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Die Großdeutschen und die 48er-Revolution

Das 80. Jubiläum der Wiener Revolution vom Oktober 1848

5. Die Großdeutschen und die 48er-Revolution

In den Wiener Neuesten Nachrichten, die ab Oktober 1925 als offizielles Organ der Großdeutschen Volkspartei erschienen und zugleich zur bevorzugten Zeitung der deutschösterreichischen Historiker wurden, gab es in der zweiten Hälfte der 20er-Jahre in einem begrenzten Umfang ein Gedenken an die 48er-Revolution. Das hatte nicht zuletzt damit zu tun, dass die Zeitung – anders als die Großdeutsche Volkspartei – nicht antisemitisch war.201

Äußerst aufschlussreich war der Artikel von Paul Molisch, der 1922 ein Buch über die Wiener Akademische Legion 1848 vorgelegt hatte, zum Märzfeiertag 1926 unter dem Titel

199 „Märztage“, in: AZ, 12.3.1933; vgl. Vernosta, Die österreichische Außenpolitik, S. 132 f.; Siegfried Nasko, Ein ‚deutschösterreichischer‘ Staatsmann? Karl Renners Haltung zur Anschlussidee 1918–1938, in: Gehler (Hg.), Ungleiche Partner?, S. 399-424, hier: 415; List, Die Propaganda des Austromarxismus, S. 96.

200 Vgl. Leser, Zwischen Reformismus und Bolschewismus, S. 464-476; Kaufmann, Sozialdemokratie in Österreich, S. 288 f.

201 Vgl. Paupié, Handbuch der österreichischen Pressegeschichte, Bd. 1, S. 111 f.; Isabella Ackerl, Die Großdeutsche Volkspartei 1920–1934. Versuch einer Parteigeschichte, phil. Diss., Wien 1967, S. 68, 110;

Dachs, Österreichische Geschichtswissenschaft und Anschluss, S. 77.

„Die nationale Bedeutung des Jahres 1848“.202 Molischs Ausführungen waren in höchstem Maße defensiv. Zunächst betonte er die große Rolle der Wiener Studenten in der

„Umwälzung von 1848“ und belegte das mit dem Zitat eines Paulskirchenabgeordneten, laut dem es die erste deutsche Nationalversammlung ohne die Wiener Studenten nicht gegeben hätte.

Dann kam Molisch zum Kern seines Anliegens:

„Wer die Umwälzung von 1848 nicht aus der gegenrevolutionären Stimmung weiter nationaler Kreise in unseren Tagen, sondern aus der Zeit des Sturmjahres heraus beurteilt, wird zugeben müssen, dass die Entfaltung einer nationalen Regung unter dem vormärzlichen Polizeistaat unmöglich war.“

Der Sturz dieses Polizeistaates habe erst das Eintreten für Großdeutschland ermöglicht, das von den Fürsten, wie die historische Erfahrung gezeigt habe, nicht zu erwarten war. Molisch berief sich dabei auf den „so wenig im landläufigen Sinne demokratischen Schriftsteller“

Heinrich Claß, den Vorsitzenden des Alldeutschen Verbandes, der es als unverlierbares Verdienst der Männer der Paulskirche gerühmt habe, die deutsche nationale Frage aufgerollt zu haben, die seitdem nicht mehr von der Tagesordnung verschwunden sei.203

Den gegenwärtigen Deutschen, die Großdeutschland immer noch nicht erreicht hätten, stehe es nicht an, geringschätzig über die Paulskirche zu urteilen, die dieses Ziel im ersten Anlauf nicht verwirklicht habe. Als weiteren Grund für die negative Einstellung in deutschnationalen Kreisen gegenüber der 48er-Revolution verwies Molisch auf die Tatsache, dass durch den Sturz des Absolutismus in der Habsburgermonarchie auch die nationalen Bestrebungen der nicht deutschen Völker entfesselt worden waren. Molisch nannte als Ausweg aus dem damaligen Dilemma zwischen dem jede nationale Regung unterdrückenden Absolutismus des Vormärz sowie der Reaktionszeit und der „völligen Auslieferung Österreichs an die Mehrheit seiner nicht deutschen Bevölkerung“ die nationale Föderalisierung des Reiches, wie sie der Deutschböhme Ludwig von Löhner 1848 gefordert habe.204

Die Regierung der Habsburgermonarchie habe 1849 die nationale Kreiseinteilung des Kremsierer Verfassungsausschusses verworfen. Erst als es zu spät war, im Herbst 1918, habe man auf den Gedanken der nationalen Föderalisierung zurückgegriffen. Molisch gelangte zu

202 Paul Molisch, Die Wiener akademische Legion und ihr Anteil an den Verfassungskämpfen des Jahres 1848.

Nebst einer Besprechung der übrigen 48er-Studentenlegionen, Wien 1922.

