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Die Gründung der Republik Deutschösterreich und der Anschluss an das Deutsche Reich Reich

II. Republik Österreich

3. Die Gründung der Republik Deutschösterreich und der Anschluss an das Deutsche Reich Reich

Als im Oktober 1918 die Mittelmächte den Weltkrieg verloren hatten und die nicht deutschen Nationalitäten sich von der Habsburgermonarchie losrissen, war die Sozialdemokratie auf der Grundlage des Nationalitätenprogramms der Linken als einzige der deutschösterreichischen Parteien in der Lage, auf die neue Situation zu reagieren. Schnell setzte sie auf die Option für den Anschluss an das Deutsche Reich; zwar betonte die Partei anfänglich immer, man gebe einem freiwilligen Zusammenschluss mit den anderen Nationen der zerbrechenden Habsburgermonarchie, der „Donauföderation“, den Vorzug, wenn die anderen Nationen aber dazu nicht zu akzeptablen Bedingungen bereit seien, dann bleibe, weil Deutschösterreich wirtschaftlich allein nicht lebensfähig sei, nur der Anschluss an Deutschland.44

Zumindest im Fall von Otto Bauer, der nach dem Tod von Victor Adler am 11. November 1918 in der Ersten Republik zur dominierenden Führungsfigur der Partei avancierte, wurde aber deutlich, dass es sich bei der vorgeblichen Bevorzugung der Donauföderation nur um ein psychologisch begründetes taktisches Manöver handelte. Damit sollte denjenigen, die der Habsburgermonarchie nachtrauerten oder die wirtschaftlichen Konsequenzen ihres Zerbrechens fürchteten, der Eindruck vermittelt werden, es sei zuerst der Versuch unternommen worden, die Verbindung zu den anderen Nationen der untergegangenen Monarchie wiederherzustellen, bevor man für den Anschluss optierte.45

Bauer selbst ging – mit guten Gründen – davon aus, dass die nicht deutschen Nationen nicht zu einem Zusammenschluss zu für die Deutschösterreicher akzeptablen Bedingungen bereit sein würden. Während jene danach strebten, durch Schutzzölle eine eigene Industrie aufzubauen, waren diese als wirtschaftlich am weitesten Fortgeschrittene daran interessiert, die nicht deutschen Absatzgebiete der Monarchie für ihre Industrieprodukte zu erhalten.46 Der

44 Die meisten zeitgenössischen Politiker – eine Ausnahme bildeten lediglich Entente-nahe Kreise und die Monarchisten –, Volkswirte und Historiker haben Deutschösterreich bzw. dann die Republik Österreich für wirtschaftlich nicht lebensfähig gehalten. Vgl. Hans Kernbauer/Eduard März/Fritz Weber, Die wirtschaftliche Entwicklung, in: Weinzierl/Skalnik (Hg.), Österreich 1918–1938, Bd. 1, S. 343-379, hier: 346; List, Die Propaganda des Austromarxismus am Beispiel der sozialdemokratischen Anschlussbewegung 1918–1933, S.

133 f.; Dachs, Österreichische Geschichtswissenschaft und Anschluss, S. 56.

45 Vgl. Panzenböck, Ein deutscher Traum, S. 89.

46 Vgl. Low, The Anschluss Movement, S. 119, 458; Peter Krüger, Die Außenpolitik der Weimarer Republik, Darmstadt 1985, S. 55. Die andern Nachfolgestaaten der Monarchie haben dann tatsächlich eine Hochschutzzollpolitik betrieben. Vgl. Ernst Hanisch, Der lange Schatten des Staates. Österreichische Gesellschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert (Österreichische Geschichte 1890–1990, hg. v. Herwig Wolfram), Wien 1994, S. 284, 297. Dem entsprach auf ideologischer Ebene, dass nach 1918 – wenn auch aus sehr verschiedenen Blickwinkeln – sowohl in der slawischen als auch der ungarischen Geschichtsschreibung von

entscheidende Schritt zur Durchsetzung des Nationalitätenprogramms der Linken in der Sozialdemokratie war die Resolution des Clubs der sozialdemokratischen deutschen Reichsratsabgeordneten vom 3. Oktober, die die Grundlage für die Verhandlungen mit den andern deutschen Parteien über die Einberufung einer Provisorischen Nationalversammlung für Deutschösterreich bildete. In dieser Resolution hieß es:

