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Die baltischen Gberklassen als Hegner der Volksbildung

Im Dokument die Esten und die estnische Zrage I (Seite 73-77)

L Die öeutfthe obere filoflfe in ihren Beziehungen zur Kultur

2. Die baltischen Gberklassen als Hegner der Volksbildung

Als Beherrscher des Landes war der deutsche Adel moralisch verpflichtet, dafür Sorge zu tragen, daß das Volk — die (Esten — an der allgemeinen Zivilisation ihren gerechten Anteil gehabt und mit ihr hätten Schritt halten können. (Er hatte nicht nur politisch die Macht, auch matriell hatte er die Mittel in seiner Hand. Worin bestanden seine diesbezüglichen Leistungen?

Die schwedische Regierung suchte seinerzeit eine estnische Volks­

schule ins Leben zu rufen. Das hätte freilich nur im (Einvernehmen mit dem allmächtigen Adel geschehen können. Dieser mar aber gegen die Schule. Seiner Meinung nach brauchten die menschlichen Ar­

beitstiere keine Bildung... Die Schule hätte dem Adel Kosten ver­

ursacht und zudem noch Arbeitskräfte dem Gute entzogen... Mit dem Übergange des Landes an Rußland erstarben die in der schwe­

dischen Periode mit großer Mühe aufgenommenen Bestrebungen zu­

gunsten einer estnischen Volksschule vollständig. Mehr als ein Jahr-hundert verstrich, bevor der Adel endlich daran ging, eine Volksschule ins Leben zu rutzn. (Erst in der Mitte des vorigen Jahrhunderts wurden diesbezügliche Maßnahmen ernster in (Erwägung gezogen, nachdem die Fronbauern in blutigen Aufständen die Gutsherren da­

ran erinnerten, daß die Bauernbefreiung von J8J9 nur eine Fiktion geblieben war. Die Bauern waren nämlich der Meinung, daß der Adel ihnen die vom Zaren zugebilligten Rechte und Freiheiten vor­

enthalten habe.

In den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts wurde die söge-nannte „Dorfschule" als obligatorische Schule für die Dorfkinder von

^0—13 Jahren nach und nach eingeführt. Drei Winter lang mußten die Rinder in diese Schule, jeden lvinter etwa ioo Tage. Die Bau­

erngemeinden hatten die Schulen zu unterhalten, für die Rinder waren sie unentgeltlich. Die Gutsherren trugen zur Unterhaltung der Schulen nichts bei, außer wenn der eine oder andere freiwillig etwas hingab, wozu aber niemand verpflichtet war. Trotzdem besuchten auch die Rinder der Gutsarbeiter die Schule unentgeltlich.

Für die Dorfschule galt die Bestimmung, die Bauernkinder „in Gottessurcht und Gehorfamkeit gegenüber der Vbrigkeit" — will sa­

gen gegenüber den Gutsherren — zu erziehen. Die ©berflasse glaubte nämlich, daß es in dieser Hinsicht mit der Bauernschaft nicht am besten bestellt sei. Daher erachtete man es für notwendig, dem Volke die Lefekunst durch die Dorfschule beizubringen, um es dann mit Hilfe einer dazu passenden (Erbauungsliteratur leichter im Zaume zu hal­

ten. Neben einer derartigen (Erziehung der Iugend hatten die „Dorf*

fchulmeister" noch die Pflicht, auf die (Erwachsenen durch religiöse (Erbauungsstunden an Samstag- und Sonntagabenden im gleichen Sinne einzuwirken... Freilich nahm nachher die (Entwicklung ihren eigenen Gang, die pläne des reaktionären Adels über den Haufen werfend.

