• Keine Ergebnisse gefunden

Die Regierungszeit von Abdulhamid II

1. Historischer Kontext: Beziehungen des Osmanischen Reiches und der

1.2. Die Regierungszeit von Abdulhamid II

chenschulen zielte der Unterricht auf die Erziehung der Mädchen zu künftigen

»tüchtigen Hausfrauen« ab. Im Jahre 1869 wurden die ersten berufsbildenden Schulen für Mädchen eröffnet.119In diesen Schulen wurden Nähen, Kleinkin-derpflege, Malen und Musik unterrichtet. 1870 wurde eineDarülmuallimat, eine Schule für die Lehrerinnenausbildung, in Istanbul eröffnet. Aber die Mö glich-keit, diese Reformen landesweit umzusetzen, war aufgrund leerer Staatskassen sehr beschränkt. Zumeist blieben Mädchenschulen als Pilotprojekte auf einige Regionen und Großstädte beschränkt. DieDarülmuallimatkonnte zudem den Mangel an weiblichen Lehrkräften im ganzen Land nicht beheben. Im Jahre 1869 wurden muslimische Mädchen zu christlichen Missionsschulen zugelassen, was vorher verboten gewesen war. DasMaarif Nezareti(Bildungsministerium) un-terstützte die Ausbildung muslimischer Mädchen imAmerican College for Girls in Arnavutköy mit Stipendien.120

Parallel zu den Bemühungen des osmanischen Staats zugunsten der Bildung der Frauen begann die osmanische Bildungsschicht, sich mit der Stellung der Frau in der Gesellschaft zu befassen, wobei muslimischen Frauen die Teilnahme an diesen Debatten verwehrt blieb.121Die intellektuelle Auseinandersetzung mit der Frauenfrage war im Kontext der zunehmenden kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Interaktion des Osmanischen Reiches mit europäischen Lä n-dern entstanden. Eine sich verdichtende Kommunikation mit und der Aufent-halt in europäischen Ländern (vor allem Frankreich) veranlasste die Bildungs-schicht dazu, in der Verbesserung der Stellung der Frauen die Lösung für die politische und wirtschaftliche Rückständigkeit des Reiches gegenüber Europa zu sehen und Bildung für Mädchen und Frauen zu fordern, wobei diese den traditionellen Rollen der Ehefrau und Mutter zu entsprechen hatte.

Jahre in Kraft gesetzte Verfassung war der erste Schritt des Osmanischen Reiches hin zu einer Demokratisierung und Verwestlichung. Für diese Revolution ent-thronten Mithat Pas¸a und die unter seiner Führung versammelten Politiker den Sultan Abdulaziz (reg. 1861–1876) und brachten Abdulhamid II. auf den Thron, den sie zur Einführung des neuen Systems zwangen.123Abdulhamid II. löste zwei Jahre nach seiner Thronbesteigung das Parlament auf und schickte Mithat Pas¸a ins Exil. Er brachte die Autorität des Staates in die Hände einer kleinen Gruppe und verwaltete den Staat vom Palast aus. Bis zu seiner Entthronung im Jahre 1909 regierte er mit einer repressiven Politik gegenüber oppositionellen Bewe-gungen, gleichzeitig realisierte er verschiedene modernisierende Reformen, auf welchen die spätere jungtürkische Regierung und die Republik Türkei aufbau-ten.124

Abdulhamid II. verfolgte eine panislamistische Politik, um Muslime im Reich unter dem Islam zu vereinen und dadurch weitere Unabhängigkeitsbewegungen, die nun auch muslimische Bevölkerungsgruppen erfassten, zu verhindern.125So bemühte er sich, das Kalifat zu einer universalen islamischen Institution um-zuwandeln, mit der sich alle Muslime in der Welt identifizieren sollten. Er selbst wurde in verschiedenen islamischen Ländern in Asien als der Führer der mus-limischen Welt bezeichnet und gewürdigt.126In der europäischenÖffentlichkeit wurde seine panislamistische Politik als Aufruf an alle Muslime zum Dschihad gegen den Westen wahrgenommen. GemäßKarpat habe Abdulhamid II. den Dschihad geschickt als Bedrohung benutzt, um die europäischen Großmächte abzuschrecken und zu verhindern, dass sich diese in die inneren Angelegen-heiten einmischten. Damit habe er einen psychologischen Krieg gegen die eu-ropäischen Großmächte geführt, während sie muslimische Gemeinschaften in Nordafrika zu schwächen begannen.127

