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Die Auseinandersetzung um das Nationalitätenprogamm der sozialdemokratischen Linken 1918

II. Republik Österreich

1. Die Auseinandersetzung um das Nationalitätenprogamm der sozialdemokratischen Linken 1918

Gegen Ende des Ersten Weltkriegs zeichnete sich der bevorstehende Zusammenbruch des habsburgischen Vielvölkerstaates deutlich ab. Der Krieg hatte die seit langem bestehenden Nationalitätenkonflikte, die bereits vor 1914 den Reichsrat der cisleithanischen Reichshälfte lahmgelegt hatten, in einem solchen Ausmaß verschärft, dass ihre Lösung im Rahmen der Habsburger-Doppelmonarchie unmöglich wurde. Die Kriegskonstellation zwang viele der slawischen Nationalitäten und die Italiener der Monarchie gegen eine Koalition von Feindstaaten zu kämpfen, in deren Reihen auch nationale Brüder standen, und die Verwaltung des Reiches durch das österreichische Militär während des Krieges – auch Zivilpersonen wurden der Militärgerichtsbarkeit unterstellt – nahm infolgedessen in den nicht deutschen Gebieten Züge einer Kolonialherrschaft an. Daher sahen die slawischen Nationalitäten, allen voran die Tschechen, in dem Krieg zunehmend die Gelegenheit, sich vom Vielvölkerstaat loszureißen und die nationale Unabhängigkeit zu erringen.1

In dieser Situation verfasste der linke Flügel der deutschen Sozialdemokraten in Österreich, der von Otto Bauer und Friedrich Adler geführt wurde – Letzterer befand sich zu dieser Zeit allerdings in Haft –, Anfang 1918 während des „Jännerstreiks“ der Industriearbeiter das

„Nationalitätenprogramm der ‚Linken‘“, das dann im Aprilheft des „Kampfs“, des Theorieorgans der Partei, veröffentlicht wurde.2 Adler hatte mit der Erschießung des Ministerpräsidenten Graf Stürgkh am 21. Oktober 1916 ein Fanal gesetzt, das nach mehr als dreijähriger Unterbrechung im Mai 1917 die Wiedereinberufung des Parlaments nach sich gezogen hatte, Bauer war im September 1917 aus russischer Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt.3 Mit ihrem neuen Nationalitätenprogramm verabschiedete sich die

1 Vgl. Rudolf Neck, Österreich in der revolutionären Epoche von 1917 bis 1920, in: Erich Zöllner (Hg.), Revolutionäre Bewegungen in Österreich, Wien 1981, S. 129-140, hier: 132-134; Fritz Kaufmann, Sozialdemokratie in Österreich, Wien/München 1978, S. 57, 60, 65; Istvan Deak, Shades of 1848. War, Revolutions and Nationality Conflict in Austria-Hungary, 1914–1920, in: Charles L. Bertrand (Hg.), Revolutionary Situations in Europe, 1917–1922. Germany, Italy, Austria-Hungary, Montréal 1977, S. 87-94, hier: 88.

2 Vgl. Ein Nationalitätenprogramm der ‚Linken‘, in: Der Kampf. Sozialdemokratische Zeitschrift, 11 (1918), S.

269-274. Zur Auseinandersetzung um das Nationalitätenprogramm der Linken und zu seiner Durchsetzung in der deutschen Sozialdemokratie in Österreich im Laufe des Jahres 1918 siehe: Ernst Panzenböck, Die Weichenstellung in der österreichischen Sozialdemokratie für die Republik und den Anschlussgedanken, in:

Österreich in Geschichte und Literatur, 30 (1986), S. 4-17; Miller, Das Ringen um ‚die einzige großdeutsche Republik‘, S. 3-15, 19.