Der Adel und die ebenso reaktionär gesinnte Geistlichkeit, die die eigentliche Leitung und Aussicht der Schule in ihre Hand bekam, konnten die Schularbeit nicht selber leisten, sie benötigten dazu der

„Schulmeister", und zu diesem Zweck konnten sie doch nur die Söhne desselben Volkes heranziehen. In den Seminarien gab man sich allerdings die redlichste Mühe, die Lehrer zu passenden Werkzeugen der Reaktion zu machen. Aber mit der fortschreitenden Zeit glückte das immer weniger und weniger. Schon in der 70er und 80er Iah­

ren waren die Volksschullehrer als diejenigen verschrien, die das Volk verführen, es mit — naturwissenschaftlichen, ja auch mit sozia­

listischen —, auf alle Fälle aber mit verderblichen Lehren vergiften.

Nun war aber nicht mehr daran zu denken, diefe gefährliche Anstalt der Volksvergiftung zu schließen. Die Bevölkerung hatte an der Schule Geschmack gesunden, sie verlangte höhere Schulen und schickte feine Rinder bereits sogar in die Stadtschulen — bis auf die Uni­

versität ... Ie weiter es ging, je mehr Lehrer gab es, die ihre Pflicht gegenüber der Iugend des eigenen Volkes ernst nahmen und den

wißbegierigen Rindern entschieden mehr beibrachten, als es den Herren lieb war. So elend die Dorfschule auch war, immerhin ward mit ihr ein Spalt des Lichts geöffnet, der sich naturnotwendig ver-größerte.

Der Standpunkt der Oberklaffen in Bezug auf die Volksbildung wird fehr trefflich durch eine Anekdote gekennzeichnet, die man dem Baron pilar von pilchau nachsagt. Dieser Herr hat es sür notwendig gesunden, einen jungen, eifrigen Lehrer dahin zu be-lehren, er solle den Rindern wohl Unterricht geben, aber sie klug zu machen solle er unterlassen. „Nicht zu viel rechnen! Das Einmal-eins macht das Volk frech!" — Barort pilar ist nicht etwa ein xbe-liebiger Gutsherr, er ist livländifcher Landmarfchall, Rammerherr des Zaren, Mitglied des Reichsrates und zur Zeit ist der Herr ein eifriger Betreiber des baltischen Herzogtums unter der preußischen Rönigskrone. * Die Meinung eines solchen Herrn ist schwerwiegend.

Aber der junge Dorffchullehrer von Andern und ferne braven Rdl-legett im ganzen Land Hattert einen mächtigeren Herrn als Baron pilar es war: dieser Herr mar der Geist der Zeit, die Macht Der menschlichen Entwicklung. Der Drang des Wissens spannte Den Leh­

rer wie auch die Rinder an. Und so mürbe in der kurzen Schulzeit mehr gelehrt und mehr gelernt, hauptsächlich aber sür die spätere Selbstbildung ein gewisser Grund gelegt, der weiter ging als die Feudalen es geplant hatten.

War nun die Volksschule so elend gedacht, sie brachte den Dorf*

kindern doch das Lesen, die (Elemente des Schreibens und Rechnens bei. Man sollte nun denken, daß die maßgebenden Mächte im Lande diese unentbehrlichen Fähigkeiten auch sür die städtische Jugend als unentbehrlich erkannt und auch in den Städten eine obligatorische Volksschule geschaffen hätten. Das ist nun nicht geschehen, und bis zum heutigen Tage nicht. Aber nicht nur das.

In den Städten fehlt nicht nur jegliches Schulobligatorium, es fehlt da auch an Rlafsenraum. Die deutschen Patrizier in den balti-schert Städten, die die Städte seit Jahrhunderten beherrscht und bis in die allerletzte Zeit hinein vermaltet haben, haben es hier nicht so-weit gebracht, daß die schulaltrigen Rinder in den Rlassen Raum fänden! Jeden Herbst sind hunderte von Rindern zurückgewiesen worden, weil man sür sie keinen Rlafsenraum hatte...

* Vor dem Zusammenbruch Deutschlands geschrieben!