203 Vgl. Ackerl, Die Großdeutsche Volkspartei, S. 109.

204 Zu Löhner vgl. Stephan, Deutsche und Tschechen im Revolutionsjahr, S. 207, 215 f.

dem Fazit, dass das Jahr 1848 vom deutschnationalen Standpunkt aus betrachtet trotz „starker weltbürgerlicher Beimengungen“ wertvolle und grundlegende Ergebnisse gezeitigt habe.205

Im Jahr 1929, als sich die Oktroyierung der Gesamtstaatsverfassung für die Habsburgermonarchie durch Kaiser Franz Joseph und die Regierung Schwarzenberg am 4.

März 1849 zum 80. Mal jährte, vertrat August Koberg, Mitglied des tschechoslowakischen Abgeordnetenhauses aus Jägerndorf, einen ähnlichen Standpunkt wie Molisch.206 Die oktroyierte Gesamtstaatsverfassung habe die Entwicklung eines Verfassungslebens um Jahrzehnte zurückgeworfen und die Einigung Mitteleuropas verzögert.

Durch die Gesamtstaatsverfassung für Österreich-Ungarn sei der Eintritt Österreichs in den von der Frankfurter Nationalversammlung vorbereiteten großdeutschen Bundesstaat unmöglich gemacht worden. Die kleindeutsche Lösung sei der einzige Ausweg aus der Situation gewesen, die durch den Erlass der österreichischen Märzverfassung entstanden sei.

Wäre der Kremsierer Verfassungsentwurf, der sich nur auf die westliche Reichshälfte bezog, in Kraft getreten, dann hätten sich in der Paulskirche wahrscheinlich die Großdeutschen durchgesetzt und die Geschichte hätte einen anderen Verlauf genommen. Weil sie darum gewusst hätten, hätten sich die Tschechen 1848/49 von den Frankfurter und Kremsierer Beratungen ferngehalten.207

Neben dem Artikel vom Molisch erschien in den Wiener Neuesten Nachrichten 1926 ein weiterer Gedenkartikel zum 13. März, in dem insbesondere Ferdinand Freiligrath aus Anlass seines 50. Todestages am 18. März gedacht wurde. Der Artikel behauptete, dass Freiligrath heute ein unbekannter Mann sei; sein Name lebe lediglich in der Literaturgeschichte – auf die österreichische Sozialdemokratie traf das, wie gezeigt wurde, eindeutig nicht zu. Freiligrath sei in den schweren Jahren, in denen Europa im Revolutionsfieber lag, den Deutschen, und nicht nur den Deutschen ein „heißgeliebter Führer“ gewesen und seine Gedichte aus dem Revolutionsjahr seien „Meisterwerke revolutionärer Dichtung“. Besonders betont wurde auch, dass Freiligrath während der großen Welle nationaler Begeisterung im deutsch-französischen Krieg 1870 nicht abseitsgestanden habe. Der Artikel urteilte abschließend:

205 Paul Molisch, „Die nationale Bedeutung des Jahres 1848“, in: Wiener Neueste Nachrichten (fortan: WNN), 13.3.1848.

206 Vgl. Valentin, Geschichte der deutschen Revolution, Bd. 2, S. 349.

207 Koberg (Jägerndorf), Mitglied des tschechoslowakischen Abgeordnetenhauses, „Die Märzverfassung“, in:

WNN, 3.3.1929.

„Die Revolution des Jahres 1848 aber, deren wir in diesen Märztagen gedenken, spiegelt sich nirgend klarer wider als in den Liedern und Gedichten ihres Sängers Freiligrath, dieses glühenden, wahrhaftigen Dichters und echt deutschen Mannes.“208

Ebenso wie Freiligrath gedachten die Wiener Neuesten Nachrichten drei Jahre später auch Karl Schurz an seinem 100. Geburtstag am 2. März 1929. Schurz hatte 1849 an der Reichsverfassungskampagne teilgenommen und aus der eingeschlossenen Festung Rastatt fliehen können, war durch die Befreiung seines akademischen Lehrers, Gottfried Kinkels, der wegen seiner Teilnahme an der Revolution zu lebenslanger Haft verurteilt worden war, 1850 aus dem Zuchthaus in Spandau berühmt geworden und hatte später im amerikanischen Exil eine steile politische Karriere bis zum Senator und Innenminister gemacht. Friedrich Spreen behauptete in seinem ausführlichen Gedenkartikel, dass Schurz nur deshalb nicht amerikanischer Präsident geworden sei, weil er nicht die Anforderung der Verfassung für dieses Amt erfüllte, als amerikanischer Staatsbürger geboren worden zu sein. Besonders hervorgehoben wurden von Spreen auch die Bewunderung und Verehrung des Fürsten Bismarck für den Demokraten Schurz. Bismarck habe zu einem amerikanischen Diplomaten über diesen gesagt: „Als Deutscher bin ich stolz auf den Erfolg von Karl Schurz.“209

