dosis an radioaktiver Strahlung ausgesetzt sind. Das schließt eine unmittel-bare, aber auch nachsorgende medizinische Hilfe, Evakuierungen und Umsiedlungen, Nahrungsmittel-versorgung usw. ein. Je besser und schneller die

di-rekten Hilfsmaßnahmen greifen, desto geringer sind die langfristigen Konsequenzen.

Die Beschreibung der „Risikokette“ hat gezeigt, daß die Entwicklung eines Risikos eine ursächliche Reihenfolge durchläuft, wobei in der Regel das Zu-sammenspiel mehrerer Ursachen die Risiken ver-stärkt und so zum bedrohlichen Ereignis führen. Das Ereignis wiederum ist kein einzelnes Vorkommnis, sondern setzt sich meist aus verschiedenen gleichzei-tig aufeinandertreffenden Ereignissen zusammen.

Die sich daraus ergebenden Konsequenzen sind viel-fältig. Die „Risikokette“ veranschaulicht auch, wann Kontrollmechanismen und Bewältigungsstrategien anzusetzen sind, um die verstärkende Wirkung von Ursachen oder Ereignissen abzubremsen. Nach Ho-henemser et al. (1985) ist ein Risikomanagement not-wendig, das die Gesellschaft über Risiken informiert, entscheidet was zu tun ist und geeignete Maßnahmen zur Kontrolle einsetzt oder die Konsequenzen min-dert. Ein derartiges Risikomanagement, das auf die

„Risikokette“ in Abb. E 1.1-2 bezogen ist, umfaßt 4 wesentliche Elemente, die jeweils mehrere Schritte vorsehen:

Risikobewertung

• Risiken identifizieren

• Prioritäten festlegen

• Risiken abschätzen

• Soziale Werte bewerten Kontrollanalyse

• Toleranzfähigkeit beurteilen

• Kontrollwerkzeuge erkennen

• Methoden der Umsetzung abschätzen

• Kostenverteilung bewerten Strategieauswahl

• Risiko akzeptieren

• Risiko verteilen

• Risiko reduzieren

• Risiko abschwächen

Durchführung und Bewertung

• Kontrolleingriffe durchführen

• Methoden ergänzen

• Output bewerten

• Folgen bewerten

168 E Integrierte Risikoanalyse

1.2

Soziokulturelle und individuelle Risikoverstärker

1.2.1 Einleitung

Warum reagieren Menschen auf ein und dasselbe Ri-siko unterschiedlich? Warum wollen einige ein für andere so offensichtliches Risiko nicht ernst neh-men? Warum werden manche Risiken von den Me-dien verstärkt aufgegriffen, andere aber kaum beach-tet?

Verschiedene Menschen nehmen oft ein und das-selbe Risiko sehr verschieden wahr und gehen damit entsprechend anders um. Für diese unterschiedliche Wahrnehmung und Bewertung gibt es eine Reihe von Gründen. So sind beispielsweise kulturelle Tradi-tionen, bisherige Erfahrungen, die Lebensumstände, emotionale und kognitive Verarbeitungsstile sehr verschieden. Zudem gibt es unterschiedliche soziale Rollen (z. B. „Experte“, „Betroffener“) oder spezifi-sche Umstände, die zu einer jeweils anderen Per-spektive bei der Beurteilung eines Risikos führen.

Wenn nun aber verschiedene Personengruppen ganz unterschiedliche Auffassungen darüber haben, was als Risiko zu bewerten ist und v. a., wie damit umge-gangen werden soll, läßt sich argumentieren, daß es in Wirklichkeit gar nicht ein und dasselbe Risiko für alle gibt. Ein Risiko läßt sich letztlich nicht objektiv bestimmen, es hat für verschiedene Beobach-ter(gruppen) ganz andere Bedeutungen (Johnson und Covello, 1987; Wiedemann et al., 1991). Welche Beobachtergruppe die „richtige“ Einschätzung vor-genommen hat, bleibt oft ungeklärt.

Im folgenden sollen einige der soziokulturellen, personalen und kognitiven Faktoren, die für die Ein-schätzung eines Risikos eine Rolle spielen, genauer vorgestellt werden. Zunächst geht es um die Kultur einer Gesellschaft. Sie stellt den grundlegenden Rah-men dar, in dem Menschen die Welt erleben und in dem sie handeln (Kap. E 1.2.2.1). Innerhalb einer Kultur entwickeln sich verschiedene Subkulturen, die durch die jeweilige soziale Gemeinschaft getra-gen und weiterentwickelt werden (Kap. E 1.2.2.2).

