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Revolutionserinnerung im Weltkrieg

Das 80. Jubiläum der Wiener Revolution vom Oktober 1848

III. Deutsches Reich

1. Revolutionserinnerung im Weltkrieg

Genauso wie in Österreich war es im Deutschen Reich vor allem die Sozialdemokratie gewesen, die in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg die Erinnerung an die 48er-Revolution wachgehalten hatte. Seit der Reichsgründung 1871 hatte sich der jährliche Gang zu den Gräbern der Gefallenen vom 18. März 1848 im Berliner Friedrichshain zu einem der zentralen Rituale der deutschen Sozialdemokratie entwickelt; daneben fanden in weiten Teilen des Reiches Märzfeiern statt. Dabei galt das Gedenken am 18. März zunächst nicht ausschließlich den Berliner Märzgefallenen von 1848, sondern auch und anfangs in erster Linie den Kämpfern der Pariser Kommune von 1871. Seit den 1890er-Jahren trat bei den deutschen Sozialdemokraten die Erinnerung an die Erhebung in der französischen Hauptstadt jedoch immer mehr zurück und die Erinnerung an die eigene nationale Tradition in den Vordergrund. Zugleich wurde die deutsche 48er-Revolution, die Marx und Engels seinerzeit in der Neuen Rheinischen Zeitung als eine zweitrangige Revolution beschrieben hatten, in der sozialdemokratischen Geschichtsschreibung, und zwar sowohl in dem von Franz Mehring repräsentierten orthodox-marxistischen als auch in dem von Wilhelm Liebknecht und Wilhelm Blos vertretenen eher reformistischen Strang, deutlich aufgewertet und die Berliner Revolution vom 18. März 1848 als folgenreiche historische Zäsur gedeutet.1

1 Vgl. Bouvier, Französische Revolution und deutsche Arbeiterbewegung, S. 251-390; dies., Zur Tradition von 1848 im Sozialismus, S. 1169-1200; dies., Die Märzfeiern der sozialdemokratischen Arbeiter. Gedenktage des Proletariats – Gedenktage der Revolution. Zur Geschichte des 18. März, S. 334-351; Hettling, Nachmärz und Kaiserreich, S. 11-24; Klemm, Erinnert – umstritten – gefeiert, S. 51-71, 90-93, 132-157, 197-200; Mergel, Sozialmoralische Milieus und Revolutionsgeschichtsschreibung. Zum Bild der Revolution von 1848/49 in den Subgesellschaften des deutschen Kaiserreichs, S. 253-256; Welskopp, Das Banner der Brüderlichkeit, S. 23 f., 357, 526 f., 668, 672, 702 f.; Rüdiger Hachtmann, Berlin 1848. Eine Politik- und Gesellschaftsgeschichte der Revolution, Bonn 1997, S. 850-856; Buchner, Um nationale und republikanische Identität, S. 168-173; Manfred Görtemaker u.a. (Hg.), Zwischen Königtum und Volkssouveränität. Die Revolution von 1848/49 in Brandenburg (=Quellen, Findbücher und Inventare des Brandenburgischen Landeshauptarchivs, Sonderband), Frankfurt a. M.

u.a. 1999, S. 329-331; Schwerin, The Revolution of 1848 and German historians, S. 289 f.; Baumgart, Die verdrängte Revolution. Darstellung und Bewertung der Revolution von 1848 in der deutschen Geschichtsschreibung vor dem Ersten Weltkrieg, S. 158-167; Schmidt, Die Revolution von 1848/49 in der Traditionspflege der revolutionären deutschen Arbeiterbewegung, S. 241-259; ders., Wilhelm Liebknecht und die Tradition der Revolution von 1848/49, S. 5-15; Schröder, Die Tradition von 1848/49 und der Übergang zum Imperialismus. Zu einigen Aspekten des Erbes der bürgerlich-demokratischen Revolution von 1848/49 im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts, S. 91-184; Wittwer, Die Revolution von 1848/49 in der sozialdemokratischen Presse während der Revolution in Russland 1905–1907, S. 185-222; Czihak, Der Kampf um die Ausgestaltung des Friedhofes der Märzgefallenen im Berliner Friedrichshain, S. 549-561; Abraham, Der Friedrichshain. Die Geschichte eines Berliner Parks von 1840 bis zur Gegenwart, S. 20-29; Hachtmann, Totenkulte und Ikonisierungen. Robert Blum und andere Revolutionsheroen in der Erinnerung, S. 169-176;