3 Wolfgang Häusler berichtet ein interessantes Detail aus der Gerichtsverhandlung gegen Adler: „Noch vor dem Ausnahmegericht begründete Friedrich Adler seine Politisierung schon im Kindesalter mit der Teilnahme an den

sozialdemokratische Linke vom bestehenden Nationalitätenprogramm der Partei, wie es 1899 auf dem Parteitag in Brünn niedergelegt worden war. Das Brünner Programm hatte – in der Tradition des ethnischen Föderalismuskonzepts aus der 48er-Revolution stehend – auf eine Lösung des Nationalitätenproblems im Rahmen des Vielvölkerstaates gezielt, indem es die kulturelle Autonomie für die Nationalitäten forderte.4

Angesichts des wirtschaftlichen und kulturellen Aufstiegs der andern Nationen sowie der Entwicklung im Krieg ging das Nationalitätenprogramm der Linken Anfang 1918 davon aus, dass der Vielvölkerstaat unhaltbar geworden war und dass die slawischen und romanischen Völker Österreich-Ungarns zur staatlichen Unabhängigkeit gelangen würden. Zwar sollten gemäß dem Programm die entstehenden Nachfolgestaaten ihre Beziehungen untereinander mit Verträgen regeln, gleichzeitig tauchte aber bereits sehr deutlich der Gedanke auf, die deutschen Gebiete der Monarchie mit dem Deutschen Reich zu vereinigen. In diesem Zusammenhang erinnerte das Programm daran, dass den Deutschen bisher die nationale Einheit verwehrt geblieben sei, und gab die Schuld daran den Fürsten und der Bourgeoisie:

„Die bürgerliche Revolution von 1848 hat die Einheit des deutschen Volkes verwirklichen wollen. Hatten die Fürsten Deutschland gespalten, so sollte die Demokratie Deutschland einigen. Eine deutsche Republik sollte alle deutschen Stämme zu einem demokratischen Gemeinwesen vereinen. Aber die deutsche Revolution scheiterte an der Selbstsucht der Bourgeoisie, die hinter den Bajonetten der Fürsten Schutz suchte gegen das Proletariat.

Die deutsche Frage wurde gelöst nicht durch die Fäuste der deutschen Arbeiter, sondern durch die Bajonette der preußischen Soldaten. Das neue Deutsche Reich wurde aufgerichtet unter der

Märzfeiern an der Seite des Vaters, so 1886: Der Vater ‚erklärte mir damals im Wagen die Bedeutung des Parlamentarismus und des revolutionären Kampfes für ihn. Die damalige Demonstration, an der etwa 250 Personen teilnahmen und ein beinahe ebenso großes Aufgebot an Polizei anwesend war, wobei jede Rede und jeder Ruf verboten war, machte auf mich den stärksten Eindruck, der noch erhöht wurde, als eine Verhaftung wegen eines Rufes erfolgte und mein Vater mit mir zur Polizei ging, um den Verhafteten loszubekommen.‘

Emma Adler berichtete über den damals sechsjährigen Sohn: ‚Er stand im Vorzimmer und durfte den Kranz mit den roten Schleifen tragen. Ich war erkältet und konnte nicht mitgehen, das Kind war so ungehalten, dass es mir absolut nicht Adieu sagen wollte.‘“ Häusler, Die Wiener ‚Märzgefallenen‘ und ihr Denkmal. Zur politischen Tradition der bürgerlich-demokratischen Revolution von 1848, S. 266 f.

4 Zum Brünner Nationalitätenprogramm siehe: Hans Mommsen, Die Sozialdemokratie und die Nationalitätenfrage im habsburgischen Vielvölkerstaat, Bd. 1: Das Ringen um die supranationale Integration der cisleithanischen Arbeiterbewegung (1867–1907), Wien 1963, S. 314-338; Karl R. Stadler, Die Gründung der Republik, in: Weinzierl/Skalnik (Hg.), Österreich 1918–1938, Bd. 1, S. 55-83, hier: 61 f. Gerald Stourzh urteilt über den nie verwirklichten Verfassungsentwurf des Reichstags von Kremsier 1849: „Die Anerkennung der Gleichberechtigung der Nationalitäten als Verfassungsgrundsatz ist das politisch gewichtigste Erbe der 1848er-Revolution bis zum Zusammenbruch Altösterreichs gewesen.“ Stourzh, ‚Gleiche Rechte‘. Die Grundrechtsdiskussion von 1848 und ihre Entsprechung im Postulat der nationalen Gleichberechtigung, in:

Scheichl/Brix (Hg.), ‚Dürfen’s denn das?‘, S. 77-84, hier: 81.