„Die Vertreter der deutschen Arbeiterschaft in Österreich erkennen das Selbstbestimmungsrecht der slawischen und romanischen Nationen Österreichs an und nehmen dasselbe Recht auch für das deutsche Volk in Österreich in Anspruch. Wir erkennen das Recht der slawischen Nationen an, ihre eigenen Nationalstaaten zu bilden, wir lehnen aber unbedingt und für immer die Unterwerfung deutscher Gebiete unter diese Nationalstaaten ab. Wir verlangen, dass alle deutschen Gebiete Österreichs zu einem deutschösterreichischen Staate vereinigt werden, der seine Beziehungen zu den anderen Nationen Österreichs und zum Deutsch Reiche nach seinen eigenen Bedürfnissen regeln soll.“47

Die vollständige Durchsetzung der Gedanken des Nationalitätenprogramms der Linken innerhalb der sozialdemokratischen Parteiführung signalisierte ein Artikel von Karl Renner im Zentralorgan der reichsdeutschen Mehrheitssozialdemokraten, dem Vorwärts, vom 26.

Oktober. Zu der Alternative Donauföderation oder Anschluss schrieb Renner dort, zwar würden die deutschösterreichischen Sozialdemokraten die Trennung von den andern Völkern der Donaumonarchie als „Opfer“ empfinden, aber:

„am Ende haben wir es satt, den unverstandenen Lehrmeister und den ungebetenen Vormund zu spielen. [...] Wir bestellen unser eigenes Haus – mögen die andern für sich selber denken und sorgen“.48

In diesem Zusammenhang ist zu betonen, dass Renner, der bis Anfang Oktober 1918 gegen das Nationalitätenprogramm der Linken gekämpft hatte, während der gesamten Ersten Republik die Anschlusspolitik der Sozialdemokraten mittrug.49

Im Laufe des Oktober und November 1918 brachte die Arbeiterzeitung ihren Lesern hinsichtlich der Nationalitätenfrage und des Anschlusses das Geschichtsbild der Revolution von 1848 und der Anfänge der deutschen Arbeiterbewegung nahe, das in den Monaten zuvor die Linke in der Parteizeitschrift Der Kampf gegen Renner vertreten hatte. Der Begriff

wenigen Ausnahmen abgesehen dem Vielvölkerstaat übereinstimmend klägliches politisches Versagen attestiert wurde. Vgl. Kann, Das Nationalitätenproblem, Bd. 2, S. 292.

47 „Die deutsche Sozialdemokratie und das Selbstbestimmungsrecht der Nationen“, in: AZ, 4.10.1918.

48 Karl Renner, „Was ist Deutschösterreich?“, in: Vorwärts, 26.10.1918.

49 Vgl. Stourzh, Erschütterung und Konsolidierung des Österreichbewusstseins, S. 295.

„Anschluss“ als Bezeichnung für die politische Vereinigung Deutschösterreichs mit dem übrigen Deutschland war übrigens selbst in der 48er-Revolution allgemein gebräuchlich geworden.50

Den Anfang machte Ludo M. Hartmann, Sohn des Dichters Moritz Hartmann, eines Achtundvierzigers, der in der Paulskirche zur äußersten Linken gehört, Österreich für einen