Das Erleben von Individuen wird durch die Subkul-tur ihrer Bezugsgruppe beeinflußt, außerdem ist eine Reihe individueller Faktoren für die Einschätzung von Ereignissen relevant (Kap. E 1.2.4). Diese Fakto-ren können die unmittelbare soziale Gemeinschaft ebenfalls beeinflussen und verändern. Die Eintei-lung in individuelle und soziale Faktoren ist daher nicht immer trennscharf. Einfluß auf das Erleben von Individuen und Gruppen haben auch Medien, die na-türlich auch Bestandteil der Kultur sind, aber

geson-dert berücksichtigt werden (Kap. E 1.2.3). Im Über-blick sind die Faktoren in Abb. E 1.2-1 dargestellt.

1.2.2

Kulturelle und soziale Faktoren

1.2.2.1

Kulturelle Rahmenbedingungen

Für die Einschätzung von Risiken und das Verhalten in Risikosituationen sind kulturelle Überzeugungs-systeme, die darin enthaltenen Wertvorstellungen wie auch soziale Rollen maßgeblich. Das kulturelle Glaubenssystem beschreibt sehr umfassend die kol-lektiven Vorstellungen darüber, wie die Welt funktio-niert (Douglas und Wildavsky, 1982; Rayner, 1992) Diese kollektiven Vorstellungen werden auch als so-ziale Repräsentationen bezeichnet, da sie sozial her-gestellte „Abbildungen“ der Welt beinhalten. Sozia-le Repräsentationen beschreiben das in einer Grup-pe geteilte Wissen über „Fakten“ und „Ereignisse“

(z. B. was als Beleidigung gilt, wie ein Streit geführt wird, ob der Wald stirbt usw.), das es Menschen er-möglicht, Situationen einzuschätzen, sie zu bewerten und daraufhin zu handeln. Dieses Wissen wird durch kommunikative Prozesse (interpersonale Kommuni-kation, Medien) weitergetragen, stabilisiert und ver-ändert (Wagner, 1994).

Um den Umgang mit Risiken verstehen zu kön-nen, ist es notwendig, den soziokulturellen Hinter-grund mit zu berücksichtigen. Damit sind nicht nur grobe Unterscheidungen zwischen „westlichen“ und

„östlichen“ Kulturen, verschiedenen Religionen oder Nationen gemeint; vielmehr können für ver-schiedene Gruppen beispielsweise innerhalb der westlichen Kultur oder innerhalb einer Nation ver-schiedene soziale Repräsentationen (Subkulturen, gruppenspezifisch geteiltes Wissen) gelten. So sind die in tornadogefährdeten Regionen Alabamas le-benden Personen zum großen Teil davon überzeugt, daß es von Gott oder vom Glück abhängt, was mit ih-nen geschieht. Bewohner von Illinois dagegen, die ei-ner ähnlichen Bedrohung ausgesetzt sind, glauben, daß v. a. ihr eigenes Verhalten zu ihrem Schicksal bei-trägt. Sie führen dementsprechend Schutzmaßnah-men durch, mit dem Resultat, daß die Zahl der To-desfälle bei Sturmkatastrophen in Illinois wesentlich geringer als in Alabama ist (Sims und Baumann, 1972). Auf diese Unterschiede, die sich zwischen ver-schiedenen sozialen Gemeinschaften ergeben, wird noch genauer eingegangen (Kap. E 1.2.2.2). Häufig wird der Begriff Kultur jedoch mit unterschiedlichen Nationen in Verbindung gebracht. Mit dieser Be-trachtungsweise wird eine relativ grobe Korngröße

169 Soziokulturelle und individuelle Risikoverstärker E 1.2

der Analyse gewählt, die für bestimmte Fragestellun-gen durchaus angemessen sein kann. Bei einer ge-naueren Analyse lassen sich jedoch jederzeit weitere Subkulturen oder Gruppen differenzieren.