Herrschaft des Königs von Preußen. Mit Österreich wurden auch 10 Millionen Deutsche aus dem Deutschen Bunde ausgeschlossen.“5

Das Programm verknüpfte den Gedanken der Befreiung der nicht deutschen Nationen mit dem der Einheit und Freiheit der Deutschen. Die Sozialdemokratie, die auf dem Boden der Demokratie stehe, könne die politischen und sozialen Vorrechte der deutschen Bourgeoisie in Österreich nicht verteidigen und den nicht deutschen Nationen das Selbstbestimmungsrecht nicht verweigern. Indem sie aber die Befreiungsbestrebungen der nicht deutschen Nationen unterstütze, „bereitet sie die Einheit und Freiheit der deutschen Nation, die Vereinigung aller Deutschen in einem demokratischen Gemeinwesen vor“.6

Nicht der geringste Zweifel an der Zielsetzung des Nationalitätenprogramms der Linken konnte bestehen, wenn man einen bereits im Vorjahr unter der Überschrift „Würzburg und Wien“ im Kampf erschienenen Artikel zu den Parteitagen der Mehrheitssozialdemokraten im Deutschen Reich und der deutschen Sozialdemokraten in Österreich 1917 hinzuzog, der an Bedeutung schwerlich zu überschätzen war. Otto Bauer hatte ihn verfasst; signiert war er mit

„O. B.“. Der Artikel war eine schneidende Abrechnung mit der Politik der revisionistischen deutschösterreichischen Parteimehrheit im Kriege, zumal der von Karl Renner, erklärte unzweideutig, dass die slawischen Nationalitäten nicht weniger anstrebten als die volle nationale Souveränität, und verlangte die Rückkehr der seit Brünn schwarz-gelb gewordenen deutschen Sozialdemokratie in Österreich zum ursprünglichen großdeutschen Programm.

Bauer hob an:

„Die deutsche Sozialdemokratie ist vor einem halben Jahrhundert als eine revolutionäre Partei entstanden. Durch eine proletarische Revolution das preußisch-deutsche Kaisertum zu stürzen, auf seinen Trümmern ein Gemeinwesen der deutschen Nation – der ganzen deutschen Nation!

– aufzurichten, in ihm die Diktatur des Proletariats herzustellen und die politische Macht zur Zerstörung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung zu gebrauchen, das war das Ziel, das Karl Marx und Friedrich Engels der deutschen Arbeiterklasse gewiesen haben. Diesem Ziel

5 Ein Nationalitätenprogramm der ‚Linken‘, S. 272. Das hier und im Folgenden entfaltete Geschichtsbild der Linken entspricht vollständig dem, was Otto Bauer 1910 zum siebzigsten Geburtstag von August Bebel im Kampf geschrieben hatte. Bauer, Ein Festtag der deutschen Demokratie (Der Kampf, 3 {1909/10}), in: ders., Werkausgabe, Bd. 8, Wien 1980, S. 330-342.

6 Ein Nationalitätenprogramm der ‚Linken‘, S. 273. Im Deutschen Reich war bereits 1917 die Unabhängige Sozialdemokratische Partei in scharfer Ablehnung von Annexionen für das Selbstbestimmungsrecht der Völker eingetreten, von dem in der Friedensresolution der Mehrheitsparteien im Reichstag vom Juli 1917 mit keinem Wort die Rede war. Vgl. Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 4, S. 124.

strebten die Massen zu, die, von Wilhelm Liebknecht und August Bebel geführt, das große Werk der Organisierung der deutschen Arbeiterklasse begonnen haben.“7

Wegen der widrigen Umstände – Bauer zählte dazu auch, dass der deutschen Arbeiterklasse eine „große revolutionäre Überlieferung“ fehle – sei die Revolution zunächst aber unmöglich gewesen, und die Partei habe sich auf Werbe- und Organisationsarbeit beschränken müssen.