„Völkerkerker“ gehalten und der Delegation der Paulskirchenlinken angehört hatte, die im Oktober 1848 ins revolutionäre Wien gereist war. Selbst brennender Anschlussbefürworter, der im November von der Republik Deutschösterreich als Gesandter nach Berlin geschickt werden sollte, veröffentlichte Hartmann am 12. Oktober einen polemischen Artikel unter dem Titel „Kleindeutsch und großdeutsch“.51 Die äußerste Linke in der Paulskirche habe über die Fürsten hinweg alle deutschen Länder unter Einschluss der deutschen Provinzen Österreichs in einem Bundesstaat vereinigen wollen. Die durch Bismarck verwirklichte kleindeutsche Lösung, die deutsche Einheit bei „Amputation“ der deutschen Provinzen Österreichs, sei keine Lösung, sondern eine „Umgehung des Problems“ gewesen.52

Ausführlich legte wenige Tage später Otto Bauer unter der Überschrift „Das neue Europa“

das nun handlungsleitende Geschichtsbild der Sozialdemokratie dar. Die europäischen Völker hätten gegen die Ergebnisse des Wiener Kongresses das Nationalitätenprinzip gestellt:

„‘Jede Nation ein Staat! Die ganze Nation ein Staat!‘ fordert dieses Prinzip, das zu einem der Grundsätze der europäischen Demokratie geworden ist.“

In der Revolution von 1848 habe die deutsche Demokratie für das Nationalitätenprinzip gekämpft, „Freiheit und Einheit Deutschlands“ auf ihrer Fahne gestanden. Deutschland habe

50 Vgl. Valentin, Die Geschichte der deutschen Revolution, Bd. 2, S. 9, 89.

51 Vgl. Heer, Der Kampf um die österreichische Identität, S. 193 f., 206; Wolfgang Häusler, Freiheit im Krähwinkel? Biedermeier, Revolution und Reaktion in satirischer Beleuchtung, in: Österreich in Geschichte und Literatur, 31 (1987), S. 69-111, hier: 106-109; Valentin, Geschichte der deutschen Revolution, Bd. 2, S. 205, 211; Günter Fellner, Ludo Moritz Hartmann und die österreichische Geschichtswissenschaft. Grundzüge eines paradigmatischen Konflikts, Wien/Salzburg 1985, S. 100-102, 106; Hugh LeCaine Agnew, Dilemmas of Liberal Nationalism. Czechs and Germans in Bohemia and the Revolution of 1848, in: Sabrina P. Ramet/James R. Felak/

Herbert J. Ellison (Hg.), Nations and Nationalisms in East-Central Europe 1806–1948. A Festschrift for Peter F.

Sugar, Bloomington/IN 2002, S. 51-70, hier: 66. Die Schriftstellerin Ricarda Huch hat 1930 über Moritz Hartmann geschrieben: „Später, als Flüchtling, gehörte er zu den wenigen, die Paris verabscheuten und nur nach Deutschland, immer nach Deutschland verlangten.“ Allerdings hatte Hartmann nach der Schlacht von Sedan 1870 neben Georg Herwegh auch zu denjenigen gehört, die die Fortsetzung des Krieges gegen Frankreich verurteilten. Huch, 1848. Alte und neue Götter (1930). Mit einem Nachwort von Walter Delabar, Frankfurt a. M.

1998, S. 367; vgl. Alexandre, Die 1848er-Revolution, ihre Erben und die deutsch-französische Friedensbewegung, S. 227-229. In Leipzig erschien 1919 in der Reihe „Deutsche Revolution“ eine Neuausgabe der Erinnerungen Moritz Hartmanns aus dem Revolutionsjahr 1848, die 1861 erstmals erschienen waren: Moritz Hartmann, Revolutionäre Erinnerungen, hg. v. H. H. Houben (=Deutsche Revolution. Eine Sammlung zeitgemäßer Schriften, Bd. 4), Leipzig 1919, hier: S. 6.

52 Ludo M. Hartmann, „Kleindeutsch und großdeutsch“, in: AZ, 11.10.1918.

damals nicht auf die Zugehörigkeit Deutschösterreichs verzichten wollen und deshalb die Auflösung Österreichs und die Freigabe von dessen nicht deutschen Nationen angestrebt.