In den meisten kulturvergleichenden Risikostu-dien wurde diese grobe Korngröße für die Analyse gewählt, in dem z. B. die Risikoeinschätzung von Amerikanern mit der von Japanern verglichen wur-de owur-der die von Australiern mit wur-der von Deutschen (Rohrmann, 1995a). Oft werden den Probanden Fra-gebögen vorgelegt, in denen sie auf mehrstufigen Skalen ihre Bewertung von verschiedenen Risikoa-spekten vermerken (Slovic et al., 1986). Zu diesen Aspekten gehören etwa die Kontrollierbarkeit von Risiken, die Freiwilligkeit der Aussetzung, die Schrecklichkeit möglicher Unfälle, das Katastro-phenpotential usw. (Kap. E 1.2.4). Die gefragte Ein-schätzung bezieht sich in der Regel auf eine große Bandbreite von Risiken: neben Technik- und

Natur-risiken wird auch nach solchen gefragt, die durch sportliche Aktivitäten, einen bestimmten Lebensstil oder berufliche Tätigkeiten bedingt sind. Die Ver-gleichbarkeit der Studien ist aufgrund methodischer Probleme nicht ohne weiteres gegeben, so daß Aus-sagen wie z. B. „weltweit akzeptieren Indonesier die meisten Risiken“ nicht getroffen werden können und auch nicht sinnvoll sind.

In den Studien zeigen sich im direkten Vergleich teilweise Unterschiede in der Einschätzung der Grö-ße von Risiken. Japaner halten viele Risiken für un-kontrollierbarer und schrecklicher und schätzen auch die Größe des Katastrophenpotentials höher ein als Amerikaner (Kleinhesselink und Rosa, 1991).

In einer neueren Studie zeigte sich allerdings, daß sich beide hinsichtlich der Einschätzung der Kontrol-lierbarkeit der abgefragten Risiken kaum unter-scheiden. Ein Unterschied ergab sich jedoch bezüg-lich der nuklearen Risiken. Sie werden zwar von Ja-Kulturelle Rahmenbedingungen

Soziale Gemeinschaft

Risiko Wahrnehmung, Bewertung, Umgang

Wahrgenommene Risikoeigenschaften

Medien

Individuelle Faktoren

• Vertrautheit

• Verhalten der zuständigen Behörden

• Signalwirkung

• Eintrittswahrscheinlichkeit

• Schadenspotential

• Wahrnehmbarkeit

• Temporale Aspekte

• Begrenzbarkeit der Folgen

• Direkte / indirekte Auswirkungen

• Irreversibilität der Folgen

• Freiwilligkeit

• persönliche Erfahrung

• Betroffenheit durch Schäden

• Kontrollierbarkeit

• Bekanntheit, Wissen

• Einstellung

• Gewöhnung

• Informationsverarbeitung Abbildung E 1.2-1

Übersicht soziokultureller, sozialer und individueller Risikoverstärker.

Quelle: WBGU

170 E Integrierte Risikoanalyse

panern tendenziell für größer gehalten, aber auch die Freiwilligkeit der Übernahme des Risikos wird hö-her eingeschätzt als von den Amerikanern (Hinman et al., 1993).

In einer vergleichenden Fragebogenstudie chine-sischer und australischer Probanden wurde gezeigt, daß die Chinesen die Höhe des Risikos für Radfah-ren und lebensstilbedingte Gesundheitsrisiken (Rau-chen usw.) geringer einschätzen. Bei fast allen ande-ren abgefragten Risiken zeigen sie aber eine geringe-re Akzeptanz als die Australier. In Bezug auf Natur-und Technologierisiken sind kaum Unterschiede festzustellen. Den sozialen Nutzen von Kernenergie schätzen die Chinesen allerdings viel positiver ein als Australier (Rohrmann und Renn, 1998).

Sofern es in den Studien Teil der Fragestellung war, zeigte sich, daß Unterschiede zwischen verschie-denen sozialen Gruppen (z. B. differenziert nach eher „technologischen“ vs. „ökologischen“ Werthal-tungen) innerhalb eines Landes oft größer sind als zwischen den verschiedenen Ländern (Rohrmann, 1995a).

Wie in allen Studien hängen die Ergebnisse maß-geblich davon ab, welche Fragen gestellt und welche Parameter berechnet wurden. Differenzierte kultu-relle Unterschiede können mit Hilfe von standardi-sierten Fragebögen nur schlecht festgestellt werden.

Es lassen sich allenfalls Tendenzen herausarbeiten.

Ein Beispiel für einen anderen methodischen Zu-gang ist in Kasten E 1.2.-1 dargestellt. Hier wurde mit sehr viel feineren und qualitativen Methoden gear-beitet, die ein differenzierteres Bild kultureller Be-sonderheiten ermöglichen. In dieser Studie wurde al-lerdings kein direkter Vergleich mit einer anderen Kultur vorgenommen.

