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Materialien zur Lage in Estland

Im Dokument die Esten und die estnische Zrage I (Seite 150-160)

L Allgemeiner Aberbltck

2. Materialien zur Lage in Estland

Nachfolgendes Material ist der deutschen und estnischen Presse in Estland, den Tagesbefehlen und Verordnungen der militärischen Oberleitung und anderen authentischen Quellen entnommen. Da die estnische presse beim Erscheinen der deutschen Truppen, unterdrückt wurde, so ist ein vollständiges Bild nicht zu gewinnen, aber doch ein solches der charakteristischen Vorgänge.

Die Situation in Estland beim Einmarsch der deutschen Truppen.

I n R e v a l . A m 2 4 . F e b r . * 9 * 8 k o n s t i t u i e r t e s i c h d i e e s t n i -sehe Regierung und trat offiziell in ihre Funktionen. Sie erließ die Proklamation der estnischen selbständigen Republik, wobei allen Bürgern, einerlei welcher Nationalität, welchen Glaubens, welcher politischen Anschauung, gleiches Recht zugesagt wird. Ferner pro-klamiert sie die Rechte der völkischen Minoritäten der Deutschen, Schweden, Russen, Juden auf volle nationale und kulturelle Auto-nomie, ebenso die Unverletzbarkeit des Privateigentums. Die Re-gierung organisiert die Selbstverwaltung in Stadt und Land, ebenso die Bürgermiliz, die bereits am selben Tage mit der Entwaffnung der roten Garde begann.

I n D o r p a t . A m 2 2 . F e b r . * 9 * 8 . D i e D o r p a t e r S t a d t v e r ­ waltung teilt amtlich in öffentlichem Aufruf mit, daß sie ihre Funk­

tionen wieder übernommen hat und die Ordnung wieder herstellt.

Zugleich erneuert die Dorpater Areisverwaltung ihre Tätigkeit.

Am 23. Febr. *9*8. Das Dorpater Stadthaupt teilt amtlich mit, daß eine Miliz bereits organisiert und in ihre Funktionen ge­

treten ist. An die Gemeindeverwaltungen ergeht der Befehl, sofort ihre Tätigkeit aufzunehmen und für Ruhe und Sicherheit zu sorgen.

(Es wird in den Zeitungen aus verschiedenen Gegenden konstatiert, daß Ordnung herrscht, wobei die estnischen Truppen die polizei-pflichten übernommen haben.

Am 24. Febr. *9*8. Einmarsch der deutschen Truppen in Dorpat.

J n F e l l i n . A m 2 3 . F e b r . * 9 * 8 v e r l a s s e n d i e B o l s c h e w i k i die Stadt und die Stadtverwaltung tritt sofort in Funktion, wobei die estnischen Truppen den Ordnungsdienst übernehmen.

Am 24. Febr. *9*8 wird die Selbständigkeit Estlands prokla­

miert.

Am 25. »-£ebr. *9*8 erscheinen die deutschen Truppen.

I n N ? e i ß e n s t e i n . I n d e r N a c h t v o m 2 3 . a u f d e n 2 4 . F e b r . 1918 nahmen die estnischen Truppen die Bolschewiki gesangenun am Tag daraus rvurde der Selbstschutz in Stadt und Land organisier .

Am 25. Febr. t9*8 wurde die Selbständigkeit Estlands prokla-miert. Am selben Tage erscheinen auch die deutschen Truppen.

Aus einer Reihe kleinerer Ortschaften liegen Zeitungsmeldun-gen vor, daß entweder die estnischen Truppen oder die schnell orga­

nisierten lokalen Milizen die Ordnung wieder hergestellt haben.

Die Suspendierung der estnischen Regierung, die Desarmierung der estnischen Truppen und die Beseitigung der gesetzlichen

t>er-waltungs- und Selbstverwaltungsorgane.

Gleich nach dem Einmarsch der deutschen Truppen in Reval hat die militärische Leitung die estnische Regierung suspendiert und bekannt gegeben, daß sie diese nicht anerkennt. Die Renaler Stadt­

verordnetenversammlung wurde ausgelöst und Oberst Berring die Oberleitung der Stadt übergeben, dem ein Rat von 24 Gliedern mit L. Dehio an der Spitze beigeordnet ist, die fast alle aus den balti»

schert Deutschen ernannt sind. In den Städten fjapsal, Baltischport, lveißenstein, Wesenberg, Narva treten nach der Verordnung (Serie*

ralleutnants von Seckendorfs an die Spitze der Stadtverwaltungen die Stadthäupter, die vor dem März \9\7 im Amt gewesen waren, also Deutsche, mit bis drei ernannten Ratsmännern.

