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II. Republik Österreich

2. Märzgedenken im Weltkrieg

Auch im Ersten Weltkrieg hatten die österreichischen Sozialdemokraten ihre Tradition fortgesetzt, alljährlich am 13. März durch den Besuch an den Gräbern der Revolutionsgefallenen auf dem Zentralfriedhof und durch Zeitungsartikel der Revolution von 1848 zu gedenken.33 Der Gräberbesuch vollzog sich weiterhin in der Form, wie sie im Jahr 1912 eingeführt worden war; nicht mehr die gesamte Wiener Parteimitgliedschaft wurde wie früher zur Teilnahme aufgerufen, sondern die Organisationen der einzelnen Bezirke entsandten Delegationen, aber auch so nahmen im Jahr 1917 etwa tausend Menschen an der Feier teil.34 In drei der vier Kriegsjahre widmete die Arbeiterzeitung, das Zentralorgan der

32 Vgl. Panzenböck, Ein deutscher Traum, S. 38. In dem Begleitband zur parteioffiziellen Ausstellung zum 100.

Jubiläum der österreichischen Sozialdemokratie 1988 kommt die Auseinandersetzung um das Nationalitätenprogramm der Linken nicht vor. Dort heißt es lediglich: „Ab 1917/18 trat man für einen baldigen Friedensschluss ohne Annexionen und für einen demokratischen Umbau der Monarchie ein, worum sich Renner bis zum Schluss des Krieges bemühte.“ Im Beitrag zur Revolution von 1918 ist immerhin zu lesen, dass „Otto Bauer frühzeitig und völlig in der Tradition der Partei für den Anschluss Deutschösterreichs ans Deutsche Reich eintrat“. Vgl. Severin Heinisch, SPÖ und österreichische Nation. Zum Geschichtsbild der Sozialdemokratie, in:

Die ersten hundert Jahre, S. 100 f., hier: 101; Manfred Marschalek, Die ordentliche Revolution. Der November 1918 und die österreichische Sozialdemokratie, in: ebd., S. 196-199, hier: 196. Auch Hans Peter Hye übergeht in seiner Einleitung zu einem wichtigen Sammelband zu 1848 und der Revolutionserinnerung in Mitteleuropa die Auseinandersetzung um das Nationalitätenprogramm der Linken, wenn er schreibt, dass in der Zwischenkriegszeit die Revolutionserinnerung für die Sozialdemokraten „nur noch ausnahmsweise aktuelle politische Dimension“ gewann – dabei war sie die historische Rechtfertigung für die Option für den Anschluss.

Vgl. Hye, Einleitung: Was blieb von 1848?, in: Haider/Hye (Hg.), 1848, S. 9-29, hier: 29.

33 Zur Märzrevolution 1848 in Wien siehe: Wolfgang Häusler, ‚Was kommt mit kühnem Gange?‘ Ursachen, Verlauf und Folgen der Wiener Märzrevolution 1848, in: Ernst Bruckmüller/Wolfgang Häusler (Hg.), 1848.

Revolution in Österreich, Wien 1999, S. 23-54; zum sozialdemokratischen Revolutionsgedenken zur Zeit der Monarchie: ders., Die Wiener ‚Märzgefallenen‘ und ihr Denkmal, S. 251-275, hier: 260, 266-270; früher schon (im Gegensatz zum späteren Text mit Fußnoten): ders., ‚Noch sind nicht alle Märzen vorbei ...‘ Zur politischen Tradition der Wiener Revolution von 1848, S. 101-108; Eckart Früh, Geduld ihr Brüder! Sozialistische Gedichte zum März 1848. Vaterländische und nationalsozialistische zum März 1938, S. 496-502; dazu und zum Revolutionsgedenken 1898 in Wien: Lengauer, Exil, Verdrängung, Verblassen. Die Revolution von 1848 in der österreichischen Literatur, S. 283-287; Susanne Böck, Radetzkymarsch und Demokratie. Zur politischen Rezeption der Revolution von 1848, S. 140-147; Steven Beller, Das Licht der Welt. Der 1848-Mythos und die Emanzipationsideologien, S. 169-188.