Michalka, Der umstrittene Robert Blum. Forschungswege, S. 186-195; Christina Klausmann/Ulrike Ruttmann, Die Tradition der Märzrevolution. Ausblick, S. 159-163 u. 268-270; Peter Friedemann, Anspruch und Wirklichkeit der Arbeiterkultur 1891–1933, in: Dietmar Petzina (Hg.), Fahnen, Fäuste, Körper. Symbolik und Kultur der Arbeiterbewegung, Essen 1986, S. 101-111, hier: 101-103; Richard J. Evans (Hg.), Kneipengespräche im Kaiserreich. Stimmungsberichte der Hamburger politischen Polizei 1892–1914, Reinbek bei Hamburg 1989,

Auch im Ersten Weltkrieg setzte die Sozialdemokratie die Tradition des jährlichen Besuchs an den Gräbern der Märzgefallenen, wenn auch bei stark gesunkenen Teilnehmerzahlen, fort.2 Die Berichterstattung darüber im sozialdemokratischen Zentralorgan Vorwärts vermerkte 1915, dass die bürgerlich-demokratischen Vereine, die seit einigen Jahren regelmäßig eine größere Anzahl Kränze mit „scharz-rot-gelben“ Schleifen gebracht hätten, in diesem Jahr fast ganz ausgeblieben seien. Nur der Berliner Arbeiterverein sei als einzige demokratische Organisation dieser Tradition treu geblieben – die vom Bürgertum vergessenen Gräber der Märzgefallenen waren in der sozialdemokratischen Revolutionserinnerung geradezu ein Topos.3 Außerdem hatten die Anarchisten einen Kranz mit schwarzer Schleife niedergelegt.

Ansonsten habe das „zukunftsfreudige Rot“ den Friedhof dominiert. Die meisten dieser Kränze stammten von den Arbeitern großer Betriebe, andere von kleineren Gewerkschaftsgruppen sowie dem Vorwärts und der Berliner und Brandenburger SPD.

Obschon es im 50. Jubiläumsjahr der 48er-Revolution 1898 im Bürgertum zumindest ein umfangreicheres Gedenken als im Jahr des 25. Revolutionsjubiläums 1873 gegeben hatte, war die Behauptung, das Bürgertum habe die Gräber der Märzgefallenen vergessen, mehr als Polemik eines politischen Gegners. Dies zeigte eine Äußerung Friedrich von Payers, des Führers der schwäbischen Demokratie, von 1914: Bei den Wahlkämpfen in den 1870er-Jahren habe er in seinen Reden noch an 1848 anknüpfen müssen, da es damals noch Achtundvierziger gegeben habe, dagegen überspringe die erfolgreiche Generation von 1870 die 48er-Revolution und knüpfe direkt an 1813 an.4 Von Payers Partei, die süddeutsche

S. 243, 248 f., 281 f.; Helga Grebing/Monika Kramme, Franz Mehring, in: Hans-Ulrich Wehler (Hg.), Deutsche Historiker, Bd. 5, Göttingen 1972, S. 73-94; Horst Krause, Wilhelm Blos. Zwischen Marxismus und demokratischen Sozialismus in Geschichtsschreibung und Politik, Husum 1980.

2 Zur Beschränkung politischer Aktivitäten in Berlin im Weltkrieg durch die Verhängung des Belagerungszustandes vgl. Jon Lawrence, Public Space, political Space, in: Jay Winter/Jean-Louis Robert (Hg.), Capital Cities at War. Paris, London, Berlin 1914–1919, Bd. 2: A cultural History, Cambridge u.a. 2007, S. 280-312, hier: 288.

3 Auch 1917 machte der Vorwärts einen Kranz mit schwarz-rot-goldener Schleife aus, 1918 hingegen keinen mehr. Die Vossische Zeitung vermerkte 1916 eine schwarz-rot-goldene Schleife. „Der 18. März im Friedrichshain“, in: Vossische Zeitung (fortan: VZ), 18.3.1916, AA; auch: Mehring, Zum Gedächtnis der Märzrevolution (März 1898), in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 4: Aufsätze zur Geschichte der Arbeiterbewegung, 2. durchges. u. verä. Aufl., Berlin (Ost) 1963, S. 233-237, hier: 236 f.; ders., Geschichte der deutschen Sozialdemokratie, S. 359 f.; vgl. Baumgart, Die verdrängte Revolution, S. 161; Klemm, Erinnert – umstritten – gefeiert, S. 74, 77, 156.