Über Jahrzehnten solcher Arbeit sei den Parteiführern und den Massen der Glaube an die

„soziale Revolution“ verloren gegangen, schließlich habe der Revisionismus die Theorie zu der längst etablierten Praxis geliefert. Zuerst habe sich die Partei aus Anhänglichkeit an ihre Überlieferung zwar noch gegen diese Selbsterkenntnis gewehrt, aber der 4. August 1914, die Zustimmung der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion im Deutschen Reich zu den Kriegskrediten, habe die restlose Durchsetzung des Revisionismus gebracht.

„Der Gedanke der sozialen Revolution ward abgeschworen. Die revolutionäre Etikette und die revolutionäre Phraseologie wurden verbannt.“8

Diejenigen, die diesen Weg nicht mitgehen wollten, schieden aus und gründeten die USPD.

Aus einer Partei der sozialen Revolution sei somit eine „national-soziale Reformpartei“

geworden.

Allerdings gestand Bauer, dessen Sympathien bei den Unabhängigen lagen, den reichsdeutschen Mehrheitssozialdemokraten zu, dass ihre Politik zusammen mit den andern Parteien der Reichstagsmehrheit im Jahre 1917 durchaus wichtige Erfolge erzielt hatte – im Sinne einer Annäherung Deutschlands an die bürgerliche Demokratie. Der Parteimehrheit der deutschen Sozialdemokraten in Österreich warf Bauer nun vor, noch restloser revisionistisch zu sein als die reichsdeutschen Sozialdemokraten, ohne jedoch irgendwelche vergleichbaren Erfolge vorweisen zu können.

„Die deutsche Sozialdemokratie in Österreich ist nie etwas anderes gewesen als ein Zweig der großen gesamtdeutschen Sozialdemokratie. Geistig bildete die deutsche Sozialdemokratie im Reiche und in Österreich stets eine Einheit. Die Entwicklung unserer großen Partei im Reich hat in jeder ihrer Phasen auch das geistige Leben und die politische Taktik ihres detachierten

7 O. B., Würzburg und Wien, in: Der Kampf, 10 (1917), S. 320-328, hier: 320. Tatsächlich war der Einfluss von Marx und Engels auf die frühe deutsche Arbeiterbewegung nur ein begrenzter. Die Sozialdemokraten der Frühzeit strebten keine „Diktatur des Proletariats“ an, vielmehr verstanden sie sich als Erben der 48er-Demokraten und erstrebten den demokratischen Volksstaat. Vgl. Thomas Welskopp, Das Banner der Brüderlichkeit. Die deutsche Sozialdemokratie vom Vormärz bis zum Sozialistengesetz (=Politik- und Gesellschaftsgeschichte, Bd. 54), Bonn 2000, S. 526 f., 671 f., 711.

8 O. B., Würzburg und Wien, S. 322.

Korps in Österreich mitbestimmt. [...] Der ‚Tag der deutschen Nation‘ [der 4. August 1914, D.B.] wurde nirgends mit so hellem Jubel begrüßt wie gerade in Österreich.“9

Den Grund für diesen Jubel sah Bauer darin, dass schon vor dem Krieg der „Reformismus“

die deutschen Sozialdemokraten in Österreich beherrscht habe.10 Aus der österreichischen Sozialdemokratie sei mit Karl Renner auch der bedeutendste Theoretiker des Reformismus hervorgegangen. Im Unterschied zum Deutschen Reich im Jahre 1917 sei im österreichischen Reichsrat vor dem Kriege aber die Bildung einer Parlamentsmehrheit unter sozialdemokratischer Beteiligung völlig undenkbar gewesen. Deshalb sei der Reformismus in Österreich im Wahlrechtskampf gegen das Privilegienparlament einen anderen Weg gegangen. Zusammen mit der Krone konnte das Proletariat 1905 gegen die nationalistischen Bourgeoisien das allgemeine, gleiche Wahlrecht durchsetzen.