„Für dieses Ziel haben damals auch die deutschen Arbeiter gekämpft: das war das Ziel der Wiener Oktoberrevolution von 1848, das war das nationale Programm Marxens, Engels, Lassalles, Wilhelm Liebknechts, August Bebels in all den Kämpfen von 1848 bis 1871.“

Als nach 1871 mit der kleindeutschen Lösung und der vorläufigen Abschließung der Staatsbildung in Europa die großdeutsche Frage nicht länger aktuell war, habe sich die Aufgabe der österreichischen Sozialdemokratie darauf beschränkt, für die Neugestaltung des Zusammenlebens der Völker Österreichs auf demokratischer Grundlage einzutreten. Seit 1899 kämpfe die Partei für die Umgestaltung Österreichs zu einem „Bundesstaat freier Nationen“.

Das sei auch heute noch Programm; falls die anderen Nationen einen solchen Bund wollten,

„werden sie uns dazu bereit finden“. Für den Fall jedoch, dass die andern Nationen den Bund aber nicht anstrebten, sah Bauer vor:

„Uns bliebe in diesem Fall kein anderer Weg als der, zurückzugreifen auf unser ursprüngliches nationales Programm, auf das Programm, für das schon 1848 Marx und Engels, für das in den Sechzigerjahren Lassalle und Schweitzer, Liebknecht und Bebel gekämpft haben: auf das Programm eines neuen Europa, in dem das deutsche Volk so gut wie alle anderen Völker alle seine Stämme in einem unabhängigen Nationalstaat vereint.“53

Nicht übersehen werden sollte, dass – jenseits der 48er-Tradition und der Frage der wirtschaftlichen Lebensfähigkeit eines selbstständigen Deutschösterreich – ein weiteres ganz handfestes Motiv für den Anschluss an das Deutsche Reich sprach. Die Gründung des tschechoslowakischen Staates zog die Trennung der Sudetendeutschen, eines Drittels der Deutschen in Österreich, von den Deutschen in den Alpenländern nach sich. Bauer schrieb dazu 1923 im Rückblick:

„Die Deutschen in Böhmen, Schlesien und Nordmähren, von den deutschen Alpenländern durch das tschechische Gebiet räumlich geschieden, hatten ja keine andere Wahl als die zwischen der tschechischen Fremdherrschaft und dem Anschluss an das Reich. Die sechs Millionen Deutschen der Alpenländer, seit Jahrhunderten mit den drei Millionen Deutschen

53 Otto Bauer, „Das neue Europa“, in: AZ, 17.10.1918; auch: „Die deutsche Frage und die Sozialdemokratie“, in:

AZ, 1.2.1919. Valentin hat über die Wiener Oktoberrevolution 1848 geurteilt: „Der deutschösterreichische, großdeutsche Patriotismus war der erste Hauptzug der Wiener Oktoberrevolution.“ Valentin, Geschichte der deutschen Revolution, Bd. 2, S. 199.

der Sudetenländer eng verbunden, konnten diese Verbindung nur im Rahmen des Deutschen Reiches aufrechterhalten.“54

Staatskanzler Renner bezeichnete Ende Januar 1919 in einem Interview mit einer britischen Zeitung, in dem er auch versicherte, Deutschösterreich als Ganzes, nicht nur Wien habe den glühenden Wunsch nach dem Anschluss an das Deutsche Reich, die Frage der Sudetendeutschen als das entscheidende Hindernis für eine Donaukonföderation. Wenn die Tschechen auf die Eingliederung der sudetendeutschen Gebiete in ihr Staatswesen verzichtet hätten, wäre die Donauföderation möglich gewesen. Jetzt seien die sudetendeutschen Gebiete eine „Terra irredenta“:

„Wie können dreieinhalb Millionen Menschen, die zu einem Siebzigmillionenvolk gehören, dulden, dass sie von einer Nation von acht Millionen regiert werden?“55