1.2.2.2

Die soziale Gemeinschaft

Neben den kulturellen Traditionen hat die unmittel-bare soziale Gemeinschaft einen wichtigen Einfluß auf die Wahrnehmung von Risiken. Durch kommuni-kative Prozesse (Gespräche mit Nachbarn und Freunden, aber auch durch Medien vermittelt) wer-den soziale Normen und Wissensinhalte produziert, die die Einschätzung von Risiken beeinflussen. Je nach Art und Ausmaß eines Risikos können die ent-sprechenden sozialen Repräsentationen eine weite oder eher lokal begrenzte Verbreitung haben. Ein Beispiel für weiträumig geteilte soziale Repräsenta-tion ist der Diskurs über die Kernkraft oder den Kli-mawandel. Ein Beispiel für eine lokale Verbreitung ist der Diskurs über den Bau einer Müllverbren-nungsanlage.

Die unterschiedlichen Reaktionen (Kasten E 1.2-2) trotz ähnlicher Ausgangslage machen deut-lich, wie wichtig soziale Strukturen und Prozesse für die Wahrnehmung und Bewertung von sowie den Umgang mit Risiken sind. In den Fallbeispielen wird eine Reihe von Einflußfaktoren auf soziale Prozesse der Risikowahrnehmung und -kommunikation deut-lich, die auch durch andere Studien bekräftigt wer-den.

In beiden Fällen waren keine unmittelbaren ge-sundheitlichen Wirkungen der chemischen Stoffe zu beobachten. Eine feststellbare Schädigung lag also nicht vor. Auch andere Beispiele zeigen, daß dies kei-ne notwendige Voraussetzung für die vehementen Auseinandersetzungen um Risiken ist. Entscheidend ist vielmehr, zu welcher Bewertung des Risikos die soziale Gemeinschaft kommt. Keinesfalls darf dieser Bewertungsprozeß als Beliebigkeit interpretiert wer-den, dessen Ergebnisse zu vernachlässigen sind. Für diesen Bewertungsprozeß sind soziale Normen und Regeln maßgeblich, die auf dem Hintergrund kultu-reller Werte entstehen (Renn et al., 1992). Im sog.

TCE-Fall (Kasten E 1.2-2) könnte die soziale Norm lauten: „Mitglieder unserer Gemeinde sind recht-schaffene Bürger und sollten nicht zu Unrecht be-straft werden“. Im Love-Canal-Fall ließe sich resü-mieren: „Der Staat sollte Opfer skandalöser Entsor-gungspraktiken unterstützen“. Diese Regeln und normativen Vorstellungen werden durch Kommuni-kation entwickelt, in deren Verlauf sich oft zentrale Meinungsführer herauskristallisieren.

Für die Bildung einer sozialen Gruppe ist in der Regel ein gewisses Maß an wahrgenommener Ähn-lichkeit bezüglich Einstellungen, Interessen, Lebens-lagen usw. zwischen den Mitgliedern notwendig. Für die einzelnen Personen hat eine solche Gemein-schaft verschiedene Funktionen. Sie bietet oft psy-chische und materielle Unterstützung bei der Bewäl-tigung von Belastungen und stellt eine wirksamere Grundlage für Einflußprozesse dar, da Gruppen in der Regel ein größeres Potential als einzelne Perso-nen haben (Edelstein und Wandersmann, 1987). Vor allem aber ist die soziale Gemeinschaft für ihre Mit-glieder eine Quelle für Informationen und ihre Be-wertung. In Gesprächen werden Gutachten, Zei-tungsmeldungen, Gespräche mit Offiziellen usw.

Für die Bildung einer sozialen Gruppe ist in der Regel ein gewisses Maß an wahrgenommener Ähn-lichkeit bezüglich Einstellungen, Interessen, Lebens-lagen usw. zwischen den Mitgliedern notwendig. Für die einzelnen Personen hat eine solche Gemein-schaft verschiedene Funktionen. Sie bietet oft psy-chische und materielle Unterstützung bei der Bewäl-tigung von Belastungen und stellt eine wirksamere Grundlage für Einflußprozesse dar, da Gruppen in der Regel ein größeres Potential als einzelne Perso-nen haben (Edelstein und Wandersmann, 1987). Vor allem aber ist die soziale Gemeinschaft für ihre Mit-glieder eine Quelle für Informationen und ihre Be-wertung. In Gesprächen werden Gutachten, Zei-tungsmeldungen, Gespräche mit Offiziellen usw.

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