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Rekapitulation und Anklage gegen die üeutsthe Sozialdemokratie

Im Dokument die Esten und die estnische Zrage I (Seite 169-176)

L Allgemeiner Aberbltck

5. Rekapitulation und Anklage gegen die üeutsthe Sozialdemokratie

(Ende Februar *9*8 besetzten deutsche Truppen (Estland und (Ende November desselben Jahres räumten sie das Land. Das Ziel der Okkupation war die Angliederung (Estlands an Deutschland, seine Besiedlung mit deutschen Bauern, wodurch die nationale (Ent-Wicklung und die (Existenz des (Estenvolkes dem Deutschtum zum Opfer gebracht werden sollte. Der erste Schritt auf diesem lvege bestand in der sofortigen Beseitigung aller demokratischen verwal-tungsinstitutionen, die durch mittelalterliche Standesinstitutionen und Militärbehörden ersetzt wurden. Der örtliche Adel und dt»

deutsche Militärobrigkeit gingen darin Hand in Hand. Die deutsche Reichsregierung war mit dem baltischen Adel einig und die deutsche sozialdemokratische Mehrheitspartei tat nichts, um die offensichtliche Vernichtung des estnischen Volkes zu bekämpsen.

In ihrem reaktionären XDahrt gingen die deutschen Standes-Herren mit ihren reaktionären Verwaltungspraktiken in (Estland noch weiter als die russische Reaktion in ihrer schlimmsten Zeit. Das kand bekam den Charakter einer afrikanischen Kolonie, die Bevölke-rung bildete nur noch eine entrechtete Masse von Heloten. Die Siege der Revolution wurden spurlos beseitigt. — Die deutschen Okkupationsbehörden entblößten das Land von Lebensmitteln und Gebrauchsgütern, gleichzeitig wurden die Löhne der Arbeiter herab-gesetzt, der Arbeitstag wurde aber verlängert. Um die Feudalherren

uttb die Wucherer zu begünstigen, wurden die pachten und Abgaben Her Bauern (Esten) durch obrigkeitliche Befehle in die Höhe ge-schnellt und ein doppelter Geldkurs vorgeschrieben, um die deutschen Standesherren auf Rosten der Esten zu begünstigen. Die bürger­

lichen Rechte und Freiheiten waren restlos aufgehoben. Es herrschte eine Adels- und Militärdiktatur, die keine Grenzen kannte.

Die estnische Sprache war aus der Schule und Verwaltung ver­

bannt. Der deutsche Lehrertag in Riga — im Sommer *9*8 — ver­

urteilte wohl die ehemaligen Russifikationspraktiken der zaristischen Zeit, wollte aber in demselben Moment von der Forderung der est-nischen Teilnehmer an dieser Tagung nichts hören, estest-nischen Rin-dern den Schulunterricht in Estland in estnischer Sprache zu erteilen.

In gleichem Atemzuge mit der Verurteilung der Russifikation in der ehemaligen Schule erklärte sich der deutsche Lehrertag in Riga für die „Eindeutschung" der estnischen und lettischen Rinder durch den öffentlichen Schulunterricht!

Die estnische presse — soweit sie nicht rückgratlos war — wurde ststiert und neue Zeitungen geschaffen, die man demagogisch dem Volke aufzuzwingen suchte. Selbst diese Organe wurden schlimmer vergewaltigt, als die Bolschewisten es taten. Das Oberkommando zwang diese Blätter, auch die unsinnigsten Geistesergüsse der all­

deutschen Propagandisten als eigene Auslassungen der Redaktio-nen abzudrucken und zwar an leitender Stelle. So 3. B. auch die Schreibereien des „Auch-Sozialdemokraten" und „sozialdemokrati­

schen" Pressevertreters Ernst Heitmann. Als Schriftleiter der

„Intern. Rorrefpondenz" hatte dieser Herr in Estland eine Besuchsreise gemacht. Er ließ sich von den militärischen Macht«

habern und dem Feudaladel bewirten und schrieb hinterher ergrei­

fende Schilderungen von den Tugenden und guten Eigenschaften des Adels, während er von dem Estenvolke nichts Gutes zu sagen hatte, seine Unabhängigkeitsbestrebungen aber verächtlich machte und feine Führer als vorn englischen Gelde gekaufte Subjekte verdächtigte.