34 „Am Grabe der Märzgefallenen“, in: AZ, 13.3.1917; „Die Märzfeier“ in: AZ, 15.3.1915; auch: „Gedenkfeier der Arbeiterschaft am Grabe der Märzgefallenen“, in: Neue Freie Presse (fortan: NFP), 13.3.1916; „Die Märzfeier“, in: AZ, 13.3.1916.

österreichischen Sozialdemokratie, seinen Leitartikel am Märzfeiertag der Revolution von 1848.35

Ein konstantes Thema der Artikel über den Besuch an den Gräbern der Märzgefallenen war das Gefühl, dass die Erinnerung an diese wenigen durch den Tod der vielen Tausenden jeden Tag auf den Schlachtfeldern überlagert wurde.36 Der Leitartikel 1916 sah in dem Weltkrieg den Anbruch eines neuen Zeitalters, sodass, was bisher Vergangenheit gewesen sei, zur

„Vorvergangenheit“ werde. Im „blutigen Scheine“ des Krieges werde deutlich, „wie sehr das

‚tolle Jahr‘ schon der Geschichte angehört“.37 Neben der Feststellung, dass die Erinnerung an 1848 durch die Ereignisse des Weltkriegs überlagert werde, gab es aber in den Artikeln der Arbeiterzeitung während des gesamten Krieges auch einen aktualisierenden Bezug auf die 48er-Revolution.

Im März 1915 benutzte der parteilinke Theoretiker Max Adler die Revolution von 1848 als Folie für eine Kritik der Kriegspropaganda. Auch der „unvergessliche Völkerfrühling“ von 1848 sei – Adler erinnerte an die Kämpfe in Paris, Wien und Ungarn – ein „Völkerringen“

gewesen, und der „Freiheitskampf“ des Jahres 1848 bleibe trotz seiner Niederlage, und obwohl er nur ein bürgerlicher Kampf gewesen sei, eine der „stolzesten Erinnerungen“ auch des Proletariats. Schon die Zeitgenossen hätten den Kampf als einen Völkerfrühling, als einen Gewinn an „Mündigkeit und Selbständigkeit“ der Völker, als einen Krieg der Völker gegen ihre Unterdrücker für ihre Freiheit empfunden.

Waren 1848 die Völker Handelnde gewesen, so behaupteten heute alle am Kriege Beteiligten, Opfer des Systems zu sein:

„Es ist der tiefe Unterschied, der die eigentliche und moralische Größe einer Zeit ausmacht, ob die Völker in den Ereignissen derselben mit eigenem Willen stehen oder ob sie, bloß dahingerissen von ihr, sich ihre Ziele und Interessen diktieren lassen von den durch sie geschaffenen Zwangssituationen und Zwangssuggestionen. Wie jedes Volk und jede Regierung von diesem Kriege behauptet, hat niemand ihn gewollt, sie alle sind Opfer eines

35 „Alte und neue Gräber“, in: AZ, 14.3.1915; „Zum Gedenken der Märztage“, in: AZ, 12.3.1916; „Zwei Revolutionen“, in: AZ, 13.3.1918.

36 „Alte und neue Gräber“, in: AZ, 14.3.1915; „Der 18. März 1848“, in: AZ, 19.3.1915; „Die Märzfeier“, in: AZ, 13.3.1916. Wolfgang Hardtwig hat darauf aufmerksam gemacht, dass im Deutschen Reich der Erste Weltkrieg als ein absolutes Novum auch das Bild Bismarcks als zeitlos vorbildhaften Staatsmann berührte. Vgl. Hardtwig, Der Bismarck-Mythos. Gestalt und Funktionen zwischen politischer Öffentlichkeit und Wissenschaft, in: ders.

(Hg.), Politische Kulturgeschichte der Zwischenkriegszeit (=Geschichte und Gesellschaft. Zeitschrift für historische Sozialwissenschaft, Sonderheft 21), Göttingen 2005, S. 61-90, hier: 66.