In Dorpat und Fellin ließ man an die Stelle der demokratisch gewählten Stadtverordnetenversammlungen die früheren, vor Z9Z7 gewählten, treten mit ernannten Bürgermeistern. In ZDerro wur­

den sowohl der Bürgermeister als die Beiräte ernannt. Maßgebend für die Praxis der Heeresleitung war, daß die alte, vor \^\l ge­

wählte Stadtverordnetenversammlung deutsch war; sie wurde dann restituiert, im entgegengesetzten Falle durch ernannte Deutsche er»

In den Flecken wurden teils die Ältesten von vor \ty\i wie­

der an die Spitze gestellt, teils Deutsche ernannt mit ernannten Bei­

räten.

Auf dem Lande wurden auf Grund des Gesetzes von *866 die Gemeindeältesten von vor I9J7 wieder eingesetzt und ihnen ernannte Beiräte gegeben, während zu Rreisdirektoren deutsche Gutsbesitzer ernannt wurden.

Nachdem anfangs von Generalleutnant Freiherr von Seckendorfs durch Tagesbefehl die Formierung einer estnischen Division anbe.

sohlen war „zum Schutz der Ordnung, Ruhe und des Vermögens", erschienen später Desarmierungsbefehle, die nicht nur die Waffen abzuliefern geboten, sondern auch die Uniformen. (Ebenso ist die estnische Bürger- und Soldatenmiliz überall deutscherseits aufgelöst worden.

Deutsche Amtssprache. Deutsches Recht. Deutsche Richter und deut­

sche Rechtsprechung. Deutsche Zensoren. Obligatorischer Schul­

unterricht im Deutschen. Germanisierung der Dorpater Universität. Deutsche Korrespondenz.

Die Amtssprache in den Stadtverwaltungen ist die deutsche, ebenso bei der Polizei, deren Protokolle hauptsächlich deutsch abge-faßt werden. <£s wird sogar verlangt, daß die Familienregister auf dem Lande deutsch abgefaßt werden, und die Gemeindeverwaltungen erhalten die amtlichen Briefe in deutscher Sprache. In Reval müssen die Haustafeln in deutscher Sprache abgefaßt fein, zur Amts-, ver-kehrs- und Rommandosxrache der Revaler freiwilligen Feuerwehr ist die deutsche Sprache anbefohlen und auf der Revaler Eisenbahn-station sind die estnischen Aufschriften ausgetilgt worden, vom ](.

August an wird auf den Bahnlinien die deutsche Amtssprache ein-geführt. Die Geschäftsführung (Befehle, Telegramme, Briefe usw.) kann nur in deutscher Sprache geschehen. Dabei ist die Zahl der Deutschen sogar in ihrem Hauptsitz in Reval nach der im April die-ses Jahres erfolgten Zählung 7,2 Prozent der Einwohnerzahl. In Wesenberg hat der deutsche Magistrat die wichtigsten Straßen, die Petersburger-, die Lange- und die Breit-Straßen in Prinz Heinrich-, Prinz Adelbert- und Ludendorff-Straße umbenannt. Zu Richtern werden Deutsche ernannt, die Rechtsprechung geschieht in deutscher Sprache und die Aburteilung nach dem deutschen Ariminalgefetz (Tagesbefehl Graf Rirchbachs). Zu Zensoren sind baltische Deutsche, die durch ihre estenfeindliche Gesinnung bekannt sind, so in Reval Siehlmann, in Dorpat £?. von pistohlkors, ernannt worden.

von den Schulen konnten am 8. April nach dem Tagesbefehl Freiherrn von Seckendorffs nur die mit dem Unterricht beginnen, die die deutsche Sprache zur Unterrichtssprache haben oder aber in denen wenigstens 6 Stunden wöchentlich die deutsche Sprache gelehrt wird. Auch in niederen Volksschulen ist der Unterricht im Deut-schen 2 Stunden wöchentlich obligatorisch. Nach dem Bericht der Dorpater deutschen Zeitungen ist in der nächsten Zeit das Übergehen

der Mittelschulen zur deutschen Sprache als Unterrichtssprache zu er­

warten, nur einige wenige würden die estnische als Unterrichtssprache beibehalten. Ebenso soll die Dorpater Universität nach dem Tages-befehlendes Generals Adams vollständig germanisiert werden. Am 22. Mai ist die Universität in ihrer früheren Gestalt liquidiert wor­

den.