„Mitten im Kriege die Bedingungen für die Wiederholung eines solchen Bundes zu schaffen, war der Königsgedanke der österreichischen, der Rennerschen Spielart des Reformismus. [...]

Die deutschösterreichische Sozialdemokratie, die in ihren Anfängen bis tief in die neunziger Jahre großdeutsch gewesen war, wurde schwarz-gelb bis in die Knochen. Der rote Internationalismus [...] wurde abgelöst von einem schwarz-gelben Internationalismus, dessen Wesen die Vereinigung der Nationen unter Habsburgs Zepter ist. Renner feierte im Zentralorgan der Partei die friedliche ‚Symbiose‘ der österreichischen Nationen, er triumphierte darüber, dass der ‚Staatsgedanke‘ über das Nationalitätsprinzip gesiegt habe – und das gerade damals, als der Sieg dieses Staatsgedankens vermittelt wurde durch die Hochverratsprozesse, durch die Militärgerichtsurteile, durch Zehntausende Galgen! [...] Und da Österreich-Ungarn keinesfalls kleiner werden durfte, schien die notwendige Einheit und Freiheit des polnischen und serbischen Volkes nicht anders als durch die Angliederung Polens und Serbiens an die Monarchie erreichbar; aus dieser Erwägung lehnte man Friedrich Adlers Friedensformel ‚Ohne Annexionen und Kontributionen‘ ab. Da endlich solche Vergrößerung des Habsburgerreiches ohne Zugeständnisse an das Deutsche Reich unerreichbar schien, stimmte man auch noch dem Projekt ‚Mitteleuropa‘ zu und endete so in der Begeisterung für das ökonomische Imperium von Hamburg bis Bagdad!“11

9 O. B., Würzburg und Wien, S. 324. Karl Renner, Bauers Gegenspieler in der Debatte um das Nationalitätenprogramm der Linken, sagte, nachdem er nach dem Zerfall der Habsburgermonarchie zum Anschlussbefürworter wurde, auf dem Heidelberger Parteitag der reichsdeutschen Sozialdemokraten 1925 ganz ähnlich wie Bauer 1917, die österreichische Sozialdemokratie sei ein Kind der deutschen. Vgl. Albert L.

Brancato, German Social Democrats and the Question of Austro-German Anschluss 1918–1945, S. 78.

10 Fritz Kaufmann betont, dass schon das Wiener Programm von 1901, das das Hainfelder Programm von 1889 revidierte, restlos revisionistisch gewesen sei. Vgl. Kaufmann, Sozialdemokratie in Österreich, S. 40.

11 O. B., Würzburg und Wien, S. 324 f. Zu Bauers Kritik an Renner siehe auch: Bauer, Die österreichische Revolution (1923), in: ders., Werkausgabe, Bd. 2, Wien 1976, S. 489-866, hier: 561 f.; vgl. Friedrich Heer, Der

Über das Ansinnen der Parteimehrheit, den slawischen Nationalitäten weniger zu gewähren als die volle nationale Souveränität, schrieb Bauer:

„Das Parlament trat wieder zusammen. Und nun zeigte sich die brutale Wirklichkeit der

‚Symbiose‘ der österreichischen Nationen; zeigte es sich, dass nicht der Staatsgedanke, sondern nur die Staatsgewalt über das Nationalitätenprinzip triumphiert hatte. Tschechen, Polen und Südslawen, ihre sozialdemokratischen Fraktionen eingeschlossen, betraten den Boden des Parlaments mit Erklärungen, die die volle Souveränität fordern. Mit unehrerbietigem Gelächter wiesen sie die Zumutung zurück, sich ihr Selbstbestimmungsrecht um das Linsengericht einer Kreisordnung abkaufen zu lassen. [...] Es war traurig zu sehen, wie der alte Victor Adler [der Einiger und langjährige Parteiführer der österreichischen Sozialdemokraten und Vater von Friedrich Adler, D.B.], als er zum ersten Male nach mehr als drei Jahren im Parlament das Wort ergriff, den Tschechen mild und weise zuredete, sie möchten doch auf ihre staatliche Souveränität verzichten!“12