37 „Zum Gedenken der Märztage“, in: AZ, 12.3.1916.

Systems, das fast zwangsläufig zu diesem allgemeinen Zusammenstoß führen musste. Ist nun da er erfolgt ist und alle seine Opfer bestrebt sind, ihn durchzuhalten, irgend ein Anlass, von der Größe der Zeit zu sprechen, die wir erleben?“

Adler lehnte es ab, wie es alle Kriegsparteien täten, von „der Größe“ der Opfer der Völker im Weltkrieg zu sprechen; sie seien bloß „schrecklich“ und „entsetzenderregend“.38

Im Jahr darauf, 1916, stellte der Leitartikel zum Märzgedenktag Überlegungen für die Zeit nach dem Krieg an. Nach dem Krieg würden die Völker erkennen,

„dass ein Wiederaufbau nur auf den Fundamenten der Völkerfreiheit und Völkerverbrüderung möglich ist, die einst im Februar und März gelegt worden sind“.

Österreich könne sich im Innern nur erneuern, indem es an den Verfassungsentwurf von Kremsier anknüpfe – das lag auf der Linie, wie sie Renner gegen Bauer noch 1918 im Kampf vertrat –; alle Verfassungsexperimente seit Kremsier seien verfehlt gewesen.39 In Europa müsse das Ziel der „Friedensbund aller Kulturvölker“ sein.40 Ganz ähnlich lautete die Forderung von Wilhelm Ellenbogen, der in diesem Jahr die Rede auf der Märzfeier hielt:

„Das Grab, an dem wir heute stehen, bildet in unserer Vorstellung den symbolischen Ausgangspunkt der Erneuerung Österreichs und der Befreiung seiner Völker. [...] Was jahrzehntelange Kämpfe nicht gebracht haben, was bürokratischer Unverstand und politische Unzulänglichkeit verweigert haben, der Krieg wird es uns unweigerlich bringen müssen: ein freies Österreich der friedlich vereinten Völker.“

Otto Glöckel, der Redner am Grab der Märzgefallenen ein Jahr später, ging mit seinen Forderungen sehr viel weiter (ein langer Abschnitt des Abdrucks seiner Rede in der Arbeiterzeitung fiel der Zensur zum Opfer). Die Märzgefallenen und die Gefallenen des Weltkriegs mahnten, dafür zu kämpfen, dass der Weltkrieg der letzte Krieg bleibe:

„Dieses Vermächtnis zu erfüllen, wird nur dann gelingen, wenn wir die Vorbedingungen, die Ursache blutiger Entscheidungen beseitigen, das heißt den Kapitalismus durch den Sozialismus ersetzen.“41

38 Max Adler, „Große Zeit“, in: AZ, 14.3.1915.

39 Zum Reichstag von Kremsier siehe: Der Reichstag von Kremsier 1848–1849 und die Tradition des Parlamentarismus in Mitteleuropa. Sammelband mit Beiträgen der gleichnamigen internationalen Konferenz veranstaltet im Rahmen der Feierlichkeiten anlässlich des 150. Jahrestages des Reichstages von Kremsier, Kremsier 1998. Stefan Malfér betont, dass Renner und Bauer in ihren Werken zur Nationalitätenfrage vor dem Weltkrieg sich zwar positiv über den Verfassungsentwurf von Kremsier geäußert hätten, mit ihren eigenen Konzepten zur Lösung der Nationalitätenfrage aber nicht daran angeknüpft hätten. Kremsier sei lediglich Chiffre für einen angestrebten Kompromiss in der Nationalitätenfrage gewesen, nicht aber als wegweisend für den Inhalt betrachtet worden. Stefan Malfér, Kremsier in der österreichischen Verfassungsdiskussion um 1900, in: ebd., S.

65-76, hier: 69, 72 f.

40 „Zum Gedenken der Märztage“, in: AZ, 12.3.1916.

41 „Am Grabe der Märzgefallenen“, in: AZ, 13.3.1917.