Unter den europäischen Großmächten hatte Deutschland ein spezielles Ver-hältnis zum Osmanischen Reich. Unter Wilhelm II. (reg. 1888–1918) engagierte sich Deutschland immer mehr wirtschaftlich und politisch im Osmanischen Reich, nämlich vor allem in Kleinasien, das noch nicht zu den Einflusszonen anderer europäischer Großmächte gehörte.128 Deutschland investierte in den Bau der Bagdadbahn in Kleinasien, die durch die Schiffbarmachung der Flüsse Tigris und Euphrat von Bagdad bis zum Persischen Golf als Schifffahrtslinie weitergeführt werden sollte.129Diese wirtschaftliche Unternehmung wurde mit 123 Ebd., S. 47f.

124 Ebd., S. 48.

125 Ebd., S. 50.

126 Ebd., S. 51.

127 Ebd., S. 52.

128 Schöllgen,Imperialismus und Gleichgewicht2000, S. 107.

129 Ebd., S. 124.

der Zeit zu einem politischen Prestigeprojekt und von Großbritannien als Be-drohung seiner strategischen Interessen wahrgenommen. Die wirtschaftliche und militärische Zusammenarbeit Deutschlands mit dem Osmanischen Reich führte dazu, dass andere europäische Mächte Deutschland misstrauten und ihre Interessen bedroht sahen.130 Die Bagdadbahn jedoch erbrachte dem Osmani-schen Reich nicht die erhofften Gewinne.131Neben wirtschaftlichen Investitio-nen unterstützte Deutschland die Ausbildung des türkischen Militärs, indem es deutsche Offiziere als Instrukteure an die Kriegsschule schickte. Diese Militä r-mission war damit verbunden, dass durch die Ausbildung Werbung für deutsche Kriegsmaterialien möglich wurde. Dadurch erhoffte sich Deutschland Vorteile für die eigene Rüstungsindustrie.

Abdulhamid II. brachte Auslandsverschuldungen in ein Gleichgewicht, so dass Rückzahlungen möglich wurden.132 Er übernahm die Wissenschaft und Technik Europas und setzte diese in vielerlei Hinsicht im Reich um. So wurden Eisenbahnverbindungen geschaffen und mehrere Berufsschulen eröffnet. Die Alphabetisierungsrate stieg während seiner Herrschaft von 5 % auf 15–18 %. Die moderne türkische Literatur, die die intellektuelle Modernisierung ermöglichte, entstand während seiner Herrschaftszeit. Zahlreiche deutsche, englische und französische Bücher wurdenübersetzt, die Presse wurde modernisiert und in einem gesetzlichen Rahmen entwickelte sich eine Meinungsfreiheit. Das hieß, dass Zeitungen und Zeitschriftenüber alles berichten und schrieben, außerüber politische Angelegenheiten.133

Unter der Herrschaft von Abdulhamid II. wurden vermehrt Schulen erö ff-net.134Die Regierung wollte der muslimischen Gemeinschaft eine Alternative zu den sich verbreitenden Missionsschulen bieten. Die neuen Bildungsinstitutio-nen basierten auf europäischen Modellen. Diese Schulen brachten Intellektuelle hervor, die sich zu oppositionellen Bewegungen gegen Abdulhamid II. zusam-menschlossen.135Diese Bildungsschicht lehnte die herrschende soziale Ordnung ab und hing einem westlichen Lebensstil und der westlichen Kultur an. Diese

130 Ebd., S. 126.

131 Kreiser,Das letzte osmanische Jahrhundert2003, S. 348.

132 Karpat,Türk Dıs¸ Politikası Tarihi2012, S. 57f.

133 Ebd., S. 58.

134 Alkan, MehmetÖ.Resmi I˙deolojinin Dog˘us¸u ve EvrimiÜzerine Bir Deneme (Eine Annä-herung zur Entstehung der offiziellen Ideologie).In: Murat Belge (Hrsg.).Modern Türki-ye’de Siyasi Düs¸ünce: Cumhuriyet’e Devreden Düs¸ünce Mirası – Tanzimat ve Mes¸rutiyet’in Birikimi (Politische Ideologie in der modernen Türkei: Das ideologische Erbe an die Re-publik – Die Akkulturation von Tanzimat und Konstitution)(Cilt 1). I˙stanbul 2001, S. 377–

407, S. 378.