Zum 13. März 1927 erinnerte Max Doblinger daran, dass 1848/49 auch Wiener Akademische Legionäre aufseiten der Ungarn gefochten hatten, was in der deutschösterreichischen Literatur nur selten erzählt werde. In diesem Zusammenhang erwähnte Doblinger auch den Tod des letzten noch lebenden Wiener akademischen Legionärs, Alois Freiherr v. Czedik, im Jahre 1924 – die Neue Freie Presse hatte noch in den Weltkriegsjahren regelmäßig vom traditionellen Treffen der hochbetagten Veteranen der Akademischen Legion am 13. März berichtet.210 Von der aus deutschnationaler Sicht nicht unproblematischen Beteiligung von Akademischen Legionären am Krieg in Ungarn berichtete Doblinger: Sie hätten unter dem polnischen Revolutionsgeneral Bem in Siebenbürgen gefochten. Dagegen hätten sich die Siebenbürger Sachsen im Dezember 1848 wegen magyarischer Übergriffe gegen die ungarische Revolution gestellt. Die Legion habe daher notgedrungen auch gegen diese gekämpft. Doblinger enthielt sich letztlich eines Urteils über diese Beteiligung von

208 „Die Revolution 1848 und ihre Sänger“, in: WNN, 13.3.1926.

209 Friedrich Spreen, „Karl Schurz. Zu seinem 100. Geburtstag“, in: WNN, 2.3.1929.

210 „Die Zusammenkunft der Achtundvierziger-Legionäre“, in: NFP, 14.3.1915, MB; „Die Zusammenkunft der Achtundvierziger-Legionäre“, in: NFP, 13.3.1916, NB; „Die Zusammenkunft der Achtundvierziger-Legionäre“, in: NFP, 13.3.1918, AB. Außerdem hatte die Neue Freie Presse 1923 aus Anlass des 75. Jubiläums der 48er-Revolution die Erinnerungen Czediks, der von 1883 bis 1918 dem Herrenhaus angehört hatte, an die Märztage 1848 in einer siebenteiligen Folge abgedruckt. Alois Czedik, „Meine Erinnerungen aus den Märztagen 1848“, in:

NFP, 13.3.-16.3.1923, jeweils MB, 21.3.1923, MB, 23.3.1923, MB, 5.4.1923, MB.

Akademischen Legionären am Kampf der Ungarn, indem er schrieb, die Legionäre seien durch ein ethisch hochwertiges Freiheitsgefühl auf die ungarische Seite getrieben worden, doch ob sie damit der deutschen Sache dienen konnten, sei schwer abzuwägen.211

Zum 80. Jubiläum der Wiener Märzrevolution 1928 konstatierte Wolf Wolkan, dass ihre Bedeutung für die Gegenwart mit dem zeitlichen Abstand zunehme. Die Fesseln, die der nationalen Selbstbestimmung der Deutschösterreicher 1919 angelegt worden seien, begännen sich zu lösen und der Weg zum Anschluss beginne sich „in klaren Umrissen“ abzuzeichnen.

Das Vermächtnis der Märzbewegung von 1848 reife heran: die Entstehung selbstständiger Staaten in Mitteleuropa, aber auch die Entstehung eines alle deutschen Stämme umfassenden Großdeutschland. Daher könne man die Märzereignisse von 1848 mit ihrem Idealismus, ihrem sentimentalen Überschwang, ihrem tiefen patriotischen Ernst, aber auch mit ihrer politischen Unreife, mit ihren hohen Werten, aber auch mit ihren tragikkomischen Schwächen mit umso größerer historischer Objektivität beurteilen.

Das nationale Problem, das Wolkan in seinem Rückblick in den Mittelpunkt stellte, habe den Führern der Wiener Märzbewegung keinesfalls klar vor Augen gestanden, sei ihnen weit mehr gefühls- als verstandesmäßig bewusst gewesen. Von dem bis zum März 1848 in Wien herrschenden Regiment zeichnete Wolkan ein Bild, das eine Revolution als vollauf gerechtfertigt erscheinen ließ. Der Kaiser sei „schwachsinnig“ gewesen, und die

„Doppelzüngigkeit und Heimtücke des herrschenden ‚Systems‘“ habe schon das direkte Herantragen von Wünschen des Volkes an die engere Umgebung des Kaisers als Straftatbestand betrachtet, selbst noch am 12. März 1848. Beim Jubel über die schnellen Erfolge der Wiener Märzrevolution sei sich das loyale Bürgertum nicht bewusst gewesen, dass die neuen Freiheiten den Gesamtverband der Monarchie eher auflösen als festigen mussten, und es habe keine Vorstellung davon gehabt, wie der erwünschte „innige Anschluss an Deutschland“ erreichte werden könne.