Auch diese Schreibereien zwang die deutsche Militärobrigkeit die e s t n i s c h e n Z e i t u n g e n a b z u d r u c k e n u n d a l s M e i n u n g s ä u ß e ­ rung der deutschen Sozialdemokratie zu kennzeich­

nen. Und die deutsche Parteileitung fand es nicht für notwendig, dem zu widersprechen! Nein, sie ließ es stillschweigend hingehen.

Die Angliederung Estlands an Deutschland wurde mit Entfal­

tung der größten Demagogie als eine spontane Willensäußerung

des estnischen Volkes betrieben. Line „Volksvertretung" wurde kühn zusammenbesohlen und die ihr ausgezwungenen Beschlüsse wurden als die „freie Selbstbestimmung" des Estenvolkes proklamiert.

Als die politischen Organisationen der Esten beseitigt waren, gingen die Okkupationsgewalten mit den Adelstyrannen weiter und trachteten das Volk auszuschalten, indem sie seine Führer durch Lin-kerkerungen unschädlich machten. Die estnische Intelligenz wurde Mann für Mann von deutschen Agenten bewacht und durch elende Denunzianten den deutschen „Gerichten" überliefert. Verteidigung und Zeugenverhör war bei diesen deutschen „Gerichten" nicht „üb»

lieh", üblich waren nur Verurteilungen der dem Adel und seinen Kreaturen mißliebigen Individuen.

In Deutschland begannen Revolutionswinde zu wehen, der Cä­

sar verschwand im Hintergrund, es hieß, die Demokratie war auch in Deutschland Herrscherin geworden. Aber in Estland blieb es beim Alten. Die deutsche Demokratie veränderte an der Gkkupa-tion nichts, nach wie vor behielten die örtlichen Junker die Macht in ihren Händen. Die deutsche Demokratie, die Sozialdemokratie Scheidemann-Lbertscher Richtung hätte hier die beste Gelegenheit gehabt, zu zeigen, daß sie willens märe, mit dem Bisherigen zu bre-chen: Sie hätte in Estland sofort die Demokratie wiederherstellen sollen! Das estnische Volk hätte die Okkupation mit allen ihren re­

a k t i o n ä r e n B e g l e i t e r s c h e i n u n g e n f ü r A u s w ü c h s e d e s d e u t s c h e n k a i -serlichen Imperialismus und Militarismus ge-nommen, wenn die deutsche Revolutionsregierung daran gegangen wäre, das Bisherige sofort zu liquidieren. Dann hätte auch Ge­

nosse XDels recht gehabt, auf der Berner Konferenz zu fagen, die deutsche Sozialdemokratie sei die festeste Stütze der internationalen Demokratie. Aber nichts derartiges wurde deutscherseits in Estland nach der deutschen Revolution angebahnt! Statt dessen geschah aber etwas anderes, was die deutsche Demokratie in der unglücklichsten Weise bloßstellt, kompromittiert.

Bevor die deutschen Okkupationstrupxen Estland verließen, stellte der Vertreter der deutschen Republik, der Sozialdemokrat August ID i n n i g, an die Regierung der estnischen Republik die Forderung, es sollte dem Deutschtum — angesichts seiner wirtschaft­

lichen und kulturellen „Bedeutung" — im estnischen Parlament die paritätische Vertretung eingeräumt und die Zusicherung

ge-geben werden, daß keiner von den Deutschen wegen ihrer politischen Gesinnung während und vor der deutschen Okkupation etwa angeklagt oder gerichtlich zur Verantwortung gezogen werden würde... Der

„ G e n o s s e " W i n n i g v e r f o l g t e i n E s t l a n d a l s o k e i n e d e m o k r a t i -schepolitif, er wollte die Macht der deutschen Feudalherren im estnischen Parlament fest fundieren und für die Landesverräter Straffreiheit erhandeln. Daß dieser Sozialdemokrat sich den

Dank des baltischen Adels verdiente, versteht sich von selbst. Dr.