135 Haniog˘lu, M. S¸ükrü.Batıcılık (Westernism).In:Tanzimat’tan Cumhuriyet’e Türkiye An-siklopedisi (Enzyklopädie zur Türkei von der Tanzimat bis zur Republik)(5). I˙stanbul 1985, S. 1382–1388, S. 1383.

Die Regierungszeit von Abdulhamid II. 47

westlich orientierte Bildungsschicht betrachtete die Verbreitung von Wissen-schaft und Technik als Gründe derÜberlegenheit Europas gegenüber dem Os-manischen Reich und verfocht eine biologistisch-materialistische Denkweise.

Sie wertete die moderne Wissenschaft als Prinzip auf, an dem sich die Politik und das Alltagsleben der Muslime zu orientieren habe.136Auch Anhänger der jungtürkischen Bewegung hingen dieser Denkweise an, die sie in ihrer Ausbil-dung inAskeri Tıbbiye(militärmedizinische Akademie) kennenlernten.

Die Einführung von Bildungsinstitutionen nach westlichem Vorbild ist als Reaktion auf die Aktivitäten desAmerican Board of Commissioners for Foreign Missionzu interpretieren.137DasAmerican Boardbaute im Vergleich zu euro-päischen Missionsorganisationen mit Erfolg ein breites Netzwerk von Missi-onsstationen, Schulen und Spitälern im Osmanischen Reich auf. In seiner Tä -tigkeit trat dasAmerican Boardeher säkular auf. Für diese Missionsorganisation galten Schulen als wichtige Mittel für ihre Mission. Deshalb engagierte sie sich im Bereich der Bildung und lehrte in ihren Schulen in den Umgangssprachen der verschiedenen Gemeinschaften. Die Missionsschulen desAmerican Board tru-gen durch ihre Orientierung an den Umgangssprachen zur Entstehung des na-tionalistischen Bewusstseins, definiert durch die gemeinsame Sprache und Religion, unter den christlichen Gemeinschaften bei und schärften dadurch die Konturen der aufkommenden Nationalismen.138

Um eine intellektuelle Elite, die ihre Mission vertreten würde, zu erziehen, gründete dasAmerican BoardHochschulen wie dasRobert Collegein Istanbul im Jahre 1863 und dasSyrian Protestant Collegein Beirut im Jahre 1866.139Diese beiden Hochschulen wurden zu größeren Universitäten ausgebaut, die im Ge-gensatz zur osmanischen Universität auch wissenschaftliche und technologische Bildung anboten. In Kleinasien etablierte das American Board ein breites Netzwerk von Schulen aller Niveaus (Kindergärten, Primarschulen und Mittel-schulen). Neben mehreren Hochschulen wurden auch Colleges für Mädchen eröffnet wie dasAmerican College for Girlsin Istanbul (1871) und dasCentral Turkey Girls’ College in Maras¸ (1880). Diese auf Bildung konzentrierte Missi-onstätigkeit führte zur Konvertierung von wenigen osmanischen Christen zum Protestantismus. Der wichtigste Einfluss der Mission auf die osmanische

Be-136 Haniog˘lu, M. S¸ükrü.Turkish Nationalism and the Young Turks, 1889–1908.In: Fatma Müge GöÅek (Hrsg.).Social Constructions of Nationalism in the Middle East.Albany 2002, S. 85–

97, S. 13.

137 Dogˇan, Mehmet Ali.From New England into New Lands: The Beginning of a Long History.

In: Mehmet Ali Dogˇan/Heather J. Sharkey (Hrsg.).American Missionaries and the Middle East2011. S. 3–32, S. 16f.