Das Nationalitätenprogramm der Linken veranlasste Renner, den wichtigsten Exponenten der sozialdemokratischen Rechten, im Mai 1918 im Kampf zu einer äußerst scharfen Polemik, betitelt „Marx oder Mazzini?“, die sich im Kern darum drehte, was denn die Tradition der österreichischen Sozialdemokratie in der nationalen Frage sei.13 Die Linke, die Monopolansprüche auf Internationalismus und Marxismus erhebe, so Renner, ersetze in ihrem Programm den Internationalismus durch den „reinsten vorbehaltlosen Nationalismus“ und den Marxismus durch den „in Parteikreisen seit siebzig Jahren überwunden gedachten Mazzinismus“.14

Kampf um die österreichische Identität, Wien/Köln/Graz 1981, 328 f., 333. Die Haltung Renners wurde von den Gewerkschaften und den meisten übrigen Parteiführern lange geteilt, war allerdings bei Engelbert Pernerstorfer, Karl Leuthner und Victor Adler weniger großösterreichisch als vielmehr deutschnational geprägt. Vgl. Adam Wandruszka, Österreichs politische Struktur. Die Entwicklung der Parteien und politischen Bewegungen, in:

Heinrich Benedikt (Hg.), Geschichte der Republik Österreich, München 1954, S. 289-486, hier: 439.

12 O. B., Würzburg und Wien, S. 325 f.; vgl. Deak, Shades of 1848, S. 89.

13 Karl Renner, Marx oder Mazzini?, in: Der Kampf, 11 (1918), S. 294-308.

14 Ebd., S. 295. Diese Behauptungen von Renner sind weitgehend unzutreffend. Die erste Internationale war, auch wenn es keinen Bestandteil des eigentlichen marxistischen Programms bildete, für das Selbstbestimmungsrecht der Nationen und das großdeutsche Programm eingetreten. Die entstehende Arbeiterbewegung in Österreich war zunächst Teil der gesamtdeutschen und teilte das großdeutsche Programm der Partei Bebels. Zur Nationalitätenfrage der Habsburgermonarchie nahm die deutsch-dominierte Arbeiterbewegung in Österreich lange Zeit einen rein negativen Standpunkt ein, indem sie diese als Problem verleugnete, bemühte sich aber zugleich in der Partei um Rücksichtnahme auf die nicht deutschen Arbeiter.

Dieser „Internationalismus“ war oft rein deklamatorisch, d. h. die Auseinandersetzung mit der Nationalitätenfrage wurde abgelehnt, weil sie vom Klassenkampf ablenke – dabei wurde ausgeblendet, dass diese Frage aus Sicht der slawischen Nationalitäten eben nicht eine reine kulturelle, sondern auch eine soziale und wirtschaftliche Angelegenheit war; diese Art von Internationalismus bedeutete aber nach Lage der Dinge die deutsche Hegemonie in der österreichischen Arbeiterbewegung. Erst 1899, nachdem der Nationalitätenkonflikt in der Auseinandersetzung um die Sprachverordnungen des Ministerpräsidenten Kasimir Graf Badeni 1897 einen neuen Höhepunkt erreicht hatte – die deutschen Sozialdemokraten hatten in diesem Konflikt zusammen mit den Deutschnationalen gegen die tschechischen Sozialdemokraten gestimmt und die österreichische

Die Position der Linken laufe auf das „reine alldeutsche Programm“ hinaus,

„wie es Bebel und die deutsche Sozialdemokratie vor 1866 und 1870, vor ihrem Eintritt in die Internationale vertreten haben, und wie es später Schönerer im Jahre 1882 für Österreich aufgenommen hat“.