von Rosen (offenbar ein estländifcher Baron) drückt sich über die Verdienste des „Genossen" lvinnig wie folgt aus: „lvinnig ist fchon im November in dankenswerter Weife für die Rechte der deutschen Minderheit im Lande mit Nachdruck eingetreten"; — und weiter für die Zukunft fehr zu beachten — „jetzt hat er dort, wo mittlerweile im Einverständnis mit den Regierungen in Riga und Reval die „Eiserne Division" zum Kampfe gegen die Bolschewisten formiert wird, die geeignete Grundlage, um für die politische Parität der Deutschbalten, deutschen Kolonisten etc. mit Erfolg tätig zu sein. *

Offenbar hatte aber „Genosse" Winnig als höchster Vertreter der deutschen Republik in den Baltischen Provinzen seine Hände auch in dem Komplott gegen die Republik Eesti im Spiele, als diese von der Roten Armee der russischen Sowjetrepublik im November

*9*8 überfallen wurde. Estland war diesem Überfall schutzlos aus­

geliefert, denn die deutschen Okkupationsbehörden ließen *. die Re­

gierung der Republik Eesti auch jetzt noch nicht in Funktion treten.

Der Ministerpräsident dieser Republik, Herr Konstantin päts, blieb bis Ende November als Gefangener in den Händen der sozialdemo­

kratischen Regierung Deutschlands. 2. Als die estnische Regierung endlich in beschränktem Maße ihre Tätigkeit aufnehmen konnte, lie­

ßen die deutschen Gewalten im Lande eine Mobilisation der estni­

schen Wehrmänner immer noch nicht durchführen. 3. Die deutschen Militärbehörden haben die Waffen, Munition und sonstige Aus­

rüstung der estnischen Truppenteile, die sie jenen im April *9*8 wi­

derrechtlich abgenommen haben, im November *9*8 der estnischen Regierung nicht ausgehändigt, obgleich diese sie nachdrücklich gefor-dert hatte. Die Deutschen betrachteten diese Waffen und Ausrüstun­

gen als „Kriegsbeute" und führten sie nach Deutschland, während die Esten schutzlos dem eindringenden Feind preisgegeben blieben.

* Die Ostsee, Berlin, Trvwitzsch & Sohn, Heft 19, 1919.

3a, noch mehr: Verteidigungsmittel, welche von den deutschen Re­

volutionstruppen nicht nach Deutschland verschleppt werden tonn­

ten, wurden von ihnen unbrauchbar gemacht. So zum Beispiel wur­

den die Kartonen des in estnische Hände gefallenen russischen Kriegsschiffes „Bobr" für die Esten zur Verteidigung unbrauchbar gemacht, indem die Kanonenverfchlüffe entfernt wurden. Nur da-durch, daß es der estnischen Militärleitung gelungen war, passende Ersatzteile in Finnland aufzutreiben, konnte das Schiff in Dienst gestellt werden. — Wegen Transportschwierigkeiten konnten die deutschen Militärbehörden nicht alle Gewehre außer Landes bringen.

Aber die zurückgelassenen Gewehre wurden aus irgend eine Weife unbrauchbar gemacht. Daß die Esten trotzdem noch eine Anzahl brauchbarer Waffen behielten, war dem zu verdanken, daß deutsche Soldaten ihre Ausrüstung ebenso für Geld abgaben, wie es die rus­

sischen Soldaten vor Jahresfrist getan hatten. — Als der blutige Kampf zwischen den Sovjettruppen und den Esten entbrannt war, wurden die Esten durch die noch im Lande befindlichen deutschen Okkupationstruppen erheblich gestört. Nicht nur die Eisenbahnver­

bindung wurde unterbrochen, sondern auch die telephonische und tele»

graphische Verbindung zwischen den estnischen Truppenteilen wurde von den Deutschen unmöglich gemacht.

Als die deutschen Gkkuxationstruppen sich mit den Sovjettrux-pen in Livland begegneten, schloffen ihre Führer gegenseitig Verträge ab, um sich gegenseitig nicht zu stören, d. h. nicht zu stören in der Brandschatzung des Landes! Das ging sogar den örtlichen Deut-sehen zu weit, weshalb die „Dorpater Zeitung" den Inhalt eines solchen Vertrages öffentlich brandmarkte.