Der briefliche Verkehr darf in Estland nur in deutscher Sprache vor sich gehen, wobei alle Briefe zensiert werden.

Der Standpunkt der deutschen Militärverwaltung in Sachen der politischen Zukunft Estlands.

Die oben geschilderte Praxis der deutschen Militärleitung in Estland findet ihre prinzipielle Begründung in den Ausführungen ihrer obersten Vertreter, die im direkten Gegensatz zu den Ausfüh-rungen des deutschen Kanzlers die Annexion Estlands als selbst­

verständlich ansehen.

So heißt es in der Ansprache des kommandierenden Generals Generalleutnants Freiherrn von Seckendorfs bei Eröffnung des

„Landrates von Estland" am 9. April *9*8:

— „Die deutschen Truppen verlassen Estland nicht, sie bleiben hier zu ständigem Schutz und ihre Zahl wird in den nächsten Tagen noch vergrößert, nachdem unsere Hilfsaktion zur Befreiung der finnischen Brüder von ihren roten Bedrückern durchgeführt ist.

Auch werdet ihr bald im Revaler Hafen und an Estlands Rüsten eine größere deutsche Flotte-sehen, die zum Küstenschutz hier bleiben wird."

In dem Schreiben des Oberbefehlshabers Generalobersten Gxaf von Kirchbach „An die Vertreter der Stadt Narva zu Händen des Herrn v. Reiser" vom 20. Mai *91(8 heißt es:

— — — „Die Einberufung des estnischen Landtages kommt, ebenso wie die Wiederherstellung anderer Errungenschaften des Re=

volutionsjahres *9*7, nicht mehr in Frage, nachdem der Liv-estlän-difche Landesrat zusammengetreten ist. Ebenso kommen andere Wah­

len zur Zeit nicht in Frage —" „Der Gebrauch der estnischen Sprache neben der deutschen Amtssprache ist in der Verwaltung durch­

geführt worden —„Der Gebrauch der estnischen Sprache im Briefverkehr wird in Kürze wieder gestattet werden können

„Ungehinderte Verkehrsmöglichkeit kann nicht zugesagt werden —".

„Die Frage der Gründung einer estnischen Zeitung in Narwa wird

geprüft werden. Vorbedingung für die Gründung neuer Zeitungen ist die Gewähr unbedingter politischer Zuverlässigkeit ihrer Heraus-geber — „So kann ich der Hoffnung Ausdruck geben, daß unter Mitarbeit aller derjenigen Kreise, die ihr Vaterland und Volk wahrhaft lieben, (Estland unter dem dauernden Schutze Deutschlands einer freien und glücklichen Zukunft entgegengehen wird."

Line gleichlautende (Ergänzung finden obige Anschauungen in verschiedenen amtlichen (Erlassen.

Mit diesen Bestrebungen steht in direktem Zusammenhange die Terrorisierung der öffentlichen Meinung, des politischen Lebens

und breitester Volkskreise in Estland.

Terrorisierung der estnischen presse.

Nach dem (Einmarsch der deutschen Truppen in (Estland wurde die gesamte estnische presse unterdrückt, und erst später je einem Tage-blatt in Reval und Dorpat das (Erscheinen gestattet, dann noch einem in Dorpat. von diesen Blättern stellte am 28. Mai das Revaler estnische Tageblatt „Tallinna Teataja" das (Erscheinen ein, weil ihm von feiten des deutschen Zensors, des Hilfspastors der Revaler Glai-Kirche Siehlmann, die Forderung gestellt wurde, die ihm von der deutschen Pressestelle zugesandten Artikel in der baltischen Frage ohne irgend eine Notiz der Redaktion abzudrucken, selbst ohne einen Hinweis darauf, daß dieselben amtlicherseits eingesandt sind. Zu­

gleich erschien einer dieser Artikel in der estnischen Zeitung „posti-mees" in Dorpat, wobei die einleitenden Zeilen über den Ursprung des Artkels unterdrückt waren. Dieser Artikel wurde alsdann von der deutschen Presse als eigene Meinungsäußerung der estnischen Presse zitiert. — Der Revaler Zensor Siehlmann machte darauf dem