Auch hier, im negativen Verhältnis zu den Tschechen, waren die Sozialdemokraten zunächst Erben der Wiener Demokraten von 1848, wobei allerdings hinzuzufügen ist, dass Renner nach dem Verbot des Anschlusses durch die Alliierten 1919 aus realpolitischer Einsicht die außenpolitische Annäherung an die Tschechoslowakei betrieb.56

Das Pendant zum Rückgriff auf das ursprüngliche nationale Programm war bei den Sozialdemokraten die hasserfüllte und schadenfrohe Verabschiedung der Habsburgermonarchie – eine Haltung, die ihnen von denen, die anders empfanden, sehr verübelt werden sollte. Am 19. Oktober schrieb die Arbeiterzeitung unter der Überschrift

„Das Ende des Reiches“, dieses werde die Katastrophe nicht überleben. Zugleich behauptete sie, dass alles nicht so hätte kommen müssen, wenn man nach der Wahlrechtsreform 1905 oder auch noch nach dem Kriegsausbruch Österreich-Ungarn in einen Bundesstaat freier

54 Bauer, Die österreichische Revolution, S. 622; ders., „Der deutschösterreichische Staat“, in: AZ, 13.10.1918;

vgl. Erich Zöllner, Der Österreichbegriff. Formen und Wandlungen in der Geschichte, Wien 1998, S. 71; Low, The Anschluss Movement, S. 124; Myers, Germany and the Question of Austrian Anschluss 1918–1922, S. 58, 226. Fritz Fellner schreibt zu diesem Thema: „Es sollte vielleicht stärker, als es bisher für das österreichische Geschichtsbild geschehen ist, herausgearbeitet werden, wie sehr die cisleithanische Politik vor 1918 und die Politik und Bewertung der Friedensverhandlungen von 1919 und die Kulturpolitik der Ersten Republik bis zum Anschluss von dem Faktum beherrscht worden sind, dass die führenden Politiker und Kulturschaffenden zu einem beachtlichen Teil nicht aus den Erbländern, sondern aus Böhmen und Mähren stammten.“ Das traf auch weitgehend auf die beiden führenden Sozialdemokraten zu: Bauer hatte seine Jugendjahre in Böhmen verbracht, Renner stammte aus Mähren. Fritz Fellner, Der Vertrag von St. Germain, in: Weinzierl/Skalnik (Hg.), Österreich 1918–1938, Bd. 1, S. 85-106, hier: 89; vgl. Wandruszka, Österreichs politische Struktur, S. 436; Hannak, Karl Renner und seine Zeit, S. 15 f.; Kaufmann, Sozialdemokratie in Österreich, S. 102, FN 145.

55 „Deutschösterreich. Renner über die Lage in Wien“, in: AZ, 2.2.1919.

56 Vgl. Wolfgang Häusler, Hermann Jellinek (1823–1848). Ein Demokrat in der Wiener Revolution, in: Jahrbuch des Instituts für deutsche Geschichte, 5 (1976), S. 125-175, hier: 139 f.; zum Verhältnis zwischen Deutschen und Tschechen im Revolutionsjahr siehe: Eckhard Stephan, Deutsche und Tschechen im Revolutionsjahr 1848/49, in: Historische Mitteilungen, 11 (1998), S. 197-219; Kaufmann, Sozialdemokratie in Österreich, S. 142.

Völker umgebaut hätte, aber das deutsche Bürgertum habe vor dem Krieg sowohl im Innern als auch nach außen eine Politik gemacht, die allein auf die Gewalt gesetzt habe.

Wie 1848 beanspruchten die Nationen jetzt das Recht, selbst über ihr Schicksal zu entscheiden. Weil die Völker jetzt viel reifer und mächtiger als damals seien, könne sie „kein Windischgrätz und kein Radetzky“ niederwerfen.57

„Die Tschechen, Polen, Slowenen, Kroaten, Italiener, bei keinem dieser Völker ist auch nur ein Hauch von Bedauern zu spüren; nirgendwo auch nur die leiseste Empfindung dafür, dass doch ein Band zerrissen wird, das jahrhundertelang bestanden hat, keine Rührung, kein Wehmut, kein Schmerz, alles Gefühle, die sich selbst bei dem Zuchthäusler einstellen, wenn er den Kerker verlässt.“

Auch wenn die Völker sich zu einem freien Bund zusammenschlössen, so würde er doch von dem alten Österreich grundverschieden sein.