138 Sharkey,Introduction2011, S. xiii.

139 Dog˘an, Mehmet Ali.Missionary Schools.In: G#bor]goston/Bruce Alan Masters (Hrsg.).

Encyclopedia of the Ottoman Empire.New York 2009, S. 385–388, S. 387.

völkerung war die Einführung von Bildungsinstitutionen nach westlichem Vorbild.140 Durch diese Bildungsinstitutionen transformierten die Missiona-rinnen und Missionare die Erziehungskultur durch die Vermittlung neuer Er-ziehungsmethoden und beeinflussten das Alltagsleben, etwa die Bekleidung der Schulmädchen und die Führung des Haushaltes. Sie führten muslimische Re-former in die Debattenüber darwinistische Ideen und evolutionäre Biologie ein und stimulierten Diskussionen unter den Muslimen über Islam und Wissen-schaft.141

Mehrere osmanische Politiker betrachteten die Missionsschulen als Bedro-hung für das Reich und führten Maßnahmen ein, um ihre Aktivitäten zu kon-trollieren und zu beschränken. So warnte Abdulhamid II. die Provinzverwal-tungen vor der Konvertierung der Nicht-Christen zum Protestantismus.142Den Missionarinnen und Missionaren war es verboten, unter osmanischen Muslimen ihren Glauben zu verbreiten. Dieses Misstrauen wurde größer, als mehrere Absolventen des Robert College zu Führern der bulgarischen Unabhä ngig-keitsbewegung wurden.143Die jungtürkische Regierung schloss kurz vor dem Ersten Weltkrieg mehrere Missionsschulen, die sie der Unterstützung der na-tionalistischen Unabhängigkeitsbewegungen in den Balkanländern und den armenischen Gemeinschaften verdächtigte.

Eine für die Frauenbewegungsgeschichte im Osmanischen Reich bezie-hungsweise in der Türkei wichtige Schule war dasAmerican College for Girlsin Istanbul. Diese Schule wurde von Mary Mills Patrick (1850–1940) gegründet.144 Sie kam im Jahre 1875 nach Istanbul und lebte hier 40 Jahre lang. Sie leitete zunächst dieConstantinople Home SchooldesAmerican Board.Später wandelte sie diese Schule in dasAmerican College for Girlsum und trennte die Institution vom American Board.Unter ihrer Leitung wurde das Curriculum der Schule gänzlich säkular, um die Anzahl der Schülerinnen zu erhöhen. Das Curriculum

140 Ebd., S. 388.

141 Sharkey,Introduction2011, S. xx.

142 Kieser, Hans-Lukas.Some Remarks on Alevi Responses to the Missionaries in Eastern Anatolia (19th-20th Centuries).In: Reeva S. Simon/Eleanor Harvey Tejirian (Hrsg.). Al-truism and Imperialism. Western Cultural and Religious Missions in the Middle East.New York 2002, S. 120–142, S. 124.

143 Somel, SelÅuk Aks¸in.The Religious Community Schools and Foreign Missionary Schools.In:

Halil I˙nalcık/Günsel Renda (Hrsg.).Ottoman Civilization.Ankara 2003, S. 386–401, S. 390 und Masters, Bruce.Missionaries.In: G#bor]goston/Bruce Alan Masters (Hrsg.). Ency-clopedia of the Ottoman Empire.New York 2009, S. 384–385, S. 385.

144 Goffman, Carolyn.From Religious to American Proselytism. Mary Mills Patrick and the

»Sanctification of the Intellect«.In: Mehmet Ali Dogˇan/Heather J. Sharkey (Hrsg.). Ame-rican Missionaries and the Middle East.2011, S. 84–121, S. 84. Pearce, S. Katharine.Patrick, Mary Mills.In: Robert Livingston Schuyler/Edward T. James (Hrsg.).Dictionary of Ame-rican Biography(Volume XXII, Supplement Two). New York 1958, S. 516–517, S. 516.

Die Regierungszeit von Abdulhamid II. 49

war zudem emanzipatorisch orientiert und förderte ein feministisches Be-wusstsein der Schülerinnen.