„Tallinna Teataja" den Vorschlag, zu derartigen Artikeln hinzuzu­

fügen, daß dieselben eingesandt sind, in keinem Falle aber die Notiz, daß dieselben aus amtlicher (Quelle stammen. Die Redaktion wies dieses Ansinnen als einen versuch, die öffentliche Meinung bewußt irrezuführen und als die journalistische Moral aufs gröbste verletzend, zurück. Darauf erschien in der übrigen baltischen Presse die amtliche Mitteilung, daß der „Tallinna Teataja" amtlicherseits sistiert worden sei, weil er ohne obrigkeitliche Genehmigung das (Erscheinen einge­

stellt habe. Zugleich wurde dem von der estnischen Militärleitung gleich nach ihrem (Erscheinen in Reval sistiertert estnischen Tageblatt

„päeroalefyt" das Angebot gemacht, unter den genannten Bedingun-gen zu erscheinen, was aber auch zurückgewiesen wurde. Darauf be­

gann der Zensor Siehlmann Verhandlungen mit gewissen Giemen-ten wegen Gründung einer neuen estnischen Zeitung, die bereit wäre, alle diese Bedingungen zu erfüllen.

Der Druck auf die presse geht soweit, daß der reinen Fachzeit-schrist „Talu", herausgegeben vom nordestnischen landwirtschaft­

lichen Zentralverein, das Erscheinen nicht gestattet wurde.

(Ein grelles Licht auf die Unerträglichkeit der Lage wirft fol­

gende Tatsache: Die in Dorpat abgehaltene Delegiertenversammlung der konservativsten estnischen politischen partei, des „Verbandes der Landwirte", hat in einer internen Sitzung den Beschluß gesatzt, die politische Tätigkeit „bis zum (Eintritt freierer Zeitverhältnisse" ein­

zustellen und sich nur auf die rein beruflichen Funktionen zu be-schräken. Alle übrigen politischen Parteien, Organisationen und Vereine sind unterdrückt worden, während auch das übrige Vereins-leben sich in so engen Grenzen bewegen muß, daß oft nicht einmal Vorstandssitzungen stattfinden können.

In den Schulen ist jede „nationale und politische Propaganda"

strengstens untersagt und selbst die estnische Geschichte als Unter-richtsfach ist verboten.

Furchtbare Repressalien.

Die Repressalien äußern sich in einer Reihe drakonischer (Erlasse, die das öffentliche Leben in unerhörter Weise einengen.

(Ein Tagesbefehl des Kommandanten von Dorpat, von Winter­

feld, bedroht das Betreten der Straßen von 6 refp. 7 Uhr ab bis 6 refp. 7 Uhr morgens mit(Erschießen, ebenso „das Drucken, sowie ver-vielfältigen auf jede andere Art und das verbreiten von Schriften, Aufrufen usw.".

Die Verbreitung falscher Gerüchte, die den Interessen des deut­

schen Reichs widersprechen, mündlich oder schriftlich, zieht nach sich bis zu zehn Jahre Gefängnis. (Ein Tagesbefehl des Generals von Adams verbietet die Anfertigung und Verbreitung von Schriften und Aufrufen unter Androhung von Zwangsarbeit nicht unter fünf Iahren bis Todesstrafe.

Das Besitzen von Schießwaffen wird untersagt bei Todesstrafe und nach einer Bekanntmachung des Generals Freiherrn von

Secken-borff vom 2. April sind in der Tat nur sür Besitz von Schießwaffen drei Bauern am 28. März durch Erschießen hingerichtet worden. Die Leiter und^eamten der estländischen Lebensmittelverwaltung hatten sich mit einer (Eingabe an die Militärleitung gewandt, in der sie die Aufmerksamkeit auf die Mängel der Verordnungen lenkten; sie wur­

den dafür ihres Amtes enthoben.

In Wesenberg wurden der bisherige Vorsitzende der Kreis Ver­

waltung Iuhkarn und der bisherige Kreiskommissär Kaibus ohne irgend eine Angabe von Gründen verhaftet.

Die Verhaftung des Dorpater Stadtverordnetenvorstehers Rechtsanwalt £. Dlesk.

In Dorpat hatte der Stadtverordnetenvorsteher Rechtsanwalt k. (Dlesk gegen die Beseitigung der rechtmäßigen demokratischen städ­

tischen Selbstverwaltung durch die Militärleitung, ebenso auch gegen die (Ersetzung der estnischen Amtssprache durch die deutsche Sprache Protest erhoben.