„Das klägliche Gejammer über den Zusammenbruch des Vergangenen ist töricht. Der Ruf nach der starken Hand, die die Völker wieder zusammenzwingen soll, ist albern. Das Vergangene ist tot und die Zeit gewaltsamer Bindung ist vorbei.“58

Dass nur die Gewalt das Habsburgerreich zusammengehalten habe, wurde nun zum Kern der sozialdemokratischen Wertung der Habsburgerdynastie – ein Urteil, mit dem die Sozialdemokraten ganz in der Tradition der Paulskirchenlinken standen:

„Denn dieser Staat besteht schon seit 1848 nur durch die Gewalt, die die auseinanderstrebenden Völker zusammenhält. Wenn die Gewalt zusammenbricht, dann streben die Nationen auseinander, sie versuchen es, ihre eigenen Nationalstaaten aufzurichten oder sich mit ihren Nationalstaaten außerhalb Österreichs zu vereinigen. So war es 1848. So ist es jetzt wieder.“59

57 Zutreffender ist jedoch die Analyse, die Bauer im Rückblick in seinem Buch „Die österreichische Revolution“

aus dem Jahre 1923 gab: Ausschlaggebend war 1918 die Auflösung des habsburgischen Heeres an der italienischen Front; diese Auflösung hatte in magyarischen und slawischen Truppenteilen ihren Ausgang genommen. „Der eiserne Mechanismus, der zehn auseinanderstrebende Nationen zusammengehalten, sie unter Habsburgs Herrschaft erhalten hatte, war zerstört. Damit war das Reich aufgelöst. Damit war Habsburgs Herrschaft zu Ende.“ Bauer, Die österreichische Revolution, S. 613, auch: 626. Die Auflösung der Truppen 1918 wurde von Bauer als eine „nationale Revolution“ der slawischen Völker der Monarchie charakterisiert. Das stellte eine Parallele zur 48er-Revolution in Österreich da, die auch als nationale Revolution mit den Forderungen der Ungarn und Tschechen begonnen hatte. Vgl. Wolfgang Häusler, Revolution 1848 und die Anfänge der österreichischen Arbeiterbewegung, in: Gewerkschaftliche Einheit/Bewegung für Sozialismus (Hg.), Geschichte der österreichischen Arbeiterbewegung, Wien 1979, S. 7-22, hier: 12; Istvan Deak, Shades of 1848, S. 90 f.

58 „Das Ende eines Reiches“, in: AZ, 19.10.1918.

59 Über die Paulskirchenlinke schreibt Botzenhart: „Die Abgeordneten der Linken erklärten, dass die Habsburger Monarchie schon seit längerer Zeit nur noch ein durch Gewalt und die Macht der Bajonette zusammengehaltenes Konglomerat von Nationalitäten sei.“ Botzenhart, Die österreichische Frage, S. 118. Staatskanzler Renner formulierte am 2. Juni 1918 bei der Übergabe der Friedensbedingungen durch die Siegermächte in St. Germain:

„Folglich tragen Gebiet und Bevölkerung der früheren Monarchie insgesamt die Verantwortung für die Folgen

Anderswo werde der Friede, nachdem sich die Klassengegensätze im Krieg so verschärft hätten, den „Entscheidungskampf“ zwischen Bourgeoisie und Proletariat bringen, auf dem Gebiet der Habsburgermonarchie gehe es darum, erst überhaupt Staaten zu schaffen, in denen dann das Proletariat in einem weiteren Schritt die Macht erobern könne – die „bürgerliche Revolution“ zu vollenden, die 1848 zunächst gescheitert war. Der Vielvölkerstaat sei ein denkbar schlechter Boden für den Klassenkampf der Sozialdemokraten gewesen, da es der Nationalitätenkonflikt ihnen unmöglich gemacht habe, ihren Forderungen Gehör zu verschaffen. Eine deutschösterreichische Demokratie biete dem Proletariat ungleich bessere