Die städtischen niederen Schulen heißen Elementarschulen. Sie haben entweder drei oder vier Iahresklaffen. Sie sind nur gegen Schulgeld zugänglich. (Ebenso müssen die oft armen Litern auch die Schulbücher und Utensilien kausen, die Stadtverwaltungen leisten so gut wie keine Hilfe. Unter diesen schwierigen Verhältnissen ist es ohrte weiteres klar, daß nur verhältnismäßig wenige Rinder auch die letzten Klaffen besuchen. (Eirt sehr großer Teil verläßt die Schule bereits nach dem ersten Jahr, viele nach dem zweiten. (Es versteht sich, daß unter solchen Verhältnissen das Bedürfnis nach Klafferträum nicht übermäßig groß ist. Man stelle sich vor, um wie viel größer die Forderung nach Klassenraum bei einer obligatorischen Volksschule mit einem achtjährigen Kursus sein würde. Und doch sind die Stadt­

verwaltungen unfähig gewesen, auch diesen sehr geringen Bedürfnis-fen, die tatsächlich vorliegen, nachzukommen! Nichts destoweniger

brüsten sich diese Herren als Kulturträger und beteuern in hochtra­

benden phrafen, sie hätten eine Kulturmission von unermeßlicher Bedeutung vollbracht!

Jeder aufrichtig urteilende Mensch mutz angesichts solch unhalt­

barer Zustände sagen, daß die Kommunalverwaltungen nicht auf der Höhe der Zeitforderungen standen. (Es liegen sogar Beweise vor, daß die staatlichen Schulbehörden und die Lehrerschaft, die Not des Volkes erkennend, von den deutsch-xatrizischen Stadtverwaltungen die (Eröffnung neuer Volksschulen forderten, ohne daß die Stadtver­

waltungen dem nachgekommen wären. N?er die Verhältnisse kennt, wird zugeben, daß die (Esten, sobald sie die Verwaltung der Städte an sich bekamen, diese unhaltbaren Zustände zu bessern begannen.

So z. B. hat die estnische Stadtverwaltung von Reval in der kurzen Zeit von etwa io Jahren (von *904—19M, die Jahre der ersten Re-volution, sowie auch die Kriegsjahre waren der Sache sehr hinder-lieh) mehrere neue Schulhäuser aufgeführt und neue Schulen eröffnet.

Aber es war ihr unmöglich, in dieser kurzen Zeit das von Generatio-nert versäumte nachzuholen, lväre der alles zerstörende Krieg nicht ausgebrochen, die Zustände in Reval wären schon ein gutes Stück vor-wärts. Immerhin fand die sozialistische Stadtverwaltung im Herbst 19(7 die Verhältnisse bereits soweit entwickelt, daß zu Beginn die-ses Schuljahres allen schulaltrigen Kindern Klassenraum beschafft werden konnte. Natürlich hat die sozialistische Stadtverwaltung auch das Schulgeld in der Volksschule sofort aufgehoben und verschiedene andere Hilfsmaßnahmen materieller Natur getroffen, um auch den

Rindern ganz unbemittelter (Litern den Schulbesuch zu ermöglichen.

Überhaupt hat die sozialistische, in ihrer Mehrheit bolschewistische Stadtverwaltung von Reval die Schule dieser Stadt aus eine Stufe gehoben, auf der sie früher nie gestanden hatte. (Die bürgerlich-estni­

sche Stadtverwaltung hatte das Schulgeld ärmeren (Eltern auch schon früher durchweg erlassen.)

lväre der Wille dagewesen, so hätten auch die deutschen Stadt-Verwaltungen das sowohl in Reval, wie auch in den übrigen Städten zuwege bringen können und zwar in ruhigen Zeiten viel besser und sicherer als unter den Rriegswirren und unter den (Erschütterungen der Revolution. Dieses geschah aber nicht. Das beweist, daß der richtige Rulturwille bei der deutschen Gberklasse nicht vorhanden ist.

Aber das nicht nur inbezug auf die Volksschule.

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