Als man bald darauf eines Morgens in der Stadt an einer Straßenecke einen Zettel mit aufreizendem Inhalt fand, wurden der bisherige Stadtverordnetenvorsteher L. (Dlesk mit 49 andern Perso­

nen, hauptsächlich aus den Kreisen der bisherigen städtischen Selbst­

verwaltung eingezogen und im Konzentrationslager interniert.

Das belegende Dokument dazu lautet also:

B e k a n n t m a c h u n g .

In der Nacht vom 5. zum 4- April ist ein Flugblatt an einer Straßenecke Dorpats angeschlagen worden, das zu verbrecherischen Handlungen aufreizte.

Darauf hin sind 50 (Einwohner der Stadt festgenommen worden.

Sie wurden einem Konzentrationslager zugeführt.

Im Wiederholungsfälle wird mit den schärfsten Maßnahmen eingeschritten werden.

Gez. v. Kotsch,

Generalmajor und Befehlshaber der deutschen Truppen in den Kreisen Dorpat und Werro.

Dazu ist zu bemerken, daß 5. ©lesk ein in (Estland allgemein bekannter emster Mann ist, der zu der ihm zur Last gelegten sinnlosen Tat nicht fähig ist.

Wie herausfordernd das deutsche Militär sich gegenüber der estnischen Bevölkerung benimmt, erhellt unter anderem aus folgen-den Tatsachen.

Der Rommandant des Bezirks lväike-Maarja hat den Befehl erlassen, daß die Bevölkerung ihn überall mit Ehrerbietung und Hoch­

achtung zu grüßen habe. Die Schulkinder haben auch die deutschen Offiziere zu grüßen. Dieser Befehl ist an den Landstraßen angeschla-gen und fordert Gehorsam unter Strafandrohung. Ähnliches wird auch aus andern Gegenden berichtet. In Iisaku schlug ein Offizier einem Bauern den Hut vom Ropf, weil dieser ihn nicht auf offener Straße gegrüßt hatte.

Ein besonders drastischer Fall rücksichtsloser Willkür hat sich in Reval zugetragen:

Die Verhaftung des Iuriskonsults der Stadt Reval, des vereidigten Rechtsanwalts A. peet.

Im April übersandte der Iuriskonsult der Revaler städtischen Selbstverwaltung der deutschen Militärleitung ein Schreiben, in dem er den Rücktritt von seinem posteri anzeigt und als Begründung fol-gendes anführt:

(Einige Tage nach dem (Einmarsch der deutschen Truppen in Reval hob die deutsche Militärleitung die Revaler städtische Selbst­

verwaltung auf, obgleich dieselbe auf Grund der von der provisori­

schen Regierung Rußlands im Jahr *9*7 erlassenen Gesetze in all­

gemeinen, direkten, geheimen und proportionalen Wahlen gesetzmäßig gewählt war. An die Stelle der aufgehobenen städtischen Selbstver-waltung ernannte die deutsche Militärleitung eine StadtverSelbstver-waltung, welche hauptsächlich aus Angehörigen der deutschen Kreise Revals besteht. Auf Grund dieser Tatsache lenkte A. peet in seinem Schrei­

ben die Aufmerksamkeit der deutschen Militärleitung darauf, daß ein derartiges Verfahren sowohl den Bestimmungen der internationalen Haager Konferenz, die sich auf die Okkupation beziehen, als auch den Bedingungen des Brest-Litowsker Friedensvertrages strikt widerspre­

che. Infolgedessen könne er, als Iuriskonsult der Stadt Reval, dessen Aufgabe und Pflicht es sei, über die genaue Befolgung des Gesetzes Zu wachen, ein solches Verfahren der deutschen Militärobrigkeit nicht als gesetzlich anerkennen und erkläre es für unmöglich, die Stellung eines Iuriskonsults der Stadt Reval unter solchen Bedingungen län­

ger zu bekleiden.

Auf Grund dieses Schreibens wurde A. peet verhaftet und den 6. Mai in Reval vor das Kriegsgericht gestellt.