Herr August Winnig bestätigt die Tatfache derartiger Verträge zwischen den deutschen und den bolschewistischen Truppen in einem Artikel in der „Glocke" (Nr. 4t—42, *9*9), wo er den Fall von Riga schildert. Aber selbstverständlich findet Herr Winnig daran nichts auszusetzen, daß deutsche Truppenführer durch ein derartiges Entgegenkommen den Bolfchewisten ihre Operationen gegen Eesti begünstigten! Auch die letzten Lebensmittel sollten noch ersaßt und außer Landes geführt werden. Auf ihrem Rückzüge raubten und plünderten die deutschen Truppen die Landbevölkerung in Livland so erbarmungslos aus, daß estnische Wehrkraft auch noch gegen diese Marodeure aufgeboten werden mußte.

Alles das geschah nach dem Fall des Cäfarismus in Deutsch»

Iand, in der Zeit, wo die deutsche Sozialdemokratie durch ihren Der»

treter Winnig die Tätigkeit der deutschen Gewalt in Estland nicht nur zu überwachen, sondern auch zu leiten hatte! Wir haben daher das volle Recht, die deutsche Sozialdemokratie dessen anzukla-gen, daß sie in Estland keine andere Politik beliebt hat als die Po­

litik des Imperialismus, die Politik der Alldeutschen, die Politik der baltischen Feudalherren.

Geschah dies etwa unbewußt? Keineswegs. Herr Winnig kennt sein Ziel ...

Man verhinderte die estnische Mobilisation, man ließ uns ohne Waffen, ohne Verteidigungsmöglichkeit in der teuflischen Erwartung, die russische Bedrängnis würde das Volk dazu treiben, doch deutsche Hilfe nachzusuchen! Die Feudalherren rechneten damit, daß die Re-gierung der Republik Eesti sich an die Ententemächte wenden und bitten würde, diese möchten bei der deutschen Regierung beantragen, die deutschen Truppen im Lande zu belassen. Dann glaubte der Adel sich seiner Vormachtsstellung im Lande wieder gesichert zu sein und die deutsche Sozialdemokratie erwies sich als ebenso gute Handlange»

rin des baltischen Adels nach der deutschen Revolution, wie sie es vor der Revolution dem Cäfarismus als Handlangerin dienstbeflissen gewesen war! Beweise? Nichts ist leichter, als diesen Beweis zu führen.

Angenommen, daß die führenden Männer der deutschen Sozial­

demokratie im Oktober und November *9*3 nicht genügend Muße fanden, um die Politik des Herrn Winnig zu kontrollieren. Seit dem November sind aber vier Monate vergangen. Herr Winnig ist nicht nur nicht abberufen, sondern er wurde als „Gesandter der deutschen Re»

publik" erst neuerdings nach Lettland und Estland ernannt. Wenn die Genossen Ebert und Scheidemann auch jetzt nicht wissen, welche Politik Herr Winnig im Namen der „Demokratie" in den Baltischen Provinzen treibt, so ist weder Deutschland noch Ebert und Scheide-mann zu Helsen.

Genosse Wels von der deutschen Mehrheitspartei hat auf der Berner Konferenz laut verkündet, gerade das deutsche Proletariat bilde eine feste Stütze für die internationale Demokratie.* Auch der Schreiber dieses hat von der deutschen Arbeiterschaft stets eine hohe Meinung gehabt. Aber es muß daher um so nachdrücklicher betont werden, daß die undemokratische Politik der deutschen Mehrheitspar»

tei seit *9*4 nicht die politik der deutschen Arbeiterschaft gewesen ist und daß man diese Politik nicht als demokratische politik bezeich-nen kann! Dafür gerade ist auch die politik des Herrn Winnig im Baltikum ein gutes Beispiel. Herr Winnig ist nun aber einmal der Vertrauensmann der Ebert-Scheidemannschen Regierung!

Man möge es uns Esten daher nicht übel nehmen, wenn wir unser vertrauen an die Deutschen ganz und gar eingebüßt haben.

Jemand bei uns hat geschrieben:

„Die Esten hätten vielleicht das Unrecht und die jahrhundertlange sklavische Niederhaltung, die uns seitens der Deutschen zugefügt wurde, vergessen können; was wir aber während der letzten sieben Monate unter ihrer Gewalt erlitten haben, das werden wir wohl nie vergessen..."

Wer will es uns übel anrechnen, wenn wir unsere diesmalige Erlösung in der Niederlage Deutschlands sehen?

X. Der Solfthewismus und fern Krieg

Im Dokument die Esten und die estnische Zrage I (Seite 169-176)