4 Vgl. Eberhard Kurtze, Die Nachwirkungen der Paulskirche und ihrer Verfassung in den Beratungen der Weimarer Nationalversammlung und in der Verfassung von 1919, Berlin 1931, S. 12 f.; siehe auch den Brief v.

Theodor Heuss an Elly Heuss Knapp (31.8./1.9.1912), in: Theodor Heuss, Stuttgarter Ausgabe, hg. v. d. Stiftung Bundespräsident-Theodor-Heuss-Haus, Briefe: 1892–1917, hg. u. bearb. v. Frieder Günther, München 2009, S.

357-361, hier: 358; vgl. Karl Griewank, Ursachen und Folgen des Scheiterns der deutschen Revolution von 1848 (1950), in: Dieter Langewiesche (Hg.), Die deutsche Revolution von 1848/49 (=Wege der Forschung, Bd. 164), Darmstadt 1983, S. 59-90, hier: 60; Wolfgang Hardtwig, Bürgertum, Staatssymbolik und Staatsbewusstsein im Deutschen Kaiserreich 1871–1914, in: GG, 16 (1990), S. 269-295, hier: S. 281; Klemm, Erinnert – umstritten –

Volkspartei, die als letzte politische Gruppierung im Kaiserreich die schwarz-rot-goldene Fahne beibehalten hatte, hatte 1910 beim Zusammenschluss mit den preußischen linksliberalen Gruppen zur Fortschrittlichen Volkspartei auf dieses Symbol verzichtet.5

Genau registriert wurden vom Vorwärts die Präsenz der Polizei auf dem Friedhof und deren Verhalten am Gedenktag. Im Kaiserreich war es üblich, dass die Polizei, wenn die Kranzdelegationen am Märzfeiertag den Friedhof betraten, die Texte auf den Kranzschleifen überprüfte und diese mit einer Schere abtrennte, falls sie die Aussagen als revolutionär einstufte. In einigen früheren Jahren war es am Märzfeiertag auch zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen den die Gräber besuchenden Arbeitern und der stark vertretenen Polizei gekommen.6 Dagegen vermerkte der Vorwärts in den Weltkriegsjahren nur eine geringe Polizeipräsenz, und dass von den Polizisten kaum eine Kranzschleife abgetrennt wurde, gewissermaßen nur das erforderliche absolute Minimum, um diese Tradition aufrechtzuerhalten – die Zensur der Kranzschleifen gehörte, daran lässt der Ton der Berichterstattung im Vorwärts keinen Zweifel, für die Sozialdemokratie zum Ritual des 18.

März.7

In den Kriegsjahren 1915, 1917 und 1918 war der 18. März dem Vorwärts außerdem Anlass zu politischen Reflexionen. Der sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete Philipp Scheidemann sprach die Revolutionserinnerung am 18. März 1915, also noch im ersten Kriegsjahr, bei den Haushaltsberatungen auch im Parlament an. Die Deutschen bräuchten zum Kriege Brot, sie bräuchten zum Kriege aber auch Freiheit: „Ein Volk, das keine Freiheit zu verteidigen hat, hat nichts zu verteidigen.“ Scheidemann spielte in seiner Rede auf die Forderung nach Abschaffung des preußischen Dreiklassenwahlrechts an und forderte konkret unter Berücksichtigung „wirklich militärischer Interessen“ die Wiederherstellung der Presse-,

gefeiert, S. 71-86, 93-101, 108-132, 157-168, 184-197, 200-215, insb.: 157, 184, 215; Otto Hörth, Gedenkfeiern 1873 – 1898 – 1923 (=Die Paulskirche. Eine Schriftenfolge, Bd. 14), Frankfurt a. M. 1925, S. 9-56, insb.: 51.

5 Vgl. Friedel, Deutsche Staatssymbole, S. 30 f.; auch: Paul Wentzcke, Die deutschen Farben, 1927, S. 202;

Eberhard Naujoks, Württemberg 1864 bis 1918, in: Handbuch der Baden-Württembergischen Geschichte, Bd. 3:

Vom Ende des Alten Reiches bis zum Ende der Monarchien, hg. v. Hansmartin Schwarzmaier, Stuttgart 1992, S.