Bei der Gerichtsverhandlung konnte A. peet keine Beleidigung der deutschen Militärleitung nachgewiesen werden. Man teilte ihm zum Schlüsse mit, daß er frei nach Hause gehen könne; das Urteil würde ihm zugestellt. — Der Abend, die Nacht und der folgende Tag vergingen, ohne daß diefes stattgefunden hätte. Am Abend des fol­

genden Tages um 9 Uhr erschien bei A. peet ein Vertreter des deut-schert Militärs in Begleitung eines Geheimagenten. Diese erklärten, daß A. peet an die deutsche Militärleitung einen Brief zu richten hätte, in dem er die Begründung feines Rücktrittes zurücknehme, sich ihretwegen entschuldige und die neue Stadtverwaltung als gesetz­

mäßig anerkenne. Als A. peet nochmals das vorbrachte, was er vor Gericht gesagt, und erklärte, daß er einen derartigen Lntschuldigungs-brief nicht schreiben könne, da er sich in Nichts schuldig fühle, teilte man ihm mit, daß er sich in diesem Falle im Laufe einer halben Stunde bereit zu halten habe, um sofort nach Riga zu fahren. Die Proteste und _ die Forderung A. peets, daß man ihm wenigstens so viel Zeit

ge--währen solle, daß er seine Angelegenheiten notdürftig ordnen und seine Angehörigen und Freunde vor der Abfahrt noch sehen könnte, blieben unbeachtet. Nach der angekündigten halben Stunde brachte das Automobil, das vor der Tür gewartet, A. peet zur (Eisenbahn­

station und von dort der Zug nach Riga.

3n einem Briefe, den es ihm gelang, aus Riga an feine Familie zu richten, schreibt er, daß sowohl die materiellen, als auch die mora­

lischen Bedingungen im Gefängnis die schlimmsten seien, und daß er derart wenig Nahrung erhält, daß er fast die Hoffnung verloren hat, mit dem Leben davonzukommen. Seiner Frau ist nicht gestattet worden, ihn zu besuchen.

Hinzuzufügen ist, daß A. peet im öffentlichen Leben (Estlands eine bedeutende Rolle gespielt hat und die Hochachtung weiter Kreise genießt. Unter anderem war A. peet Leiter der estländischen Lebens«

mittelverwaltung, bis dieselbe von der deutschen Militärleitung be-seitigt wurde.

Der wirtschaftliche Druck.

Der schon von früher stammende, durch das Bolfchewikiregime noch gesteigerte Lebensmittel» und Futtermangel wurde durch die deutschen Requisitionen auf die Spitze getrieben. Laut amtlicher Verfügung

des kommandierenden Generals Freiherrn von Seckendorfs ist das Brotgetreide beschlagnahmt zwecks Ernährung der Bevölkerung der Städte. Trotzdem müssen die Einwohner der letzteren wochenlang ohne Brot auskommen. Die deutschen Soldaten requirieren in den Gesinden, oft ohne Ehecks zu hinterlassen. Fleisch ist fast ganz vom Markt verschwunden, obgleich das Vieh in großem Maßstabe requi­

riert wird. Butter ist für die Einwohner infolge der Requisitionen überhaupt nicht zu haben.

In den Städten ist das Kartensystem eingeführt, aber es ist durch die Karten das Erhalten der Lebensmittel nicht gewährleistet. Zum Beispiel ist Dorpat im Mai wochenlang ohne Brot gewesen.

Infolge der wachsenden Hungersnot zahlt man im geheimen für ein pud Roggen (*6 Kilo) auf dem Lande *20—150 Rubel, für einen St. Kartoffel (etwas über \ Liter) \ Rbl., für ein pfund Schweine­

fleisch (0,4 Kilo) j(0 Rubel, für ein pud Heu 50 Rubel. Die verbre­

chen wachsen infolge der Not, es werden Schafe aus den Herden auf der lveide gestohlen, ja die Saatkartoffeln werden aus der Erde ge­

graben. Ein Schutz gegen die Verbrecher ist fo gut wie unmöglich, da ja die deutsche Militärobrigkeit die Ablieferung aller Schießwaffen unter Androhung und mehrfach vorgekommener Durchführung der Todesstrafe angeordnet hat.

An verschiedenen Orten ist das Gebot erlassen worden, die Felder nicht zu bestellen, und 20 prozent des Saatkorns sofort abzuliefern.

Dieses Gebot ist nicht in der presse veröffentlicht, hat aber in den

Dieses Gebot ist nicht in der presse veröffentlicht, hat aber in den

Im Dokument die Esten und die estnische Zrage I (Seite 150-160)