„Kampfbedingungen“.60

Die deutschösterreichische Staatsgründung vollzog sich im Oktober und November 1918 binnen weniger Wochen. Am 21. Oktober konstituierten sich die deutschen Abgeordneten des Reichsrates im niederösterreichischen Landhaus in der Herrengasse in Wien als deutschösterreichische Nationalversammlung. Der Sozialdemokrat Karl Seitz, einer der drei Präsidenten der Versammlung, erklärte auf den Ausbruch der Wiener Märzrevolution 1848 am selben Ort anspielend:

„Es ist eine historisch denkwürdige Stätte, an der die erste Nationalversammlung der Deutschen Österreichs tagt. Vom Landhause in Niederösterreich ging vor mehr denn siebzig Jahren jene große Volksbewegung aus, deren Ziel war, dass die Völker ihre Schicksale selbst bestimmen können. Der Gedanke des Selbstbestimmungsrechtes konnte durch lange Zeit zurückgedämmt werden, die Volksbewegung konnte unterdrückt werden, aber immer wieder blieb sieghaft die Idee der Selbstbestimmung der Völker, immer wieder rang sie sich durch.

Nach diesem vier Jahre langen Wüten des blutigen Weltkriegs mit all seinen Greueln und Schrecken taucht aus dem Meere von Blut und Tränen wieder empor die große Idee des Selbstbestimmungsrechtes der Völker.“

Damit deutete Seitz die sozialdemokratische Sicht der bisherigen Ereignisse im Herbst 1918 als nationale Revolution an, als den Sieg der nationalen Revolution, die im Oktober 1848 in Wien unterlegen sei. Für die Sozialdemokraten gab der Parteiführer Victor Adler, wenige Tage vor seinem Tod, eine Erklärung ab. Er bat die Versammlung ihm als „einem Alten“ die

des Krieges, zu dem die Machthaber sie alle gezwungen haben. [...] Aber unsere neue Republik ist ledig geworden aller jener Herrschaftsgelüste, die zum Verhängnis der alten Monarchie geworden sind, ledig jener reaktionären Traditionen, die die alte Monarchie zum Gefängnis ihrer Völker gemacht hatten, sie ist leider das Opfer jener furchtbaren Schuld von 1914, die die Schuld der früheren Machthaber, nicht die Schuld der Völker gewesen ist.“ Fellner, Der Vertrag von St. Germain, S. 95 f.

60 „Staatsbildung und Klassenkampf“, in: AZ, 26.10.1918; „Ende der Militärmonarchie“, in: AZ, 3.11.1918;

ähnlich: Karl Leuthner, „Die Hausmacht“, in: AZ, 22.11.1918; „Die Hetze gegen die Republik“, in: AZ, 23.11.1918; „Die Schuldigen“, in: AZ, 26.11.1918; Karl Leuthner, „Nicht Helden, sondern Märtyrer“, in: AZ, 4.12.1918.

Bemerkung zu erlauben, dass die Errichtung Deutschösterreichs „endlich die Verwirklichung dessen ist, was wir seit der Jugend ersehnen!“ – Adler war genauso wie sein Freund Engelbert Pernerstorfer, ein weiterer führender Sozialdemokrat dieser Generation, in jungen Jahren Anfang der 1880er-Jahre in der deutschnationalen Gruppierung Georg von Schönerers aktiv gewesen.61

Adler verlas die Erklärung der Sozialdemokraten, die die hier bereits ausgeführte Position der Partei zu Donauföderation und Anschluss – im Falle des Anschlusses sollte Österreich ein

Adler verlas die Erklärung der Sozialdemokraten, die die hier bereits ausgeführte Position der Partei zu Donauföderation und Anschluss – im Falle des Anschlusses sollte Österreich ein