Das Scheitern der Wiener 48er-Revolution bewertete Wolkan abschließend folgendermaßen:

„Und doch hat im Jahre 1848 die Staatsgewalt der scheinbar aus allen Fugen gehenden Monarchie die Oberhand über den Unabhängigkeitsdrang aller ihrer Völker behalten und sie für zwei Menschenalter zu einem unfreiwilligen, von gegenseitigem Misstrauen und

211 Max Doblinger, „Wiener akademische Legionäre in Ungarn 1848–49“, in: WNN, 13.3.1927.

grenzenloser Gehässigkeit vergifteten staatlichen Zusammenleben verurteilt, vor allem aber die Begründung der großdeutschen Einheit zu vereiteln gewusst.“212

Die Wiener Neuesten Nachrichten gedachten 1928 auch dem 80. Jubiläum des Zusammentritts der ersten deutschen Nationalversammlung in der Paulskirche. Deren österreichische Abgeordnete hätten sich vor die tragische Frage gestellt gesehen, ob dem

„deutschen Volksganzen“ besser gedient sei, wenn sein österreichischer Stamm „aus der Umklammerung der Überzahl nicht deutscher Völker im habsburgischen Kaiserstaat“ gelöst und einem straff organisierten deutschen Bundesstaat angeschlossen werde oder wenn die österreichische Großmacht als kultureller und wirtschaftlicher Faktor dem Deutschtum erhalten bleibe.

Tragisch sei auch die Hilflosigkeit der Paulskirche gewesen, die keine Machtmittel besessen habe, um ihre Beschlüsse gegen die Regierungen der beiden deutschen Großmächte durchzusetzen. So habe die Paulskirche tatenlos zusehen müssen, wie „die siegreiche Wiener Militärdiktatur“ den Sendboten Frankfurts, Robert Blum, hinrichtete. Der Artikel endete mit einer Beschwörung Großdeutschlands. Nach dem Scheitern der Paulskirche und dem vergeblichen Anlauf 1918/19 müsse das Ziel der großdeutschen Einheit beim dritten Anlauf erreicht werden. „Das sei unser Gelöbnis am Gedenktage der Eröffnung der Paulskirche.“213

Der hier geschilderte Versuch der Wiener Neuesten Nachrichten, die 48er-Tradition in nationalen Kreisen wieder zu beleben, verblieb auf der Ebene von Zeitungsartikeln. Von deutschnationalen Gedenkfeiern für die 48er-Revolution berichtete das offizielle Organ der Großdeutschen Volkspartei in der zweiten Hälfte der 20er-Jahre nicht. Die großbürgerliche Neue Freie Presse berichtete in den Jahren 1922, 1923 und 1928 von dem, wie es 1923 hieß,

„alljährlichen“ Besuch der nationalfreiheitlichen Studentenschaft – dabei handelte es sich um mehrere Burschenschaften – am Grab der Märzgefallenen in Wien beziehungsweise kündigte diesen an.214

212 Wolf Wolkan, „Die Wiener Märzrevolution. Zu ihrem 80. Geburtstag“, in: WNN, 11.3.1928; auch: Victor Jovanovic, „Die Wiener Märztage 1848 in den Stimmen der Zeit“, in: WNN, 13.3.1928.

213 „Den Männern der Paulskirche“, in: WNN, 18.5.1928; zu den Großdeutschen in der Paulskirche verbunden mit einem Anschlussbekenntnis auch schon: Karl Gottfried Hugelmann, Der großdeutsche Gedanke und die Frankfurter Nationalversammlung im Jahre 1848, in: Österreichische Rundschau. Deutsche Zeitschrift für Politik und Kultur (bis 1921 hatte der Untertitel gelautet: „Mitteleuropäische Politik, Kultur und Wirtschaft“), hg. v.

Paul Wittek, 18 (1922), S. 477-483.

214 „Märzfeier der nationalfreiheitlichen Studentenschaft“, in: NFP, 14.3.1922; „Die Märzfeier der nationalfreiheitlichen Studentenschaft“, in: NFP, 15.3.1923, AB; „Märzfeier der Wiener national-freiheitlichen Burschenschaften“, in: NFP, 11.3.1928, MB; „Märzfeiern“, in: NFP, 17.3.1928, MB. Die Neue Freie Presse kündigte 1928 außerdem eine Gedenkfeier an den Gräbern der Märzgefallenen der politisch marginalen