333-432, hier: 412; Hans Fenske, Der liberale Südwesten. Freiheitliche und demokratische Traditionen in Baden und Württemberg 1790–1933 (=Schriften zur politischen Landeskunde Baden-Württembergs, Bd. 5), Stuttgart 1981, S. 181.

6 Vgl. Hettling, Nachmärz und Kaiserreich, S. 16 f.; ders., Erlebnisraum und Ritual. Die Geschichte des 18. März 1848 im Jahrhundert bis 1948, S. 427.

7 „An den Gräbern der Märzgefallenen“, in: Vorwärts, 19.3.1915; „Die diesjährige Märzfeier“, in: ebd., 19.3.1916; „An den Gräbern der Märzgefallenen“, in: ebd., 19.3.1917; „Bei den Märzgefallenen“, in: ebd., 19.3.1918; 1915 auch: „Auf dem Friedhof der Märzgefallenen im Friedrichshain“, in: Berliner Tageblatt (fortan:

BT), 18.3.1915, AA. Eine Statistik der Berliner Polizei über den Gräberbesuch am Märzfeiertag, die Zahl der niedergelegten Kränze und die Zahl der polizeilich abgetrennten Kranzschleifen in den Jahren 1903 bis 1909 in:

Görtemaker u.a. (Hg.), Zwischen Königtum und Volkssouveränität, S. 331.

Vereins- und Versammlungsfreiheit. Dabei berief er sich auf die „Vorkämpfer der deutschen Einheit und Freiheit“, an die die Sozialdemokraten am 18. März dankbar denken müssten.

„Meine Herren, ohne 48 kein Deutsches Reich, ohne das allgemeine gleiche Wahlrecht kein einiges deutsches Volk, (sehr richtig! bei den Sozialdemokraten) das heute imstande ist, einer Welt von Feinden zu trotzen! (Lebhafte Zustimmung bei den Sozialdemokraten.) Aber auch ohne Nichterfüllung gegebener Versprechungen in den Freiheitskriegen nicht die Notwendigkeit innerer Wirren und blutiger Opfer!“

Letzteres war eine deutliche Warnung an den Kaiser und die Reichsregierung. Das deutsche Volk müsse „den Weg zur Freiheit“ gehen, sonst drohe die „Gefahr der Selbstvernichtung“.

Den Reichskanzler verwies er auf Bismarck als Vorbild, der 19 Jahre nach 1848 das allgemeine Wahlrecht in die Verfassung des Norddeutschen Bundes aufgenommen habe.8

Der Reichstagsabgeordnete Eduard Bernstein, der im Revisionismusstreit marxistische Dogmen der Sozialdemokratie infrage gestellt hatte, historisierte in seinem Leitartikel zum Märzfeiertag im gleichen Jahr die Barrikadenkämpfer von 1848. Zum ersten Mal, seitdem die Sozialdemokratie am 18. März das Gedenken der demokratischen Volkserhebung begehe, befinde sich das deutsche Volk in einem großen Krieg. In den letzten Jahren habe die Sozialdemokratie am Märzfeiertag an eine ganz andere Art von Kämpfen gedacht – Bernstein spielte damit darauf an, dass die Sozialdemokraten in den Jahren vor dem Weltkrieg den 18.

März in den Dienst ihrer Agitation gegen das preußische Dreiklassenwahlrecht gestellt hatten.9 Die „alte Form der Barrikadenkämpfe“ von 1848 und 1871, so lautete die Botschaft Bernsteins, sei veraltet und humaneren Formen der politischen Auseinandersetzung gewichen, anzuknüpfen sei aber an den Geist der Streiter der Februar- und Märztage des Jahres 1848 – mit Ersteren waren die Kämpfer der Pariser Februarrevolution gemeint – sowie der Pariser Kommune von 1871.10

Vor dem Hintergrund der russischen Oktoberrevolution 1917 schrieb am 17. März 1918 der Chefredakteur des Vorwärts, Friedrich Stampfer, unter der Überschrift „Siebzigster Geburtstag“ einen Kommentar zum Märzfeiertag, in dem er dem Schicksal dankte, dass die Deutschen, die in revolutionären Traditionen „nicht eben groß“ seien, wenigstens diese hätten. Er erinnerte an die Parlamente der 48er-Revolution auf deutschem Boden, die als

8 Verhandlungen des Reichstags, Bd. 306, S. 59 f.

9 Vgl. Hettling, Nachmärz und Kaiserreich, S. 15; Klausmann/Ruttmann, Die Tradition der Märzrevolution, S.

161; Wittwer, Die Revolution von 1848/49, S. 219.