Im Frühjahr 1918 verglich der Leitartikel zum Märzgedenktag die Revolution von 1848 mit der Russischen Oktoberrevolution von 1917. Scharf betont wurde, wie sich nach anfänglichem gemeinsamen Kampf bald in beiden Revolutionen Bourgeoisie und Proletariat in „Todfeindschaft“ gegenübergestanden hätten. Aus der Erfahrung, selbst in der Vergangenheit von der Bourgeoisie verleumdet worden zu sein, begründete der Leitartikel die Solidaritätserklärung mit den russischen Bolschewiki:

„Jahrzehntelang hat unsere Bourgeoisie die Oktoberrevolution des Wiener Proletariats geschmäht und verleumdet. Alle diese Schmähungen, alle diese Verleumdungen finden wir heute wieder in dem Lügenfeldzug gegen die Bolschewiki! Weil an jenem 6. Oktober der Graf Latour der rasenden Wut einer zum äußersten aufgepeitschten Menge zum Opfer gefallen ist, hat die Bourgeoisie die ganze Wiener Arbeiterschaft als eine Bande von Mördern hingestellt;

so macht sie heute das ganze russische Proletariat für die Ermordung Schischkins und Kokoschins verantwortlich! [...] Die Wiener Arbeiterschaft weiß, was sie von dem Verleumdungsfeldzug gegen die Bolschewiki zu halten hat: sie erkennt in ihm den Verleumdungsfeldzug gegen ihre eigene Geschichte wieder.“42

In der Revolution der Bolschewiki erblickte die Arbeiterzeitung die erste Herrschaft des Proletariats über ein großes Reich. Selbst im Falle ihrer Bezwingung durch ihre Feinde werde die russische Revolution doch von dem gewaltigen Fortschritt des Proletariats seit 1848 künden.43

42 Der Kriegsminister Latour war, weil er entgegen seines mehrfachen Ehrenworts die kroatischen Truppen des Banus Jellacic im Kampf gegen die Ungarn unterstützt und den Abmarsch von Truppen aus Wien zur Niederschlagung der Revolution in Ungarn befohlen hatte, am 6. Oktober von einer aufgebrachten Menge gelyncht worden. Noch Veit Valentin urteilte in seiner Revolutionsgeschichte von 1930/31: „Die Bestialität dieser Ermordung befleckte den Freiheitskampf in einem Grade, gegen den es keine Abhilfe gab.“ Valentin, Geschichte der deutschen Revolution 1848–1849, Bd. 2: Bis zum Ende der Volksbewegung von 1849 (1931), Nd., Weinheim/Berlin 1998, S. 197; vgl. Wolfgang Häusler, Von der Massenarmut zur Arbeiterbewegung.

Demokratie und soziale Frage in der Wiener Revolution von 1848, Wien/München 1979, S. 378-385; Lothar Höbelt, 1848. Österreich und die deutsche Revolution, Wien/München 1998, S. 198 f., 203 f., 210; Waltraud Heindl, ‚Hoch, hoch an die Laternen!‘ Aus dem Tagebuch der Wiener Oktoberrevolution, in:

Bruckmüller/Häusler (Hg.), 1848, S. 128-138.

43 „Zwei Revolutionen“, in: AZ, 13.3.1918. Das Gedenken an die russische Oktoberrevolution wurde zum festen Bestandteil des sozialdemokratischen Kalenders in der Ersten Republik. Vgl. Walter Goldinger, Geschichte der Republik Österreich 1918–1938 (1962), Wien/München 1992, S. 90. Bauer hat den Bolschewismus zunächst konsequent abgelehnt, ihn aber ab 1920 zunehmend als für Russland vorübergehende Notwendigkeit gerechtfertigt – dabei aber stets betont, dass die Sozialdemokraten dem russischen Beispiel nicht folgen wollten, weil es für Österreich nicht angemessen sei. Vgl. Norbert Leser, Ignaz Seipel und Otto Bauer. Versuch einer kritischen Konfrontation, in: Geschichte und Gegenwart, 1 (1982), S. 251-285, hier: 264.

3. Die Gründung der Republik Deutschösterreich und der Anschluss an das Deutsche