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Ist das estnische Volk fähig flch selber zu regierend

Im Dokument die Esten und die estnische Zrage I (Seite 44-49)

II. Das estnische Volk

4. Ist das estnische Volk fähig flch selber zu regierend

Die deutsche Oberklasse in (Estland und Lettland ist natürlich der Meinung, daß diese Völker sich noch nicht selber regieren könnten.

Aber auch anderswo könnte man derselben Meinung sein. Daher ist

• es durchaus nicht zwecklos, diese Frage näher zu untersuchen.

Wenn die Esten zu einer ersprießlichen Selbstregierung unbe­

dingt alterfahrene und in allen Künsten der Diplomatie gewiegte Staatsmänner von Weltruf brauchten, die das Regieren „aus der Übung" kennen, so stände die estnische Selbständigkeitssache aller-dings schlimm da. Staatsmänner der praktischen Übung des Regie-rens haben die Esten noch nicht auszuweisen. Jedoch dars aber wohl behauptet werden, daß die notwendigen (Qualitäten dazu vorhanden sind, und selbst Männer von praktischer Erfahrung stehen dem Volke zur Verfügung.

In anderem Zusammenhang ist über die estnische Intelligenz bereits manches gesagt worden. Unter ihr gibt es Männer mit den mannigfaltigsten Begabungen, und ihnen steht meistens eine gute Spezialbildung zu Gebote, so daß sie wohl auch den Anforderungen gerecht werden können, die die eigene Regierung an sie stellen wird.

Wenn wir hier dieses behaupten, so ist das mehr als eine bloße An­

nahme. In dieser Hinsicht liegen bereits (Erfahrungstatsachen vor, und auf einige derartige Tatsachen soll hier besonders hingewiesen werden.

Daß die Stadt Reval bereits von *902 ab von Esten verwaltet wurde, wissen wir. Die Verwaltung einer so großen Stadt erfordert keine geringen Kenntnisse und Fähigkeiten, von Anfang an ist diese ganze Epoche eine fehr schwierige gewesen: Die erste Rvolution fiel in diese Zeit, die ärgste Reaktion löste die Revolution ab, dann kam der Weltkrieg und endlich die zweite Revolution. Alles das hat die Verwaltung der Stadt ungemein erschwert. Trotzdem mutz aber betont werden, daß die Esten sowohl die Stadt Reval, wie auch die übrigen, kleineren Städte Estlands durchweg gut verwaltet haben.

Die Versorgung der außerordentlich schnell wachsenden Stadt mit Lebensmitteln während der letzten Kriegs jähre war keine leichte Auf­

gabe, aber die Sache war hier immerhin so gut organisiert, daß man in Rußland in mancher Hinsicht aus Reval als Musterbeispiel hinweisen konnte. Die estnische Stadtverwaltung von Reval hat manches sogar für das ganze Land getan und sie hätte noch mehr getan, wenn sie dabei nicht die ruffische Gouverneurswirtschast gegen sich gehabt hätte, viele von den Männern, die diese Arbeit getan haben, wür­

den gewiß auch in der Landesregierung ihren platz genügend aus­

füllen.

Die schwere Kriegszeit brachte aber auch noch andere Aufgaben sehr mannigfaltiger Art in den Vordergrund, die von den gesell­

schaftlichen Kräften viel Umsicht und verwaltungstechnische Über­

legung, Initiative und Tatkraft verlangten.

Während der früheren Kriege fielen alle die Aufgaben, welche der Staat der Bevölkerung auferlegt, auf den deutschen Adel und auf die deutsche Bourgeoisie. Die (Esten standen abseits, in den selten-sten Fällen erging an einige unter ihnen die Aufforderung, mitzu-helfen. Auch das war in gewissem Sinne ein „Vorrecht" der deut-sehen Oberklasse. Diesmal stand die Sache anders. Die Anforderun-gen an die zivile Bevölkerung waren außerordentlich viel größer und viel tiefer greifend, während die deutsche Gberklasse ganz aus-geschaltet war. Die allgemeine, staatlich forcierte Deutschenhetze in Rußland brachte es mit sich, daß dem baltisch-deutschen Adel und der deutschen Bourgeoisie diesmal keine derartigen Aufgaben zugewiesen wurden. Anstatt dessen wurden jetzt die (Esten mit diesen, ins Rie-fenhafte gewachsenen Aufgaben betraut. Der Krieg hat nie vorher-gesehene Dimensionen angenommen, die Anforderungen an die Be­

völkerung in der Nähe der eigentlichen Kriegszone wuchsen täglich.

Die zahllosen Requisitionen erforderten die Mitarbeit der örtlichen Organe, die Verwundetenpflege, die Invalidenfürsorge, vor allem die Unterstützung der Kriegerfamilien, davon fiel ein großer Teil auf die Zivilorgane. Dazu kam sehr bald die unabwendbare Fürsorge für die Kriegsflüchtlinge, die das Land geradezu überfluteten. Gleich­

zeitig mußte daran gedacht werden, daß auch (Eftland evakuiert wer­

den müßte, oder daß ein Großteil der eigenen Bevölkerung (Estland verlassen werde. (Endlich kam noch dazu die Knappheit der Lebens­

mittel im Lande. Diese mußten zum Teil aus Rußland mit großer Mühe beschafft und rationiert werden. (Es mußten lokale statistische (Erhebungen angestellt werden und eine Reihe verwaltungstechnischer Maßnahmen getroffen werden, die ebenso viel Arbeit wie Umsicht und Sachkenntnis erforderten.

Diese Aufgaben waren neu, denn die Situation, in welche der Krieg das Land versetzt hatte, brach plötzlich und ungenannt ein.