10 Eduard Bernstein, „Am 18. März 1915“, in: Vorwärts, 18.3.1915; „18. März“, in: ebd., 18.3.1917; vgl.

Siemann, Der Streit der Erben, S. 135; Hettling, Nachmärz und Kaiserreich, S. 15.

Parlamente des gleichen Wahlrechts in den Augen der Zeitgenossen „phantastische Neuschöpfungen“ gewesen seien. Sowohl die Paulskirche als auch die preußische Nationalversammlung seien ruhmlos geendet, jene mit dem vorläufigen Ende der Reichsidee, diese mit der Konterrevolution und dem Dreiklassenwahlrecht.

Je mehr jedoch der heutige Reichstag von der Arbeiterklasse mit demokratischem Geist erfüllt werde, umso stolzer werde er sich als Nachfahre der Paulskirche bekennen. Diese sei bei weitem nicht so schlecht gewesen, wie sie von einer reaktionären Geschichtsschreibung dargestellt worden sei – Stampfer überging an dieser Stelle, dass Marx und Engels in ihrer Verachtung für die Paulskirche nicht hinter der „reaktionären Geschichtsschreibung“

zurückstanden. Angesichts der erwarteten Abschaffung des preußischen Dreiklassenwahl-rechts, von Stampfer als „Wiedergeburt des demokratischen Preußenparlaments“

apostrophiert, für die sich eine erdrückende Mehrheit der Bevölkerung ausspreche, konstatierte er: Die Demokratie festige sich.

Die zweite zentrale Aussage seines Kommentars formulierte Stampfer als Mahnung an das Bürgertum, obschon es sich gleichermaßen um eine Mahnung an die Arbeiterschaft handelte.

Er schrieb, das deutsche Bürgertum solle sich bewusst sein, dass das deutsche Proletariat sich bislang nur einmal mit Gewalt erhoben habe, 1848, und zwar Seite an Seite mit dem Bürgertum. Dagegen habe sich in Frankreich 1848 bereits etwas Ähnliches ereignet wie heute in Russland, der unmittelbare Übergang einer bürgerlichen Revolution zur proletarischen.

Über die französische Februarrevolution 1848 urteilte Stampfer: Die sozialen Bestrebungen, die in den Nationalwerkstätten Louis Blancs gipfelten, seien weniger am Egoismus des Bürgertums als am eigenen Dilettantismus gescheitert. Der anschließende Juniaufstand der Pariser Arbeiter unterscheide sich lediglich durch seine Erfolglosigkeit von der bolschewistischen Erhebung vom November 1917. In beiden Fällen handle es sich um den Versuch, mit revolutionären Mitteln über die Formen der Demokratie hinweg eine neue soziale Ordnung zu errichten. Gegen diese Versuche insistierte Stampfer, dass der Sozialismus nicht gegen die Demokratie, sondern nur durch sie verwirklicht werden könne.

„Die bürgerliche Gewaltrevolution vor 70 Jahren hat die Bresche geschlagen für die gewaltlose soziale Revolution des Proletariats.“11

11 Friedrich Stampfer, „Siebzigster Geburtstag“, in: Vorwärts, 17.3.1918; vgl. Engels, Revolution and Counter-Revolution, S. 35, 70.

Aus ähnlich gelagerten Befürchtungen, wie sie in Stampfers Artikel mitschwangen, war ein Jahr zuvor in den letzten Monaten vor dem Sturz des Reichskanzlers Bethmann Hollweg der Historiker Friedrich Meinecke wiederholt bei diesem vorstellig geworden und hatte mit Verweis auf die Fehler Friedrich Wilhelms IV. vor und nach dem 18. März 1848 auf rasche Reformen gedrungen, um einer sozialistischen Welle vorzubeugen.12

2. Die Revolution von 1918/19