Renner warf der Linken damit vor, der großdeutsche Einheitsgedanke sei der eigentliche Kern ihres Programms; da das direkte Ansteuern dieses Zieles aber „auf neue kriegerische Lösungen hindeuten würde“, stelle die Linke sein Erreichen lediglich als die „erwünschte

sozialdemokratische Gesamtpartei war darüber zur Föderation nationaler sozialdemokratischer Parteien geworden –, konnte die österreichische Sozialdemokratie die offizielle Auseinandersetzung mit der Nationalitätenfrage nicht länger vermeiden und gab sich das Brünner Nationalitätenprogramm. Auch dieses Programm behandelte die Nationalitätenfrage als eine ausschließlich kulturelle und darüber hinaus zentrale Probleme rein dilatorisch. Schließlich kam es bereits 13 Jahre später zum Bruch; die tschechischen Sozialdemokraten schieden aus der Föderation aus. In seinem Buch „Die österreichische Revolution“ aus dem Jahre 1923 schrieb Bauer rückblickend über sein eigenes und über Renners Buch aus der Zeit nach der Jahrhundertwende zur Habsburgermonarchie und ihrer Nationalitätenfrage: „Während ich aber auch in diesem Buch jede Lösung des österreichischen Nationalitätenproblems innerhalb der Monarchie nur als eine vorläufige betrachtete, feierte Renner die österreichische Reichsidee [...] als eine geographische und wirtschaftliche Notwendigkeit.“ Schon 1908 hatte Bauer in einem wichtigen Beitrag, betitelt „Politische Symbole“, im Kampf geschrieben: „Die im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder dagegen sind nicht die Verkörperung einer realen Gemeinschaft; sie bestehen nur dank der Trägheit alles historisch Gewordenen und werden einst der umwälzenden Kraft der Geschichte weichen. Es gibt eine deutsche, eine französische, eine spanische, aber keine österreichische Sozialdemokratie, sondern nur eine Sozialdemokratische Arbeiterpartei in Österreich. Nicht ohne Absicht drückt schon der Name unserer Partei aus, dass dieser Staat nicht die Erfüllung unseres Staatsprinzips, sondern nur der reale Boden des Kampfes ist.“ Ganz ähnlich hatte Bauer sich zwei Jahre später erneut im Kampf zum siebzigsten Geburtstag von August Bebel geäußert: „Die deutsche Bourgeoisie hat längst das revolutionäre Nationalitätsprinzip vergessen, als dessen Verfechter Bebel von Bismarck besiegt worden ist. Aber in der Geschichte der Völker gibt es kein Vergessen. Wenn das Chaos des Ostens in Bewegung gerät, wenn die Nationen Osteuropas den Kampf um die Neugestaltung ihres nationalen Lebens beginnen, wenn für Europa wiederum ein Zeitalter der Kriege, der Revolutionen, der staatlichen Neubildungen anhebt, dann leben die Gedanken wieder auf, die einst die Jugend des Mannes erfüllt haben, den heute die Arbeiter Deutschlands als den letzten Erben der deutschen Demokratie ehren.“ Schließlich hatte er 1913 in einem Brief an Karl Kautsky erwogen, das Selbstbestimmungsrecht zu proklamieren, um den funktionsunfähigen Vielvölkerstaat aufzulösen.

Otto Bauer, Die österreichische Revolution, S. 558, auch 571; ders., Politische Symbole (Der Kampf, 1908/09), in: ders., Werkausgabe, Bd. 8, Wien 1980, S. 203-208, hier: 207; ders. Ein Festtag der deutschen Demokratie, S.

Otto Bauer, Die österreichische Revolution, S. 558, auch 571; ders., Politische Symbole (Der Kampf, 1908/09), in: ders., Werkausgabe, Bd. 8, Wien 1980, S. 203-208, hier: 207; ders. Ein Festtag der deutschen Demokratie, S.