Daher stellte sie die führenden (Elemente der estnischen Bevölkerung vor unvorhergesehene Aufgaben, deren Lösung neue Organe und eigene Organisierung notwendig machten. Diese mußten von Grund auf neu geschaffen und zu ihrer Leitung geeignete Persönlichkeiten ausfindig gemacht werden. Das war insofern nicht ganz leicht, in­

dem der Krieg fehr viel Männer dem Lande entzogen hatte. Doch kann mit Befriedigung betont werden, daß das estnische Volk mit

Hilfe feiner Intelligenz allen diesen Anforderungen gerecht Wurde.

Die bei diesem Anlaß geschaffenen neuen Organe funktionierten durchweg befriedigend. Die russischen Aufsichtsbehörden mußten das sowohl vor, wie auch nach der Revolution zugeben und anerkennen.

Außer dieser großen Arbeit daheim hat die estnische Intelligenz auch in großer Zahl in der russischen Armee organisatorisch mitge-wirkt. Bereits vor dem Kriege gab es eine ziemliche Anzahl estni-scher Offiziere in allen Stellungen. Während des Krieges hat sich ihre Zahl beträchtlich vergrößert. Unter den Uber 200,000 Mann estnischer Soldaten gab es verhältnismäßig viele Männer, die auf Grund ihres Bildungsgrades sehr leicht den Vffiziersrang erhielten.

Aber auch die bäuerliche Landbevölkerung hat eine jahrzehnte­

lange organisatorische Selbstverwaltungsarbeit in den Landgemein­

den hinter sich. Schon während der Leibeigenschaft hatten die Dorf-fchaften eine gewisse Organisation der eigenen Dorfverwaltung. Nach der Bauernbefreiung ist sie dann ausgebaut worden — auf Grund eines speziellen Gesetzes für die bäuerliche Gemeindeordnung. Die gewählten Gemeindebeamten hatten nicht nur die administrative Ver­

waltung unter ihrer Obhut, fondern die Gemeinden hatten auch eine eigene Gerichtsbarkeit. Sowohl die administrativen Beamten, wie auch die bäuerlichen Gemeinderichter wurden von der vollverfamm-lung der Gemeindeabgeordneten unter den ortsansaßigen Bauern gewählt. Die männliche Art, in der die ehemaligen bäuerlichen Ge­

meindeältesten, die von den deutschen Militärbehörden im Frühjahr

*9*8 nach Reval und nach Riga zu den sogenannten „Landesver-sammlungen" befohlen worden waren, auf diesen Versammlungen selbstbewußt und mutig auftraten und den junkerlichen Herren des örtlichen Adels, wie auch den alldeutschen Offizieren eine Lektion erteilten, ist ein klarer Beweis von der reifen Anschauungsweise dieser Schichten. Die estnische Bauernschaft hat bereits eine politische Reife erlangt, die es ihr ermöglicht, in eigenen Angelegenheiten mit klarem Bewußtsein vorzugehen.

Endlich wissen wir, wie das estnische Volk sich unter dem dop­

pelten Druck — der deutschen Feudalherren und der russischen Reak-tion — eine wirtschaftliche SelbsthilfsorganisaReak-tion zu geben ver­

stand, die jedenfalls einen klaren Beweis von der Fähigkeit gibt, eine weitverzweigte, gemeinsame Aktion zu planen und zu verwirk­

lichen.

Die hier kurz erwähnten Momente dürften bereits für die Sicher­

heit einer Selbstregierung des Lstenvolkes einstehen können. Gin Volk, das sich in dieser Weise organisatorisch auszeichnet, zeigt den festen Willen für die zivilisatorische Höherentwicklung. Und da es diesen Willen hat, ist die Hauptbedingung für die Selbstregierung erfüllt.

Wir haben aber auch einen praktischen Beweis für diese An-nähme anzuführen.

Als Estland im April *9*7 durch die russische Revolutions-regierung die Autonomie zuerkannt wurde, hat das Volk, nachdem erst eine parlamentarische Vertretung gewählt worden war, eine eigene Landesverwaltung bestellt. Diese Landesverwaltung über-'nahm die Führung der Landesangelegenheiten, und sie schuf sich

in kurzer Zeit alle notwendigen Organe.

Allerdings war die Zeit der Wirksamkeit der estnischen Landes-Verwaltung kurz. Als die Bolschewisien in Rußland die Regierung Rerenskis (Oktober *9*7) gestürzt hatten, ging die staatliche Gewalt auch in Estland auf sie über. Die russischen Soldaten- und Arbeiter-räte waren in Estland ebenso mächtig, wie in Rußland, und es lag

durchaus nicht im Interesse des estnischen Volkes, sich mit der Sovjet-gewalt in einen blutigen Kampf einzulassen.

Aber auch die kurze Zeit der Wirksamkeit der estnischen Landes-Verwaltung kann doch als Beweis sür unsere Behauptung angeführt werden: Das estnische Volk war imstande, eine eigene Regierung zu bilden. Diese Regierung besetzte alle Verwaltungsabteilungen mit geeigneten Kräften, so daß die Arbeiten vollauf befriedigend verrichtet wurden. Das Volk brachte der neuen Ordnung volles ver­

trauen entgegen. Gewisse Mängel, die jeder neuen Organisation anhaften, hätten sich leicht beseitigen lassen, und die Übung hätte es auch hier zu Besserungen gebracht.

Wir sind daher der festen Überzeugung, daß es dem Lstenvol?

nicht an Kräften fehlen wird, denen es die Regierung des Landes anvertrauen kann.

Im Dokument die Esten und die estnische Zrage I (Seite 44-49)